Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Variaciones sobra una granada

Produktionsland: Spanien 1975

Regie: José Val del Omar

Darsteller: Granatäpfel
Wer schon immer mal wissen wollte, wie das ausgesehen hätte, hätte Dario Argento Mitte der 70er auf dem Höhepunkt seines Schaffens die für ihn typischen knallbunten Farborgien darauf verwendet, die Nationalfrucht Spaniens, den Granatapfel, aus allen erdenklichen Perspektiven und unter Verwendung aller erdenklicher Filmtricks wie stop motion oder Zeitraffer in Szene zu setzen, der ist mit VARIACIONES SOBRE UNA GRANADA des spanischen Experimentalfilmemachers José Val del Omar mehr als gut beraten. So dicht wird die Frucht herangezoomt, dass sie Details ihrer Haut, ihrer Körnung enthüllt, die nur die Kamera uns nahebringen kann, so verspielt tanzen die mehrheitlich rot- und violettgesättigten Lichter und projizierten Menschengesichter auf ihr, so oft spalten sich die Bilder, gruppieren sich zu Ornamenten, überlagern einander, werden zu flirrenden Kaliedoskopen, dass selbst solche Meister der Sinnesüberflutung wie Noe oder Brakhage nicht weit entfernt von diesem zugleich kontemplativen und strapaziösen Juwel entfernt sind. Drei Minuten, komplett ohne Ton, und der Granatapfel schmeckt für immer anders...
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Zumindest eine Minute (von den dreien) kann man bitteschön bei vimeo mit offenem Munde betrachten:

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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Meat

Produktionsland: USA 1976

Regie: Frederick Wiseman

Darsteller: Rinder & Schafe
Frederick Wiseman, Jahrgang 1930, entscheidet sich nach einem Jurastudium, anschließender Rechtsanwaltstätigkeit in Paris sowie einer Berufung zum Professor für Recht und Medizin an die Universität von Boston Ende der 60er dafür, Dokumentarfilmer zu werden, und legt gleich mit seinem Debut TITICUT FOLLIES 1967 eines der kraftvollsten und kontroversesten Werke seiner Zeit vor. Gedreht in einer Anstalt für als unzurechnungsfähig erklärte Straftäter entwickelt sich der Film über Jahrzehnte hinweg nicht nur selbst zum Objekt mehrerer Zensurprozesse – der Allgemeinheit wird TITCUT FOLLIES erst Anfang der 90er zugänglich gemacht! -, sondern gibt außerdem den thematischen und stilistischen Weg vor, den Wiseman mit seinen Dokumentarfilmen auch in den folgenden Dekaden konsequent weitergehen wird. Was Wiseman interessiert, das sind Institutionen, mittels derer Gesellschaften sich selbst propagieren und persiflieren – sei es nun auf eine offen aggressive oder eine abfedernde, verstecktere Art und Weise. Quasi allen seinen Filmen wie HIGH SCHOOL (1968), HOSPITAL (1970) oder SINAI FIELD MISSION (1978) kann man allein an ihren Titeln wie an besonders transparenten Nasenspitzen ablesen, was wohl die Basis bieten wird für Wisemans nüchterne Studien über die Ausübung von Macht innerhalb des (US-amerikanischen) Spätkapitalismus. Dabei kommt Wiseman völlig ohne Kommentare, ohne Effekte, ohne Elemente der Inszenierung oder Dramatisierung aus. Er lässt die Welt sprechen, und fängt im Grunde – wie die Akteure des Direct Cinema, dem er oft und gerne zugerechnet wird – nur ein, was sie an Halbsätzen, gestammelten Wörtern oder auswendiggelernten Erklärungen von sich gibt.

Dass MEAT sich mit der industriellen Fleischindustrie beschäftigt, dürfte nach dieser Vorrede (und bei dem Titel) kaum noch verwundern. Wisemans Kamera begleitet in dem knapp zweistündigen, herb schwarzweißen Film sowohl eine Gruppe Rinder als auch eine Gruppe Schafe – (für die es im Englischen den irgendwie faszinierenden Begriff „livestock“ gibt) – von der Farm, in der sie aufgewachsen sind, übers Schlachthäuser bis zu den Supermärkten, wo sie bzw. Teile von ihnen in Plastik eingeschweißt die Regale bereichern. MEAT ist dabei zyklisch aufgebaut: Zweimal verfolgt Wiseman den gleichen Prozess. Erst mit dem Hornvieh, dann mit den Wollträgern. Auch um zu zeigen, wie monoton und institutionalisiert die Fleischgewinnung abläuft. Es ist immer dasselbe: Blökend wird die Herde in Transporter getrieben. Ihr Blöken endet spätestens in Konfrontation mit den Bolzenschussgeräten. Die Schlachtung verläuft ohne Emotionen. Zumal die Schlachter reichhaltige Unterstützung durch herzlose Maschine erhalten. Vieles wird ausgewertet, manches als Abfall ausgesondert. Am Ende sitzen Verantwortliche des jeweiligen Konzerns, der mit den Rindern und Schafen als ökonomischen Faktoren jongliert, in einem sterilen Büro, und diskutieren über die Optimierung ihrer Vermarktungsstrategien. Musik hört man keine. Ein potentieller Kommentator hüllt sich in Schweigen. Wir sind allein mit der Wirklichkeit wie sie sich Wisemans Linse darbietet.

Stellt man MEAT dem wohl bekanntesten (und heftigsten) Schlachthausfilm der Kinogeschichte gegenüber – Georges Franjus LE SANG DES BÊTES von 1948 – kann man vielleicht am besten ermessen, worin nun gerade die Qualitäten von Wisemans reduzierter Herangehensweise an Phänomene der Industriegesellschaft liegen. Auch Franju verzerrt den Alltag, den er in einem Pariser Schlachthaus vorfindet, im eigentlichen Sinne nicht, doch sucht er mit einem surrealistischen Gestus bewusst nach Bildern, die nicht bloß allein aufgrund ihres bloßen Inhalts entsetzen, verunsichern, verblüffen, sondern weil in ihnen Dinge aufeinandertreffen, von denen es der menschlichen Logik schwerfällt, sie überhaupt zusammenzudenken. Dass einer schwangeren Kuh während der Schlachtung ein Embryo ausgerissen wird. Dass eine Gruppe Kälber geköpft auf ihren (Toten-)Bahren vor sich hin zucken bis das Leben in Form der allerletzten Konvulsion endlich aus ihnen verschwunden ist. Vor allem aber, dass gleich außerhalb der Schlachthausmauern das Pariser Leben pulsiert und Liebespärchen dicht an der Brücke vorbeiflanieren, über die Tag für Tag so und so viele Rinder, Schafe, Schweine in ihre persönliche Hölle getrieben werden. Das alles sind für Franju interessante Beobachtungen, denen sein literarischer, manchmal beinahe zynischer Kommentar noch eine zusätzliche Irritationsebene einschreibt. LE SANG DES BÊTES ist vergleichbar mit den großartigen Photos, die Eli Lotar 1928 in einem Schlachthaus bei La Vilette geschossen hat: Seine berühmte Reihe von Kälberfüssen, die ihre Schlächter fein säuberlich an einer der Mauern des Schlachthausgebäudes aufgereiht haben, mag der Photograph tatsächlich so vorgefunden haben, doch greift er freilich in die Selbst-Inszenierung der Realität dennoch durch die Wahl einer bestimmten Kamera-Perspektive, einer bestimmten Schwarzweiß-Körnung und überhaupt seiner Entscheidung für ein solch subversives Sujet ein.

Auch in MEAT lässt sich eine Handvoll solcher (surrealer) Schock-Bilder finden, nur wirken sie nicht, als habe Wiseman nach ihnen gesucht, sondern, als seien sie von selbst auf ihn zugekommen, und hätten sich ostentativ seiner Kamera präsentiert. Zudem wirken sie allesamt nur halb so entsetzlich wie das, was Franju, immerhin drei Jahrzehnte zuvor, noch in einem weitaus wenig industrialisierten Schlachthauskontext an direkten Interventionen von menschlichen Händen in tierische Körper hatte auf Zelluloid bannen können. Dominierend in MEAT ist ein Schrecken ganz anderer Art: Der Prozess des Schlachtens ist inzwischen selbst einer Schlachtung zum Opfer gefallen, sprich: in tayloristischem Sinne sind am Verwerten einer Schafsherde so viele Menschen involviert, so viele Arbeitsschritte zwischen Ausgangs- und Endprodukt geschaltet, so viele Maschinen für die schmutzigeren Aspekte des Vorgangs entwickelt worden, dass niemand der Beteiligten besagten Prozess in seiner Gänze über-blicken kann (und soll). Genauso wenig wie ich als Supermarktkunde, der sich ein Filetstück aus der Tiefkühltruhe holt, irgendetwas darüber weiß (und wissen will), wie dieses Filetstück nun eigentlich dorthin gekommen ist und wie das Schäfchen ausgeschaut hat, dem es einmal ein Teil seines Körpers gebildet hat, genauso wenig kann der Arbeiter im Schlachthaus, der einzig zuständig ist, die am Fließband an ihm vorbeirauschenden gehäuteten und ausgeweideten Körper in zwei Hälften zu zerteilen, ermessen, wo dieses Schaf den Großteil seines Lebens verbracht oder wie viele Kinder es geboren hat, und genauso wenig wird demjenigen, der die Herde anfangs in den sie abtransportienden LKW scheucht, jemals die Information zuteil, ob denn das Schaf, das ihm immer auffiel, weil es einen markanten schwarzen Fleck unterhalb des linken Auges hatte, wirklich auf einem Festtagsteller einer amerikanischen Vorzeigefamilie oder, weil sein Fleisch niemand rechtzeitig kauft, in der Mülltonne für abgelaufene Lebensmittel landen wird.

Aber, wie gesagt, Wiseman prangert nicht an, er erhebt keinen moralischen Zeigefinger, er redet nicht auf mich ein, was ein besseres Leben wäre, für mich, für die Schafe, für uns alle. Alles, was er tut, ist, die Kamera laufen zu lassen, zu beobachten, mit einer sich nicht ablenken lassenden Präzision. MEAT ergibt dadurch eine Fläche frei für Interpretationen, für autobiographische Erinnerungen, für Affirmationen und für Subversionen, je nach dem Standpunkt des Betrachters – und wenigstens für mich, der einen Teil seiner Kindheit in einem kleinen Dorf verbracht hat, wo jeder noch das Tier gekannt hat, das dann irgendwann in seinem Magen gelandet ist, und der seit fünfzehn Jahren keinen Bissen Fleisch mehr auch nur mit der Zungenspitze angetippt hat, und der noch immer in jedem Großraumsupermarkt völlig überfordert ist von der Synthese aus Überangebot, psychologischen Tricks und entwaffnendem muzak, ist MEAT, meine ich, gerade wegen des Fehlens einer militaristischen Agenda ein wesentlich wirksamerer Film als ein beliebiges bewusst zum Schock reizendes PETA-Video.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: El hombre y el monstruo

Produktionsland: Mexiko 1959

Regie: Rafael Baledón

Darsteller: Enrique Rambal, Abel Salazar, Martha Roth, Ofelia Guilmáin, José Chávez
Allmählich wird der anfängliche Verdacht zur Gewissheit: Mexiko hat in den 50ern und 60ern einen Stoß an Filmen goti-schen Horrors hervorgebracht, der sich nicht nur quantitativ, sondern vor allem auch qualitativ mit zeitgenössischen Produktionen der Vereinigten Staaten und Großbritanniens messen kann. Es sind die etwas unbekannteren, abseitigeren Genrefilme, die mich zu dieser Erkenntnis gelangen lassen, jene oftmals kostengünstig heruntergekurbelten Trivialwerke, die im Schatten der ungleich bekannteren Meilensteine des Mexikanischen Horrorfilms wie Chano Uruetas EL ESPEJO DE LA BRUJA (1962), Rafael Baledóns LA MALDICIÓN DE LA LLORONA (1963) oder Fernando Méndez‘ EL VAMPIRO (1957) stehen, dieses stiefmütterliche Dasein jedoch keineswegs verdient haben. Ein solcher Film ist auch unser heutiges coprus delicti, etwas einfallslos betitelt als EL HOMBRE Y EL MONSTRUO, und inszeniert von Genre-Routinier Baledón, der uns neben dem bereits erwähnten Llorona-Film – (ein Werk, das, nebenbei bemerkt, auf mich eher wie ein Remake von EL VAMPIRO wirkt, als dass er sich tatsächlich ernsthaft mit dem zugrundeliegenden Mythos um das weinende Weib Mexikos, eine Art verlorene Seele mit Zügen der im europäischen Kulturkreis vertrauteren Banshee, auseinandersetzen würde, der wiederum den Stoff zum ersten mexikanischen Horrorfilm überhaupt, dem wunderschönen LA LLORONA von Ramón Péon aus dem Jahre 1933, bereitstellte, und 1960 einen leicht trashigen Neuaufguss durch René Cardona senior erfahren hat) -, mit dem nicht minder unterhaltsamen Wachsfigurenkabinett-Grusler MUSEO DEL HORROR (1964) und einem weiblichen Werwolf in LA LOBA (1965) beschenkte. Produzent wiederum ist Abel Salazar, dessen Gesicht jedem, der sich nur oberflächlich aufs Feld der Mexploitation gewagt hat, bekannt sein dürfte wie ein bunter Hund. Salazar hat nicht etwa als graue Eminenz im Hintergrund bereits seit den frühen 50ern dem mexikanischen Horrorfilm auf die Beine verholfen – auf seine Produzentenkosten geht nicht nur VAMPIRO, sondern beispielweise auch der erste mexikanische Mad Scientist in Chano Uruetas EL MONSTRUO RESUCITADO (1953) sowie der bereits erwähnte Hexenspiegel sowie der nun schon mehrmals erwähnte Fluch des wimmernden Weibs -, sondern es sich zudem nicht nehmen lassen, selbst als Schauspieler in ihnen in Erscheinung zu treten. Salazar verkörpert in diesen Filmen stets Heldenfiguren, die nicht wirklich Tölpel sind, aber auch meilenweit entfernt vom typischen Macho, sozusagen eine Kreuzung aus Spurenelementen von John Wayne und Buster Keaton, wobei er ersterem, wenn es drauf ankommt, an herzhaftem Tatendrang genauso wenig nachsteht wie letzterem darin, in manchen Situationen einen doch irgendwie leicht kauzigen, unbeholfenen Eindruck zu erwecken.

In EL HOMBRE Y EL MONSTRUO stößt Salazar, der hier Ricardo Suoto heißt, zu Beginn mit einer psychisch wie physisch derangierten Dame zusammen, die ihm mitten in der Nacht vor den Kühlergrill läuft. Wie wir zuvor gesehen haben, ist ihr der Wagen liegengeblieben, und eine ferne Klaviermelodie hat sie zu einem herrschaftlichen Anwesen in die Nähe gelockt, in dem sie aber, was der Film uns wiederum nicht bebildert, etwas dermaßen Schreckliches gesehen haben muss, dass sie darauf nur mit schrillem Schreien und wilder Flucht antworten konnte. Als Salazar sie aufgabelt, stürzt die Schwerverwundete gleich in Ohnmacht, und er selbst eilt zu besagter Villa, um deren Bewohner um einen Notruf zu bitten. Von der Idee ist die greise Frau, die ihm öffnet, aber überhaupt nicht angetan, und verweigert ihm schlicht den Eintritt, worauf er, zur Verletzten zurückgekehrt, nur noch deren Tod feststellen kann. Wegen unterlassener Hilfeleistung wird die Greisin, bei der es sich um die Mutter des Villenbesitzers, dem gefeierten Komponisten Samuel Magno, handelt, nicht belangt werden, ebenso wie die Ereignisse des Prologs in der folgenden Geschichte kaum noch einmal Erwähnung finden. Stattdessen ist Salazar, der auch am Drehbuch mitgedrechselt hat, dieser Kern-Plot eingefallen: Nicht der Zufall hat Suoto in die entlegene Gegend verschlagen, sondern Magno höchstselbst, den der Journalist für ein Interview aufsuchen möchte. Der Anlass hierfür ist Laura, eine junge Frau, die der Meisterpianist unter seine Fittiche genommen hat und mit ihr nun, nach langer Zurückgezogenheit, die Rückkehr auf die Konzertbühnen plant. Das Treffen gibt Suoto allerdings mehr Rätsel als Antworten: Nicht nur, dass Magnos Mutter ihn erneut mit kühlem Hass behandelt, und ihn regelrecht aus dem Haus wirft, auch Magno scheint ihn mit der Behauptung, er könne gar keine Klaviertasten mehr bedienen, da seine Hände von schwerer Krankheit betroffen seien, offensichtlich belogen zu haben, denn in der nahen Ortschaft, wo der Reporter sich ein Zimmer genommen hat, munkelt man davon, dass in später Nacht ständig Musik von dem Herrenhaus her zu hören sei. Von ihren Ohren wurden die abergläubischen Dorfbewohner ebenso wenig getäuscht wie von ihren Herzen, die Teuflisches in diesen mitternächtlichen Schauerkonzerten vermuten. Einst nämlich stand Magno unter der Fuchtel seiner Liebsten (und Konkurrentin) Alejandra, die kurz davor war, ihn als Starpianistin zu überbieten. Magnos Ausweg, zu dem ihn nicht zuletzt mit diabolischer Vehemenz die eigene Mutter gedrängt hat, ist es gewesen, einen Pakt mit dem Leibhaftigen zu schließen: Falls er Alejandra tötet, wird der Satanas seinen Händen eine übernatürliche Kunstfertigkeit im Umgang mit Tasteninstrumenten verleihen. Magno begeht den Mord – und begreift danach erst, dass jeder Deal mit der Hölle sein Kleingedrucktes hat. In seinem Fall lautet es: Sobald Magno an einem Flügel Platz nimmt, und ihm die Federn streicht, verwandelt er sich in eine blutrünstige Bestie, die statt schöner Künste mit Vorliebe schöne Frauen zerhackstückt. Zum Glück aber ist Suoto in der Stadt, der nicht nur bald ein verliebtes Auge auf Laura wirft, sondern, einmal mit dem wütenden Magno-Monster konfrontiert, dem Teufelsspuk den Kampf ansagt…

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Es ist ein wahrer Genuss, was Salazar und sein Mitschreiber Raúl Zenteno hier an Motiven, Themen und Figuren aus der nahezu gesamten (europäischen) Schauerliteratur zusammengerührt haben. Erinnert die Exposition mit dem Zusammenstoß zwischen der verletzten Frau und dem ganz zufällig ihr mit seiner Kühlerhaube in den Weg geratenen Suoto entfernt an etwas, aus dem sich auch ein veritabler Giallo-Thriller hätte entwickeln können – vor allem Mario Bavas LA RAGAZZA CHE SAPEVA TROPPO irrt mir da als Referenz im Hinterkopf herum -, entfesselt der Film daraufhin die volle Ladung vertrauter Horror-Topoi. Durch den musikalischen Hintergrund und eine lange Konzert-Sequenz im Finale sowie das Blutopfer, das Magno an seiner Klavierschülerin Laura vollziehen will, erinnert der Plot nicht nur entfernt an Gaston Leroux‘ FANTÔME DE L’OPÉRA, und die allgegenwärtige Präsenz der Mutter, die Magno, trotz fortgeschrittenen Alters, noch immer ihrem Kontrollwahn unterzieht, an einen beliebigen Hitchcock-Thriller – (was auch von dem Umstand begünstigt wird, dass Magno, wie Norman Bates nach ihm, einen geliebten Menschen als Leichnam in der eigenen Stube beherbergt, nur eben nicht die Mama, dafür seine ehemalige Geliebte Alejandra, die in einem eigentlich überflüssigen Subplot spinnwebverhangen in einer Abstellkammer vor sich hin modert) -, in der Figur des Samuel Magno sind gleich, wie ich finde, große Gruselstoffe der Weltliteratur bzw. Filmgeschichte miteinander verschmolzen. Sein vom Film in Form einer überlangen Rückblende detailliert ausgeführter Pakt mit dem Teufel ist natürlich eindeutig faustisch, während die darauffolgende, vom Titel explizit herausgestrichene Spaltung in einen menschlichen und einen unmenschlichen Teil von Psyche und Physis auf die schieflaufenden Selbstexperimente verweist, die ein gewisser Dr. Jekyll an sich vollzogen hat, um danach als Mr. Hyde zum Kinderschreck zu werden. An dessen kinematographische Repräsentation hat sich die Maskerade des Ungeheuers, zu dem Magno beim Klavierspiel wird, dann auch in einem markanten Detail orientiert, nämlich in der extrovertierten Kauleiste, die Magno mit Frederic Marsh in Rouben Mamoulians Adaption des Stevenson-Romans von 1931 teilt. Ansonsten schaut das Biest aus wie eine knuffigere Variante von Lon Chaney juniors WOLF MAN, allerdings zusätzlich ausgestattet mit den buschigen Augenbrauen Graf Orloks, einer Knollennase – und dem erwähnten schrecklichen Überbiss. Furcht verbreitet ein solches Untier freilich eher weniger, reicht aber auch nicht aus, den Film vollkommen dem reinsten Trash feilzubieten. Viel zu professionell ist die Inszenierung, viel zu sympathisch sind die Darsteller, viel zu atemberaubend die expressive Schwarz-Weiß-Photographie, viel zu straff führt das Drehbuch uns von Ereignis zu Ereignis, ohne dass es jemals langweilig oder glaubwürdig werden würde.

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Manchmal schafft es EL HOMBRE Y EL MONSTRUO nämlich, sich sogar weit über seine steifen Studiokulissen zu erheben, und wirkliche Kino-Poesie zu generieren. Im Folgenden möchte ich deshalb noch kurz meine zwei liebsten Szenen dieses schwer unterhaltsamen Spektakels vorstellen, die beide an, könnte man sagen, entgegengesetzten Polen des Horror-Spektrums verankert sind. Die erste findet nach einer Dreiviertelstunde statt. Suoto hat sich in seinem Hotel eingemietet, jedoch zwischenzeitlich das Zimmer gewechselt. Er residiert nun in Raum 22, und nicht mehr in Raum 15, wie er zuvor Magno mitgeteilt hat. Das ist sein Glück, denn der Pianist hat sich inzwischen in das Wölfchen verwandelt, um ihn, der ihm hinter sein Geheimnis zu kommen droht, des Nachts heimtückisch zu ermorden – und als statt Suoto eine unschuldige junge Frau im Bettchen liegt, muss eben die dranglauben. Parallel dazu steht Suoto noch im Plausch mit seinem Wirt im Hotelfoyer, als plötzlich – und zwar wirklich p l ö t z l i c h ! – eine Tür der kleinen Halle über den Haufen geworfen wird, und Magnos alter ego grunzend und schäumend in die Szenerie stürzt. Salazar zögert nicht, und verwickelt das Ungetüm in einen Faustkampf, der in jedem Santo-Abenteuer sein verdientes Plätzchen finden könnte. Mit wahrem jugendlichem Übermut befriedigt EL HOMBRE Y EL MONSTRUO mit seiner vielleicht noch am ehesten im Koordinatensystem des Trashs verortbaren Szene die feuchten Träume jedes Cineasten, der Kind genug geblieben ist, dass es ihn einfach nur im tiefsten Innern erfreut, wenn er zuschauen darf wie sich Abel Salazar und ein Werwolf mit vorstehendem Oberkiefer und Knollennase miteinander prügeln. Ernster geht es in meiner zweiten Lieblingsszene zu, - erneut mit einem klaren Querverweis zur Tradition des Horrorkinos. Diesmal ist es James Whales FRANKENSTEIN auf den vorliegender Film überdeutlich anspielt, und zwar auf dessen ikonische Szene, in der Monstrum und kleines Mädchen ihre Wege kreuzen, worauf letzteres als Wasserleiche endet. In EL HOMBRE Y EL MONSTRUO sieht die Konstellation wie folgt aus: Mago wird im Konzerthaus von einem kleinen Mädchen fasziniert, das für sein Alter ausgezeichnet den Flügel mit Tschaikowski zu verwöhnen weiß. Menschlich wie nie nimmt er neben der Kleinen Platz, und gibt ihr Tipps, wie sie ihr Spiel noch optimieren könne. Natürlich widersteht er dem Drang nicht, es nicht nur bei einzelnen Fingerzeigen zu belassen. Während das Mädchen neben ihm steht, verlieren sich seine Hände selbst mehr und mehr in der Komposition. Die Kamera tut nun etwas, wofür ich sie liebe: Abwechselnd zeigt sie uns das offene Notenblatt und das Gesicht des Mädchens in Großaufnahme, wo immer ängstlicher werdende Augen dem Lauf der Takte folgen. Als diese Augen weit genug aufgerissen sind, als wollten sie aus den Höhlen stürzen, schiebt sich abrupt das mutierte Gesicht Magnos sabbernd ins Bild, und löst auf Seiten der Kleinen einen Entsetzensschrei aus. Den Lucio-Fulci-Preis für eins der schönsten close-ups auf panisch geweitete Sehorgane hat sich EL HOMBRE Y EL MONSTRUO mit dieser Szene redlich verdient.

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Es mag nicht jeder Moment in EL HOMBRE Y EL MONSTRUO derart originell sein wie die beiden oben beschriebenen, und sicher ist die Fabel über die weiße und schwarze Magie der Musik, über Künstlerobsessionen und die Nachtseiten der Psyche ein triviales Stück Pulp aus den Groschenromannischen der Filmgeschichte, doch obwohl der Film selten einmal in die surrealen Senken von Meisterwerken wie Rafel Lopez Portillos LA MOMIA AZTECA (1957) oder René Cardonas gottgleichem LA HORRIPILANTE BESTIA HUMANA (1969) abdriftet, und sich ebenso selten der stilvollen Eleganz von EL VAMPIRO oder gar der frühsten mexikanischen Schauderfilmen aus den 30ern – ich meine solche Juwelen wie Fernando de Fuentes‘ EL FANTASMA DEL CONVENTO (1934) oder Juan Bustillo Oros DOS MONJES (1934) - befleißigt, lässt mich dieses hübsches Potpourri von vertrauten Versatzstücken aus Kino und Literatur mit einem der putzigsten Wolfsmenschen der mir bekannten Filmgeschichte nur einmal mehr meine These vom Anfang unterstreichen: Der Gotische Film Mexikos ist nun wirklich keiner, der sich vor den angestaubten Universal-Klassikern und dem Technicolor-Blut der Hammer-Studios zu verstecken braucht. Nein, nein, ganz im Gegenteil.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Au hasard Balthazar

Produktionsland: Frankreich 1966

Regie: Robert Bresson

Darsteller: Anne Wiazemsky, Walter Green, François Lafarge

Kürzlich halte ich für einen halben Tag, eine ganze Nacht in einer mitteldeutschen Großstadt auf. Obwohl ich natürlich weiß, dass sie dort geboren wurde, dort aufgewachsen ist, ihre Eltern noch dort leben, hätte ich nicht gedacht, dass die Erinnerungen an jene Frau, mit der ich vor vielen Jahren viele Jahre zusammen gewesen bin, mich, als ich nachts durch die allmählich menschenleer werdende Altstadt spaziere, derart überfallen. Auf dieser Brücke da haben wir uns zerknutscht. In dem Drogeriemarkt hier vorne hat sie damals analoge Photographien abgeholt. In jener Straßenbahnlinie sind wir schwarzgefahren, und nur in letzter Not den Kontrolleuern entkommen. Plötzlich summt die ganze Stadt, wie ein Bienenstock oder ein Generator, und ist voller Fragmente, die nur deshalb Teil einer Geschichte sind, weil ich bereits ihr Ende kenne.

Am nächsten Tag, in einem Gasthof, der einige Kilometer entfernt und gegenüber einer Burg liegt, die ihren festen Platz in der deutschen Geschichte hat, stolpere ich über Robert Bressons AU HASARD BALTHAZAR auf meiner portablen Festplatte. Der Film ist ebenfalls eine schöne Erinnerung. Zum ersten Mal gesehen habe ich ihn vor weit über zehn Jahren in einer deutschen Synchronfassung im Spätprogramm von Arte oder 3sat. Ich muss beeindruckt gewesen sein, denn aus dem Kopf gegangen ist der Film mir seitdem nicht wieder. Trotzdem habe ich ihn bislang nicht wieder besucht, ähnlich wie diese Stadt, deren Summen ich immer noch höre, trotz der dreißig Kilometer oder mehr zwischen ihr und mir.

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Jean-Luc Godard schreibt seinerzeit, AU HASARD BALTHAZAR, das sei die gesamte Welt in neunzig Minuten - ein ganzes Leben: von der Geburt bis zum Tod.

Das kleine Eselchen, das ihnen während der Sommerferien Spielkamerad und Kuscheltier ist, taufen Marie und Jacques auf den Namen Balthazar. Die Ferien enden. Jacques fährt mit seiner Familie zurück in die Stadt. Marie bleibt bei ihrem Vater, einem Schullehrer, auf dem Land. Für Balthazar beginnt ein entbehrungsreiche Leben als Last- und Nutztier. Eines Tages aber gelingt ihm die Flucht von seinen ihn misshandelnden Brotherren. Er erinnert sich an das Haus, in dem er so etwas wie Glück erlebt hat. Marie, inzwischen zu einer jungen Frau herangewachsen, fällt ihrem geliebten Esel um den Hals. Sie heiratet ihn, in einer weiteren mitternächtlichen Zeremonie, seine langen Ohren geschmückt mit Blumen, ihre Lippen in seinem vertrauten Fell vergraben. Gerard, dem Tunichtgut und Draufgänger des Dorfes, passt es indes gar nicht, dass Maries Zuneigung mehr einem Esel gilt als ihm. Er macht Balthazar zum Sündenbock, verprügelt ihn, entführt ihn schließlich, um Marie dadurch in erpresserischer Absicht für sich zu gewinnen. Schließlich stößt sie seine fordernd tastende Hand nicht mehr weg. Gerard entjungfert sie. Marie wird zu einem Pokal, der in seiner kleinkriminellen Jugendbande herumgereicht wird. Ihr Vater und ihre Amme können nicht verhindern, dass sie sich bald als Prostituierte verdingt. Balthazar wohnt ihrem sozialen Abstieg mit gleichmütigen Blicken bei.

Beim Vorspann erklingt Schuberts zwanzigste Sonate. Der heisere Schrei eines Esels durchbricht ihren würdevollen Wohlklang. Erst nachdem der unsichtbare Rufer geendet hat, klimpert das Klavier weiter, wie um den dissonanten Riss sofort zu kitten.

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Balthazar ist krank. Vor dem Hammer, mit dem Gerard ihn erschlagen will, rettet ihn in letzter Sekunde die Intervention des Landstreichers Arnold. Er kauft ihm den Esel ab, zieht mit ihm und einem weiteren Langohr durch die Gegend, schwer alkoholabhängig und sich mittels kleiner Gaunereien mühevoll über Wasser haltend. Wenn er zu viel getrunken hat, vergreift er sich an Balthazar und seinem Leidensgenossen. Erneut gelingt dem Esel die Flucht. Er wird von einem Zirkus aufgegriffen, zur Attraktion für die johlende Menge. Auch Arnold verschlägt es ins Zirkuszelt. Balthazar und er erkennen einander sofort. Der Esel kann so erbärmlich schreien wie er will, er gerät erneut in Arnolds Besitz. Sein Martyrium findet erst ein Ende, als Arnold unverhofft Erbe eines beachtlichen Vermögens wird. In Maries Dorf lässt er die Korken knallen. Am nächsten Tag sinkt er tot von Balthazars Rücken. Gerard nimmt sich des Tiers an, und macht ihn zum Komplizen von Schmuggelgeschäften in den Bergen. Als die Grenzposten sie entdecken, fliegen ihnen die Kugeln um die Ohren. Gerard nimmt Reißaus. Nur Balthazar bleibt stoisch stehen, wird getroffen, schleppt sich sterbend zu einer Schafsherde, wo er bei Glöckchenklingeln und Lämmerblöken tot zusammensackt.

Diesen zurückgenommenen, unaufgeregten, für manchen vielleicht sogar herzlosen, frostigen Stil, bei dem die Schauspieler – allen voran die wundervolle Anne Wiazemsky – wie eingewickelt in ihre Körpertemperaturen bei circa null Grad fixierenden Kühlfolien agierenden, und der die Welt zugleich verrätselt und erklärt, der Distanz schafft zu den Figuren, ihren unterdrückten Leidenschaften, ihren Wünschen, ihren Ängsten, und sie zugleich aber, über den Umweg des Abstands, so dicht wie möglich an uns heranholt, der in jeder Banalität noch einen sakralen Funken findet, und der über das Allerheiligste reden kann wie über eine alltägliche Erscheinung, der Poesie findet im Schlimmsten, und Grausamkeit im Bezauberndsten – diesen Stil kennt man höchstens noch von Carl Theodor Dreyer oder Michael Haneke. Mit ihnen eint Bresson eine gewisse Stenge und Härte, ein unbarmherziges Stoßen der Kameralinse auf Wunden, die noch zu frisch sind als dass sie schon Schof angesetzt hätten, die aber innerhalb einer Sekunde umschlagen kann in lyrische Zärtlichkeit, unter deren Eindruck es nicht schwerfällt, die Welt, die uns vor allem von ihren Schattenseiten her vorgeführt wird, vielleicht doch nicht lieben, aber mit etwas Hoffnung beträufeln zu lassen.

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Ein Rechtsstreit bricht zwischen Maries und Jacques Vätern los. Maries Vater verwaltet das Gut von Jacques Vater. Im Dorf kursieren Gerüchte. Angeblich soll der Dorfschullehrer den Großteil seiner landwirtschaftlichen Einnahmen in die eigene Tasche stecken. Jacques besucht Marie, um den Konflikt zu schlichten, bevor er eskaliert. Was Bresson, wie so vieles, nicht explizit artikuliert: Offenbar hält Jacques bei Maries Vater um ihre Hand an, um im Gegenzug bei seinem Vater ein gutes Wort für ihn einzulegen. Maries Vater wirft Jacques aus dem Haus. Ob sie einander wiedersehen würden, fragt sie ihn bei der Bank, in deren Holz sie als Kinder ihre beiden Namen und ein Herz geritzt haben. Jacques zuckt nur mit den Schultern, fährt davon. In einem anderen Film hätten Jacques und Marie gar nicht anders gekonnt als den Abspann als Liebespaar zu erreichen. In Bressons Welt, wo die Figuren hilflos dem ausgeliefert sind, was sie an Hemmnissen in sich selbst mitbringen oder was ihre Umgebung ihnen in den Weg wirft, kann nicht mal eine unschuldige Jugendliebe irgendetwas ausrichten. Marie wird zu Gerards Gespielin. Sie gibt sich dem örtlichen Müller für etwas Brot und eine warme Decke hin. Jacques will sie retten. Er sei zu allem bereit, sagt er. Ich heirate Dich, trotz Schimpf und Schande, die an Dir kleben. Maire entgegnet: Du langweilst mich. Jacques bleibt hartnäckig. Gerard gibt sie endlich frei, jedoch nicht ohne sie vorher mit seinen Kumpanen erniedrigt zu haben. Nackt, zitternd, zusammengeschlagen finden Jacques und ihr Vater sie in einem Schuppen. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion nimmt Marie Reißaus. Ihrem Vater bricht das Herz. Als der Priester zu seinem Totenbett tritt, dreht er sich brüsk zur Wand. Draußen sitzt Maries Amme. Sie betet zu Gott, ihr nicht auch noch ihren Dienstherrn zu nehmen. Was solle sie – ein treues, simples Herz wie bei Flaubert – ganz allein tun auf der Welt. Einen Schnitt später ist Maries Vater tot. Balthazar wird an Gerard verkauft. Maries Amme erklärt ihn zum Heiligen beim Abschiednehmen.

Bresson verurteilt niemanden, lobt niemanden über Gebühr. Eine ältere Dame, für die Gerard als Schmuggler arbeitet, ist heimlich in ihn verliebt. Sie schenkt ihm ein Radio. Genau dieses Radio schaltet er ein, nachdem er Marie einmal mehr aus einem nichtigen Grund heraus geohrfeigt hat. Bresson spielt mit Symbolen, Objekten. Er liebt die Leerstellen. Ich muss mir selbst zusammenreimen, wer das kranke Mädchen ist, das zu Beginn des Films dahinsiecht. Wer trägt eigentlich die Schuld an dem Streit, der zwischen Maries und Jacques Vätern losbricht? Ihr Vater, sein Vater, kein Vater? Dabei ist keine Kameraeinstellung, kein Schnitt reiner Zufall oder reine Makulatur. Bresson zeigt genauso viel wie notwendig ist. Bresson verschweigt genau das, was nicht ausgesprochen werden muss. Sein Film ist ein dichtes Geflecht, bei dem alles mit allem und jeder mit jedem zusammenhängt. Er ist, sozusagen, die gesamte Welt in neunzig Minuten.

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AU HASARD BLATHAZAR ist eine Sammlung von Fragmenten. Das, was sie verbindet, ist allein der Esel. Scheinbar teilnahmslos beäugt er das Panorama aus verabscheuungswürdigen, wehrlosen, bemitleidenswerten Personen. Er ist Dreh- und Angelpunkt des Geschehens. Er ist ein Spiegel, in dem Gerards Grausamkeit genauso reflektiert wird wie die Schutzbedürftigkeit Maries, die Engstirnigkeit ihres Vaters, die unbeabsichtigte Arroganz Jacques‘. Wenn Marie sich Gerard entzieht, muss der Esel leiden. Wenn Arnold mal wieder zu tief ins Glas geschaut hat, muss der Esel leiden. Die subtilen christlichen Konnotationen, die wir ebenfalls bei Dreyer oder Haneke finden, liegen ganz nahe. Wie Bunuel in seiner modernen Hagiographie NAZARIN zieht Bresson die heiligste aller Erzählungen auf die Ebene des Belanglosen herab, was sie nur noch mehr adelt. Balthazar ist ein Christus mit schnaubenden Nüstern, Hufen und langen Ohren. Er trägt neunzig Minuten lang die Schuld, die Sünde, die Sühne, das Leid der gesamten Welt auf seinen Schultern. Das Schlussbild des Films – der tote Esel inmitten dem wogenden Wollweiß der Schäfchen – ist so schlicht, dass es zu Tränen rührt.

Bei der traumhaften Schwarzweißphotographie muss ich dauernd auch an Philipp Garell denken. Anne Wiazemskys Hän-de schieben sich von links ins Bild und hinein in das Eselfell. Anne Wiazemsky kniet nackt und geschunden von Gerard und seinen Freunden im hintersten Winkel der Hütte. Anne Wiazemsky muss hilflos zuschauen wie der Esel, den sie gerade zu ihrem Bräutigam gemacht hat, mit Tritten traktiert wird.

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AU HASARD BALTHAZAR ist einer der schönsten Filme, die jemals gedreht worden sind.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Mouchette

Produktionsland: Frankreich 1967

Regie: Robert Bresson

Darsteller: Nadine Nortier, Jean-Claude Guilbert, Marie Cardinal, Paul Hebert, Jean Vimenet
Gestern schaute ich mir eine Wasserburg in einem kleinen Ort etwa fünfzehn Kilometer außerhalb der Stadt an, in der ich wohne. Nachdem ich gesehen hatte, was ich hatte sehen wollen, beschloss ich, den vielleicht letzten warmen Tag des Jahres für eine Fußwanderung zurück zu nutzen. Kurze Zeit war ich erst zwischen Feldern und Äckern soweit das Auge reicht unterwegs, als mich ein Anblick regelrecht an Ort und Stelle festkleben ließ. Vor mir, hinter der Kuppel eines der seltenen Hügel dieser Gegend, konnte man die höchsten Punkte des Panoramas der Stadt erkennen, während die dazwischenliegenden Orten, in einer Art Talsenke liegend, unsichtbar blieben. Ich sah: die Spitze des Doms, in dem ein berühmter Reichsfürst begraben liegt; das Hochhaus am Hauptbahnhof, in dessen oberster Etage sich ein Swinger Club befindet, in dem ich mit einer Freundin vor eineinhalb Jahren eine Lesung gehalten hatte; den Industrieturm in der Nähe von Schwimmbad und Jüdischem Friedhof; die Spitze der Kirche gleich bei mir um die Ecke, die Karl Philipp Moritz in seinem wundervollen ANTON-REISER-Roman erwähnt. Für einen Moment kam ich mir vor, als sei ich mitten in einen Merian-Stich gestolpert. Es fiel mir schwer, mich von dieser Perspektive zu trennen. Ich bedauerte nicht mal, keine Kamera dabei zu haben. Es fühlte sich an wie Heimat.

Abends komme ich endlich dazu, mir einen weiteren Film von Robert Bresson anzuschauen. Auch MOUCHETTE, veröffentlicht nur ein Jahr nach AU HASARD BALTHAZAR, habe ich vor vielen Jahren im Spätprogramm irgendeines Öffentlich-Rechtlichen Senders gesehen, und seitdem im Herz behalten, aber trotzdem - warum nur? - keine Anstalten gemacht, ihn mir zu besorgen. Er basiert auf einem Roman von George Bernanos, den eine Ex-Freundin besessen hat - gelesen hab ich ihn nie. Seinen Trailer hat Jean-Luc Godard gemacht. Dieser Film sei katholisch und sadistisch, heißt es dort. Außerdem sei er eine Messe. Eine Messe in Schwarz und Weiß.

MOUCHETTE ist, wie BALTHAZAR, eine Heiligengeschichte. Dieser Film findet das Sakrale dort, wo der Alltag unerträglich wird. Mouchette ist ein kleines Mädchen, viel jünger noch als Marie in BALTHAZAR: Die Außenseiterin ihres Dorfes, der Paria, dem die Buben ihre Geschlechtsteile zeigen, um ihn zu provozieren, und der von der Lehrerin in schöner Regelmäßigkeit vor der gesamten Klasse bloßgestellt wird, und der sich in der Dorfkneipe die Hände wund wäscht, damit sein Vater sich in hässlicher Regelmäßigkeit ins Koma saufen kann, und der sich um das kleine Brüderchen, ein Säugling noch, kümmern muss, weil die Mutter sterbenskrank das Bett hütet. Mouchette hat keine andere Möglichkeit als diese: Zu erdulden. Dass die anderen Kinder sich über ihre laut klappernden Holzschuhe lustig machen. Dass die alten Dorfweiber sie scheel ansehen, und hinter ihrem Rücken über ihre Eltern lästern. Dass sie, weil sie vorm Gottesdienst in eine Pfütze tritt, von fremden Männern tätlich angegriffen wird. Nur einmal erlebt sie im ersten Drittel des Films sowas wie Glück: Auf dem Rummel, beim Autoscooter, und weil ihr ein Knabe ein Los für die große Ziehung schenkt. Wie unausweichlich mechanisch Bresson das Leben auf dem Land schildert, wie voller Rollenbilder, in die man hineinwächst und dann nie wieder herauskommt, und mit welch unbarmherziger, vollkommen banaler Grausamkeit zeigt der Ausgang dieser Szene: Ein Arm packt Mouchettes Schulter. Die Hand ihres Vaters klatscht ihr ins Gesicht. Sie wird von dem Jungen weggezogen, muss neben ihrem Vater sitzen, während er sich besäuft, weint still.

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MOUCHETTE ist eine Welt voller Töne. Holzschuhe klappern. Der Sturmwind pfeift. Morast quietscht. Kleine Vögel verfangen sich in den Fallstricken von Arsène, dem örtlichen Wilderer. Der wiederum pfeift dem Barmädchen Luisa hinterher. Aber auch Mathieu steht der Sinn nach einer Frau, die jünger ist als die eigene. In einer Sturmnacht kommt es zum Showdown. Oder zumindest zu dem, was in Bressons nach wie vor entschleunigter, entdramatisierter, von jeglichem exaltierten Ballast befreiten Vision einem Showdown noch am nächsten kommt: Mathieu erwischt Arsène beim Wildern. Sie prügeln sich. Dann trinken sie zusammen. Es kommt erneut zum Streit. Arséne glaubt, seinen Kontrahenten umgebracht zu haben. Mouchette ist Zeugin, Komplizin, schließlich Opfer.

Noch mehr als AU HASARD BALTHAZAR hat Bresson seinen Film einem kompromisslosen Minimalismus unterworfen . Manchmal hat der Film beinahe etwas Kammerspielartiges. Die Sprache ist genauso reduziert, auf das Nötigste beschränkt, wie im Vorgängerfilm, dafür der Personenkreis noch extremer konzentriert. Mouchette bildet, wie der Esel zuvor, Dreh- und Angelpunkt des Szenarios. Aber sie erlebt weniger, kommt weniger herum. Sie ist gefesselt an ihre ärmliche Existenz als Sündenbock in einem französischen Dorf, wo das Schnapsbrennen und das Frauenschlagen zum guten Ton gehören, und man entweder die Regeln der heuchlerischen Moral akzeptieren und mitspielen, oder aber, wie Mouchette es tut, den sozialen und physischen Tod wählen kann.

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Als Arsène einen epileptischen Anfall erleidet, singt sie ihm ein Lied, das sie am Morgen, in der Schule, kaum über die Lippen gebracht hat. Alle Hoffnung ist verloren, kommt es über die Lippen der blutjungen Nadine Nortier, die Bresson nicht etwa von der Schauspielakademie, sondern von der Straße wegengagiert hat. Landstreicher Arsène wird erneut, wie der Herumtreiber Arnold, von dem Amateur Jean-Claude Guilbert gespielt. Der taucht ansonsten fast nur noch in einer Minirolle in Godards WEEK END auf. Mit Godard hat MOUCHETTE, obwohl er Fan von Bresson gewesen ist, übrigens nichts zu tun. Wo dessen Filme drohen, taumelnd zusammenzubrechen unter dem zentnerschweren Überbau einer ganzen Bibliothek aus intellektuellen Querverweise, sind die von Bresson von einer unprätentiösen Deutlichkeit, dass es einem das Herz bricht.

Mouchette kehrt nach Hause zurück. Arsène hat sie vergewaltigt. In der gleichen Nacht stirbt ihre Mutter. Zuvor werden wir Zeugen der wohl schrecklichsten Mutter-Kind-Szene der gesamten Filmgeschichte. Nicht, dass Mouchettes Mutter ihr etwas antun würde. Sie sieht einfach ihre Tränen nicht, die dafür ins Gesicht ihres kleinen Brüderchens fallen. Im Ofen knistert das Holz. Scheinwerfer vorbeifahrender Autos streichen das viele Unausgesprochene, das zwischen Mutter und Tochter die Stille unerträglich macht. Mouchette wird von ihrer Mutter das Schlimmste angetan.

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Ihr Vater betrinkt sich. Tot liegt der mütterliche Körper aufgebahrt im Bett. Mouchette zieht mit der Milchkanne los. Im Dorf hat sich etwas verändert. Dadurch, dass der Tod in ihre Familie einbrach, begegnen ihr die Leute auf einmal mit vorgeblichem Respekt, der freilich, unter seiner Maske, nur Neugierde oder schlechtes Gewissen oder Konformismus ist. Man tut das eben, der Göre ein Croissant und eine Tasse Kaffee zu schenken, denn ihre Mutter ist gestorben letzte Nacht. Man tut das eben, sie einzukleiden für die Beerdigung mit irgendeinem alten Kleid, das man sowieso schon viel zu lange im Schrank hängen hat. Man tut das eben, sie auszuhorchen, was letzte Nacht mit Arsène und ihr vorgefallen ist, und weshalb ihr ein Knopf oben an der Bluse fehlt. Am ehrlichsten sind noch die Schulbuben. Als sei nichts geschehen, pöbeln sie Mouchette an, und wollen sie mit ihren Geschlechtsteilen provozieren.

Marie in BALTHAZAR hatte wenigstens die Möglichkeit eines Auswegs. Jacques will sie heiraten. Ihr Vater ist einverstanden. Sie wählt trotzdem die Flucht in die Prostitution. Mouchette hat demgegenüber gar keine solche Möglichkeit. Was sie tut oder was sie nicht tut: Es würde nichts ändern an ihrer Situation. Sie kann werden wie ihre Mutter, Frau eines Alkoholikers, überfordert, verhärmt, oder sie kann gar nicht werden. Sie entscheidet sich für Letzteres.

Ihre kindliche Rebellion: Der alten Frau, die so tut, als läge sie ihr am Herzen, den Teppich ruinieren, in dem sie die schlammverkrusteten Schuhsohlen dort abwischt. Der Krämerladensfrau das Croissant hinterherwerfen, denn Almosen mag sie nicht. Mathieus Frau, die sie aushorchen will, schnippisch die Antwort geben, sie sei Arsènes Geliebte, natürlich. Aber auch: sich im nahen Bach ersäufen.

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Sollte das nicht eine Anspielung auf Jean Renoirs LA RÉGLE DU JEU sein, die Kaninchenjagd kurz vor Ende, alles echt, ein Kaninchen in Großaufnahme sterbend, getroffen, sich aufbäumend, zappelnd, zuckend, unerträglich, schließlich leblos? Auf dem Papier klingt das vielleicht wie eine abgeschmackte Metapher: Mouchette ist eins dieser Kaninchen, nicht wahr? Im Film könnte nichts abgeschmackter werden. Bresson kennt das Wort Dramatik nicht mal vom Hörensagen. So wie Mouchette gelebt hat, stirbt sie. Unbeteiligt, ein Gesicht aus Granit, über das Tränen rinnen, als gehörten die gar nicht zu ihr. Sie schaut zu wie das Kaninchen verendet. Sie winkt einem jungen Mann auf einem Traktor. Er guckt zu ihr hin, ignoriert sie. Danach braucht sie drei Anläufe, um im Fluss zu landen. Musik ertönt – seit dem Vorspann zum ersten Mal: das MAGNIFICAT von Claudio Monteverdi.

Am Ende dann noch etwas Kinomagie: Wir sehen die Flussoberfläche. Wir sehen das weiße Kleid, in das Mouchette sich wie in ein Leichentuch eingewickelt hat. Wir sehen das Wasser konzentrische Kreise ziehen. Bresson macht daraus einen Loop. Die Kreise ziehen sich zusammen, weichen voneinander, immer wieder. Das ist nicht nur ein leicht durchschaubarer Effekt, um zu verdeutlichen, dass unsere Heldin wirklich dort unten liegenbleibt, und nicht gleich wieder zum Luftholen auftaucht. Es ist zugleich ein simples Beispiel für die Macht, die das Kino über Zeiten und Räume haben kann. Wenn Bresson gewollt hätte, hätte das Wasser sich für alle Ewigkeit kräuseln können – oder zumindest so lange bis der Film reißt.

Ich bin in einem kleinen katholischen Dorf aufgewachsen. Ich weiß noch: Die Wände der Kapelle waren voller Heiligenbilder. Im Grunde ist das meine erste Kino-Erfahrung: Als kleiner Junge gucke ich mir all die Geschichten, all die Gesichter an, als müsste ich sie mir ganz genau einprägen. Der Heilige Thomas. Der Heilige Antonius. Die Heilige Anna. Wie muss das erst auf einen Menschen zu einer Zeit gewirkt haben, als es noch überhaupt keine Filme gab, keine Photographie? Das Licht, das sich durch das Buntglas wühlt, und diese Geschichten, diese Gesichter zum Leben erweckt – was für ein Wunder! Mouchette, Marie und Balthazar gehören genau in diese Reihe. Ihre Hagiographien, von Bresson so wundervoll verfilmt, dass mir die Knie weich werden, haben einen reinigenden Effekt, läuternder als jeder Beichtstuhlbesuch.

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Auch MOUCHETTE ist einer der schönsten Filme, die jemals gedreht worden sind.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Eggshells

Produktionsland: USA 1969

Regie: Tobe Hooper

Darsteller: Ron Barnhart, Pamela Craig, Allen Danziger, Sharron Danziger, Kim Henkel
Austin, Texas in den späten 60ern. Freie Liebe. Drogenkonsum. Man diskutiert mit seinem Partner nackt in der Badewanne über den Kommunismus. Irgendwie ist man auch an der Uni eingeschrieben, wichtiger als Studium und vor allem Studienabschluss sind aber Popmusik, Joints unter freiem Himmel, und der Plan, mit seinen liebsten Freunden in ein abgelegenes Waldhaus zu ziehen, und dort einen ganz eigenen gegenkulturellen Gesellschaftsentwurf zu starten. Man ist gegen vieles, aber nicht verbittert. Man ist jung und voller Träume. Man denkt, so könne das für immer weitergehen. Die eigene Zukunft und die eigenen Eltern sind weit weg.

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Tobe Hoopers erster Langfilm EGGSHELLS entsteht ein halbes Jahrzehnt vor dem Werk, das ihn in die Annalen der Horrorfilmgeschichte ein- und bis zu seinem Tod im August 2017 auf die Schiene des Phantastischen Kinos festschreiben wird. Co-Autor ist, wie später bei TEXAS CHAINSAW MASSACRE, Kim Henkel, der auch eine kleine Schauspielrolle übernimmt. Gedreht wird mit Freunden und Bekannten an freien Tagen und Wochenenden, und in Gegenden, die man von Kindesbeinen an kennt, auf 16mm. All das markiert EGGSHELLS wohl schon als klassisches Regie-Debut eines Mittzwanzigers, der sich inhaltlich und personell bei seinem direkten Umfeld bedient, um weniger eine Geschichte zu erzählen als das visuelle Panorama seiner Generation zu liefern. Tatsächlich ist die Handlung von EGGSHELLS überschaubar, im Grunde nicht existent. Der Film setzt sich aus disparaten Fragmenten, Impressionen, Momentaufnahmen zusammen, deren einzige Konstante das Milieu und die agierenden Figuren bildet. Hoopers Ansatz zirkuliert weniger um ausgetüftelte Fiktionen, sondern um semi-dokumentarische Authentizität. Nicht nur treten alle Darsteller – außer Henkel – unter ihren echten Vornahmen auf, was allein schon die Grenze zwischen Inszenierung und Faktum brüchig werden lässt, zudem wird der an sich schon dünne Plot mit Aufnahmen durchmischt, die Hooper von Studentenprotesten schießt, von scheinbar belanglosen Alltagsszenen, von Landschaften und Städten, in denen er und seine Weggefährten aufgewachsen sind. Im Gegenlicht winkt die US-amerikanische Flagge im Wind. Im Zeitraffer rasen wir, zusammen mit der Kamera durch die Frontscheibe eines Autos blickend, irgendwelche Straßenzüge und Feldwege entlang. Dazwischen wird über tagespolitische Ereignisse, philosophische Grundfragen oder die Qualität des Grases, das man gerade raucht, debattiert. Ein bisschen erinnert das an die späten Filme von Andy Warhol – die oben bereits erwähnte Szene in der Badewanne beispielweise könnte ähnlich durchaus auch in dessen BLUE MOVIE stattfinden -, aber auch an die Experimente, die Nicholas Ray Anfang bis Mitte der 70er nach Ende seiner Hollywood-Karriere mit Filmstudenten in New York anstellt, und die unter dem Titel WE CAN’T GO HOME AGAIN einen eindrucksvollen, weil unbehauenen, nicht mit irgendwelchen von außen draufgepfropften Agenden beschwerten Schnitt quer durch die Lebensrealität junger Menschen zwischen Revolte und Resignation bieten. Dabei ist EGGSHELLS meilenweit von dem manchmal prätentiösen, mit zentnerschweren intellektuellen Oberbauten überlagerten Essay-Kino eines Jean-Luc Godard entfernt. In seinem intimsten Momenten – zum Beispiel einer langen statischen Aufnahme, bei der die Kamera im Treppenhaus des neuen Domizils unserer Helden steht, und einfach nur zuguckt, wie eine Party langsam in Gang gerät, ihren Höhepunkt erreicht und damit kulminiert, dass manche Gäste betrunken sind, andere sich zum Knutschen in die Schlafzimmer zurückziehen, und wiederum andere immer noch eifrig in der Küche über brisante Themen schwatzen – erweckt Hoopers Debut eher den Eindruck eines elaborierten home videos: Wir sind mitten hineingeworfen in die Leben und Alltage seiner Figuren, und lernen sie kennen, als würden wir selbst mit ihnen zusammen in ihrem Forstrefugium wohnen.

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Doch damit ist noch nicht alles über diesen wundervollen, kleinen Film gesagt. Seine Prämisse klingt nämlich doch wenigstens auf den ersten Blick nach einer, die auch jedem Backwood-Horror gut zu Gesicht stehen würde, oder? Ein Haufen junger Leute zieht in ein isoliert mitten im Wald stehendes Holzhaus, in dem es angeblich spuken soll. Das erklärt zumindest eine unserer Heldinnen gleich zu Beginn. Eine frühere Bewohnerin soll dort ihren Liebhaber ermordet haben. Der geistere nun immer noch über die knarzenden Dielen und knirschenden Stiegen. Mit einem Gespenst werden wir in der Folge zwar nicht konfrontiert, doch im Keller des Anwesens spielen sich dennoch reichlich obskure Dinge ab: Für einen der Kommunarden, Ron, öffnet sich eine Art Zeitloch, aus dem allmählich – ein bisschen so wie David Lynchs GRANDMOTHER – ein riesiges Ei zu wachsen beginnt, dessen pulsierende Schale bald auch auf seine Freunde eine unheimliche Faszination ausübt. Aber mehr noch: Hand in Hand gehen mit dieser völlig schrägen Bildmetaphorik, die freilich nur auf dem Papier nach übelstem Science-Fiction-Trash klingt, genauso waghalsige Experimente auf der technischen wie ästhetischen Seite des Films, die mir mehr als einmal gewaltsam die Kinnlade heruntergerissen haben. Hooper inszeniert zum Beispiel: 1. einen Schwertkampf Rons gegen sich selbst, der derart virtuos montiert ist, dass einem schwindlig werden kann, 2. eine lange, sehr zärtliche Sexszene, bei der vor unseren Augen alsbald die kopulierenden Körper zu undefinierbaren Farbformen zerrinnen, die sich immer weiter in die Abstraktion verabschieden – (ich nehme an, Hooper hat hier durch sich wellendes Glas gefilmt), 3. eine genauso lange Handkamera-Tour quer durch den Waldhauskeller, in dem es – irgendwo zwischen den okkult-metaphysischen Séancen eines Kenneth Anger oder Stan Brakhage, und einen wilden Ritten von Sam Raimis THE EVIL DEAD – überall zischt und flackert bis ein warmer Nebel sich über die Szenerie legt, und nur noch irritierende Lichtpunkte wie Signale aus einer fernen Welt zu erahnen sind, und, nicht zuletzt, 4. eine wunderschöne Szene, in der Kim Henkel mit seinem Wagen hinaus aufs Land fährt, sich die Kleider vom Leib reißt, sein Auto in Flammen aufgehen lässt und erlöst von allem irdischen Ballast, während die Karre hinter ihm in die Luft fliegt, in den Feldern verschwindet. Demjenigen, dem nach diesen Zeilen noch nicht sämtliches Speichelwasser im Mund zusammengelaufen ist, kann ich außerdem noch von dem unfassbaren Soundtrack des Films vorschwärmen, bei dem solche entzückenden Instrumente wie ein Didgeridoo, eine Sitar oder ein Kazoo Klangteppich weben, die die teilweise überaus farbenfrohen Bildwelten noch um zusätzlich delirierende Komponenten bereichern, von der Montage, die immer wieder zwischen ruhigen, fast schon elegischen Momenten zu wahren Kanonenfeuerwerken der Schnitttechnik wechselt, von dem superben Handkamera-Einsatz, der gerade in den recht häufigen POV-Schwenks bereits deutlich an TEXAS CHAINSAW MASSACRE erinnert, oder von ausgefallenen Kamera-Blickwinkeln, die beispielweise einen explodierenden Papierflieger (!) oder einen Wald, der voller bunter Luftballons hängt, in die rechte Perspektive rücken.

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Es ist abgegriffen, ich weiß, über einen Film, der ästhetisch-technisch mit Siebenmeilenstiefeln etablierte (Seh-)Normen überschreitet, und dann auch noch aus einem dezidiert gegenkulturellen Spektrum stammt, zu sagen, er wirke wie ein Drogentrip. EGGSHELLS aber ist genau ein solches Werk, das in diese ansonsten überstrapazierte Kategorie hineinpasst wie ein stetig wachsendes ASTARON-Ei in einen texanischen Waldhauskeller. Zugleich aber – und damit spanne ich den Bogen zu den weiter oben beschriebenen halb-dokumentarischen Szenen – beweist Hooper durchgängig, dass er seinen Exzess durchaus zu steuern weiß. EGGSHELLS ist ein Drogentrip – jedoch ein kontrollierter, einer, bei dem ein Arzt neben einem sitzt, und einen, wenn man allzu sehr abzudriften droht, wieder zurück in erträglichere Fahrwasser lenkt. Nach all diesen Lobhudeleien wundert es wohl niemanden, der bis hierher durchgehalten hat, mehr, dass ich EGGSHELLS, was Hoopers Oeuvre angeht, ganz dicht hinter TEXAS CHAINSAW MASSACRE veranschlagen würde – wenn nicht sogar auf Augenhöhe mit diesem! Alles, was dort im Dienste einer stringenten Narration überformt wurde, ist hier en nuce angelegt, und dabei exzessiver, hemmungsloser, ungestümer, weniger verstörend, sondern verzückend. Allerdings stimmt EGGSHELLS im Nachhinein, nun, wo Hooper nicht mehr unter uns weilt, dann doch ein wenig wehmütig. Sollte das Texanische Blutgericht, obwohl sein größter Erfolg, zugleich seinen Lebensfluch bedeutet haben – oder wie anders kann man erklären, dass jemand, der mit Mitte Zwanzig ein derartiges Juwel wie das vorliegende auf die Beine bringt, sein sichtlich vorhandenes Talent später in – um einmal zwei seiner besseren post-TCM-Filme zu nennen - unterhaltsamen, aber dann doch eher altbekannte Weiden abgrasenden, wenig originellen B-Horrorfilmen wie EATEN ALIVE oder FUNHOUSE verbummelt?
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Texas Chainsaw 3D
Produktionsland: USA 2013
Regie: John Luessenhop
Darsteller: Alexandra Daddario, Dan Yeager, Trey Songz, Scott Eastwood, Tania Raymonde
Das ist für mich eine der ikonischen Szenen des US-amerikanischen Horrorkinos Anfang der 70er Jahre: Leatherface, der Hüne mit einer aus den Häuten seiner Opfer gebastelten Maske vorm Gesicht, muss hinnehmen, dass Sarah Hardesty in letzter Sekunde seinem Kettensägenblatt entkommen ist. Wie von Sinnen führt er im Schein der aufgehenden Texas-Sonne ein groteskes Tänzchen mit seinem favorisierten Mordinstrument auf, während Sarah auf der Ladefläche des sie in Sicherheit bringenden Kleinwagens in einen wahren Schreikrampf verfällt. Dass Tobe Hoopers TEXAS CHAINSAW MASSACRE auf eine derart poetische Note endet – es ist einfach eine Augenweide, wie sich die Silhouette des Kettensägenkillers, seine Klamotten steif vor Blut und Schmutz, vom pittoresk-friedlichen Landschaftspanorama abhebt -, ist nur eine von vielen Qualitäten, die diesen lange Zeit zu Unrecht als vermeintlich stupiden Splatterfilm geschmähten Streifen auszeichnen. Gerade der spröde Realismus, mit dem Hooper zu Werke geht, überrascht mich bei jeder Sichtung erneut aufs Positive. Wo spätere Slasher eine unglaubwürdige Fluchtsequenz nach der andern abspulen, und ihre Protagonisten psychischen und physischen Strapazen aussetzen, bei denen jeder Mensch, der nicht nur auf Seiten eines Drehbuchs existiert, nach kurzer Zeit zusammenklappen würde, macht sich TEXAS CHAINSAW MASSACRE einen vergleichsweise beinahe schon unaufgeregten, schlichten Stil zu eigen. Sarahs vier männlichen Begleitern, darunter ihr gelähmter Bruder Franklin, wird von Leatherface ein Prozess gemacht, der so kurz ist, dass er in seiner Drastik erschreckt, und Sarah selbst entkommt ihren Peinigern zweimal recht glaubwürdig dadurch, dass sie sich, nicht ohne schwerwiegende Blessuren, aus offenen Fenstern stürzt. Wenn man einmal die Existenz einer kannibalistischen Redneck-Familie im tiefsten Texas als plausibel voraussetzt, muss sich kaum ein Erzähldetail von TEXAS CHAINSAW MASSACRE den Vorwurf gefallen lassen, dass es sich nicht genauso hätte zutragen können. Möglicherweise ist genau das die Stärke dieses kleinen, dreckigen Films: Dass ein geistig derangierter Koloss junge Frauen mit surrender Kettensäge durchs Unterholz hetzt, dabei handelt es sich um ein Szenario, dem Hoopers Film so wenig Überspitztes hinzudichtet, dass man es problemlos für bare Münze nehmen kann, eben weil es sich aus nichts weiter zusammensetzt als einer kreischenden, rennenden jungen Frau, einem amoklaufenden Schlächter und einem Wäldchen, in dem es so finster ist, dass man schon mal mit der Stirn gegen den Ast eines Baumes läuft.

TEXAS CHAINSAW 3D erinnert an diese Qualitäten seines übermächtigen, vier Jahrzehnte zurückliegenden Vorgängers schon gleich in seinen ersten Minuten. Eine Collage aus einigen der nervenzehrenden Momente aus Hoopers Original läutet den dreidimensionalen Neuaufguss aber nicht nur ein, um das jüngere Publikum mit Ästhetik und Stil des Massakers von 1974 vertraut zu machen, ohne dass es eigenständige Blicke darauf werfen muss. Vielmehr folgt das Rekurrieren auf Leatherfaces ersten Leinwandauftritt ganz pragmatischen Gründen: TEXAS CHAINSAW 3D möchte genau dort ansetzen, wo sein Vorgänger aufgehört hat. All die zwischenzeitlich gedrehten Sequels und Remakes sind Geschichte. Unter den Teppich gekehrt wird Tobe Hoopers eigenes Sequel, das stellenweise gehörig groteske, meinen persönlichen Humor selten anvisierende oder gar treffende TEXAS CHAINSAW MASSACRE 2 von 1986, in dem Dennis Hopper den Menschenfresser-Clan als Ein-Mann-Armee in unterirdischen Stollensystemen ausbombt, ebenso wie der offizielle dritte Teil, der von Jeff Burr 1990 inszenierte LEATHERFACE: TEXAS CHAINSAW MASSACRE III, in dem Leatherfaces Familienstammbaum zwar Ergänzung durch einige neue Ästchen erfährt – darunter eine blutrünstige kleine Göre, eine ältere Dame mit künstlichem Luftröhrenausgang und der junge Viggo Mortensen -, die eigentliche Handlung aber weitgehend innovationslos zwischen Ingredienzien von Backwood-Horror, Teenie-Slasher und sogar Vietnam-Actionspektakel zirkuliert. Ebenso vergessen sind aber auch die inoffiziellen Ableger wie der Versuch Kim Henkels, seinerzeit Hoopers Drehbuch- und Produktions-Partner beim Originalfilm, seine eigene Parodie auf den Klassiker zu drehen – ein Versuch, der mit THE RETURN OF THE TEXAS CHAINSAW MASSACE (1994) eine derartige Bruchlandung erlebt, dass es mit ein paar zusammengedrückten Augen schon beinahe wieder unterhaltsam sein kann -, oder die reichlich unnötigen, sich selbstzweckhaft in Sudeleien suhlenden Remakes bzw. Prequels unter der Ägide des (leider) unvermeidlichen Michael Bay: TEXAS CHAINSAW MASSACRE (2003) und TEXAS CHAINSAW MASSACRE: THE BEGINNING (2006). Nichts also hiervon in vorliegendem Film, der einen Schlussstrich unter all diese Epigonen setzt, und noch einmal von Null beginnen möchte, nämlich dort, wo ich noch immer in einer der schönsten Schlussszenen des transgressiven Kinos schwelge: Leatherfaces morbides Tänzchen im ätherischen Glanz der Texas-Sonne.

Nach dem Vorspann begleiten wir einen afroamerikanischen Cop namens Sheriff Hooper (!) zum Anwesen der Sawyer-Familie, offenbar nur wenige Stunden, nachdem Sarah Hardesty gerade so mit dem Leben davongekommen ist, und Leatherface sein Kettensägenballett auf offener Landstraße aufgeführt hat. Während TEXAS CHAINSAW 3D demnach vordergründig um Kontinuität bemüht ist, erlaubt er sich, noch immer im Prolog, dann aber doch einige Freiheiten, die Fans des Originalfilms einigermaßen vor den Kopf stoßen dürften, und jetzt schon paradigmatisch auf den Punkt bringen, wie zerrissen der Streifen in seinem Innersten dahingehend ist, dem Original einerseits Rechnung tragen und es anderseits modernen Sehgewohnheit gemäß in die Gegenwart transferieren zu wollen. Die Sawyer-Familie, bei Hooper, neben Leatherface, noch aus dessen beiden Brüdern sowie dem scheintoten Großvater bestehend, hat unter der Regie von John Luessenhop erneut enormen Zuwachs bekommen. Eine ganze Sippschaft bärtiger, bärbeißiger Kerle – darunter übrigens auch Gunnar Hansen höchstpersönlich! – hat sich auf dem Anwesen verschanzt, und beantwortet Hoopers Verhandlungsangebot zwar zunächst mit mehr oder weniger verständigen Worten, den kurz darauf heranstürmenden Redneck-Mob, der den Sawyers endgültig den Garaus machen will, jedoch mit einem Kugelhagel. In dem blutigen Shootout kommt nur ein Mitglied des Sawyer-Clans lebend davon: Ein Säugling, den zu töten einer der selbstjustizierenden Rednecks nicht übers Herz bringt, und ihn stattdessen, wie einst Moses, an Kindes statt zu sich in die Familie nimmt. Wir können uns jetzt schon denken, wohin die Chose sich entwickeln wird: Etwa zwanzig Jahre später wird Heather Miller, wie das zur jungen Frau gereifte Mädchen inzwischen heißt, nicht nur mit der Information konfrontiert, dass ihre vermeintlich leiblichen white-trash-Eltern gar nicht blutsverwandt mit ihr sind, sondern erfährt zudem aus einem notariellen Schreiben vom Tod ihrer wirklichen Großmutter, die ihr das gesamte Sawyer-Anwesen als Alleinerbin vermacht hat. Kurzerhand bricht sie mit ihrem Freund Ryan sowie ihrer besten Freundin Nikki und deren Bettgefährten Carl in den Süden Texas auf, um mehr über sich selbst und das Vermächtnis herauszufinden, das ihr das Schicksal so unverhofft in den Schoß hat purzeln lassen. Wir wissen ebenfalls jetzt bereits: Natürlich ist Leatherface bei dem damaligen Massaker nicht gestorben, sondern hat all die Jahre als Einsiedler im Keller der Villa zugebracht, und natürlich wird die Ankunft seiner Cousine die Vergangenheit so kräftig aufrühren, dass bald wieder menschliche Körper und stotternde Kettensägen Verbindungen eingehen, die den Bildschirm rot färben.

Auffällig ist, wie sehr sich TEXAS CHAINSAW dabei einerseits beim Arsenal des klassischen Gruselkinos bedient, andererseits Versatzstücke aus dem Originalfilm in seine heterogene Melange rührt, und drittens auch noch den Versuch unternimmt, quasi die gesamte Historie des Slasher-Genres exemplarisch und en nuce nachzuzeichnen. Kommen wir zu ersterem: Schon die Prämisse von TEXAS CHAINSAW ist herrlich altbacken. Dass jemand von einem unbekannten Verwandten ein mysteriöses Haus erbt, das sich letztlich als voller Geheimgänge und furchtbarer Geheimnisse unter den Bodendielen erweist, dieses Motiv kann man noch bis in die Frühzeit des Horror-Genres, der europäischen gothic novel im 18.Jahrhundert, zurückverfolgen. Auch sonst geizt TEXAS CHAINSAW nicht mit Vertrautem. Wie in JAWS haben sich Bürgermeister und Sheriff des Örtchens, zu dem das Sawyer-Anwesen gehört, ständig in den Haaren, und wie in Fulcis PAURA NELLA CITTÀ DIE MORTI VIVENTI bekommt unsere Heldin, die sich zwischenzeitlich in einem Sarg versteckt hat, es durch dessen Deckel hindurch mit einer tödlichen Waffe zu tun, die sie aus diesem herauszuschneiden bemüht. Die Gefriertruhe, aus der im Original eins von Leatherfaces Opfern wie ein Springteufelchen hüpft, ist genauso wieder am Start wie der Anhalter, den die Freunde zu Beginn mitnehmen, der sich aber nicht, wie bei Hooper, als Mitglied der Kannibalen-Familie entpuppt, sondern als ordinär Dieb, der die Abwesenheit von Heather & Co. nutzt, um erstmal die wertvollsten Einrichtungsgegenstände der Villa in die eigene Tasche zu räumen. Dass die Handlung sich zwischendurch – übrigens eine dermaßen lächerliche Szene, dass ich mir nicht sicher bin, ob da nicht absichtlich die Grenze zur Selbstpersiflage überschritten werden sollte – auf einen Rummelplatz verlagert, wo Leatherface Heather bis in die Waggons eines Riesenkarussells hinein hetzt, könnte wiederum glatt als kleiner Hofknicks vor Hoopers etwas unterschätztem vierten Spielfilm FUNHOUSE durchgehen. Nicht zuletzt haben die Verantwortlichen neben Gunnar Hansen auch noch Marilyn Burns, die Hauptdarstellerin des Originals, für eine winzige Rolle verpflichtet: Als Heathers Großmutter darf sie in einer Rückblende einen Brief kritzeln, und später, ausgebuddelt von ihrem Neffen, als modriger Leichnam in einem Sessel herumliegen.

Daneben hält sich TEXAS CHAINSAW aber auch nicht damit zurück, sich bei einem jungen Publikum anzubiedern, und abzugasen, was sich im Horror-Kino des neuen Jahrtausends als Konventionen herausgebildet hat. Damit kommen wir zu einer weiteren Stärke von Hoopers ursprünglichem Kettensägenmassaker. Obwohl Zensoren und Jugendschützer das Texanische Blutgericht seit jeher als stumpfe Gewaltorgie brandmarkten, könnten die Realität und ihr Urteil nicht ferner voneinander liegen. Gerade weil Hooper in seinem Film nicht etwa schonungslos mit der Kamera auf die Metzeleien draufhält, sondern sie mittels geschickter Kameraperspektiven kaschiert, bzw. sie allein von der Montage ausagieren lässt, entfaltet dieser, meiner Meinung nach, sein noch immer ungebrochen verstörendes Potential. Kein billiger Splattereffekt, keine selbstzweckhafte Sudelei, kein semi-pornographisches Zurschaustellen von Körperdekonstruktionen kann einem Jahrzehnte später das Vergnügen an der perversen Grundstimmung dieses Werks verleiden. Schön zeigt das nicht zuletzt die Art und Weise, wie Hooper auf die Schlachthausthematik anspielt. Zwar werden, als Sarah und ihre Freunde an einem solchen vorbeifahren, kurz Aufnahmen von auf ihren Tod wartenden Rinder gegengeschnitten, doch erst der Anhalter, den unsere Helden aufgabeln und der sich als ein Sawyer herausstellt, konfrontiert sie mit Photographien gehäuteter, ausblutender Schlachttiere – jedoch so weit weg von der Kameralinse, dass es erneut bei einer bloßen Ahnung bleibt, und der voyeuristische Blick nicht wirklich was zu fassen kriegt. Von solchen Subtilitäten, die das Explizite zwar zeigen, aber in einer Weise, die es ganz bewusst außerhalb der direkten Rezipienten-Affizierung platzieren, ist freilich in TEXAS CHAINSAW 3D nicht viel zu spüren. Wenn die Körper der Freunde unserer Heldin mit der Kettensäge in Kontakt treten, dann spritzt das Blut meterhoch und literweise, und der Fleischerhaken, von dem wir im Original nie direkt sehen, wie er sich zwischen hilflose Schulterblätter gräbt, darf gleich in mehreren Großaufnahmen seine Penetration von Haut und Fleisch vollziehen. Da passt es nur, dass der Film Heather und ihre Gefolgschaft oft und gerne sexualisiert – sei es nun, indem das Sixpack ihres Lebensabschnittspartners, der übrigens in einem völlig überflüssigen Subplot ein Techtelmechtel mit ihrer besten Freundin anfangen muss, ins rechte Licht gerückt wird, oder dadurch, dass Heather-Darstellerin Alexandra Daddario gefühlt den ganzen Film über in einem bauchfreien Top herumläuft. Die leisen Töne sind TEXAS CHAINSA 3Ds Stärken nicht – und schon gar nicht hat der Streifen das Talent, Anachronismen weiträumig zu umschiffen. In einer ellenlangen Szene, in denen einer von Sheriff Hoopers Cops das Sawyer-Anwesen durchstreift, überträgt er seine room-tour live per Smartphone-Kamera in die Polizeizentrale. Wohlgemerkt in einem Film, der, wenn mich meine Mathekenntnisse nicht völlig verlassen haben – Heather ist zu Beginn, d.h. im Jahre 1974 ein Säugling, und später nicht viel älter als Mitte Zwanzig, mit Sicherheit nicht Ende Dreißig, wie sie es sein müsste, wenn vorliegender Film im Jahr seines Erscheinens angesiedelt sein sollte! - frü-hestens Anfang und allerspätestens Mitte der 90er spielen dürfte.

Interessanter ist da schon, wie sich im Laufe des Films die Grenzen zwischen Tätern und Opfern verschieben. Wohl niemand wird im Original-Film mit der Figur des Leatherface mitfiebern. Unter der Regie Hoopers ist dieses Kleinkind im Körper eines bulligen Erwachsenen das Grauen schlechthin, und faktisch ohne jeden menschlichen Charakterzug. In der ersten Hälfte von TEXAS CHAINSAW ändert sich daran zunächst nichts. Einmal losgelassen, tut Leatherface, was man von ihm erwartet: Grundlos abschlachten, was ihm vor die Sägeblätter gerät. Je mehr Heather (und mit ihr wir) über ihre eigene Vergangenheit, ihre Familie, das Blut, das in ihr fließt, herausfindet desto sympathischer wird uns ihr Cousin – bis wir uns am Ende selbst dabei überraschen, wie wir ihn dabei anfeuern, dass er dem Bürgermeister und seinen Handlanger, die ihn zu lynchen beabsichtigen, das verbliebene Leben zur schmerzlichen Hölle mache. Recht klug rezipiert TEXAS CHAINSAW 3D damit einen Paradigmenwechsel im Slasher-Film selbst. Während in Hoopers TEXAS CHAINSAW MASSACRE, in Sean Cummings FRIDAY THE 13TH oder Carpenters HALLOWEEN noch klar definiert ist, wem unsere Empathie gelten soll, weichen diese Sicherheiten zunehmend auf, je mehr Einträge die jeweilige Filmserie erfährt. Irgendwann ist es Freddy, ist es Michael Myers, ist es Jason, mit dem sich der Betrachter identifizieren soll und identifiziert, und die Halbwüchsigen, die von diesen oder anderen Gestalten postmodernen Spuks malträtiert werden, sind endgültig zum Kanonenfutter verkommen – zu Rindern, deren Stirne auf das möglichst virtuos gehandhabte Bolzenschussgerät warten. Heathers Wechsel der Seiten – vom Schlachtvieh zum Schlachter – ist Ausdruck genau dieser Entwicklung. Am Ende, nachdem selbst der Sheriff ihre Morde zu decken bereit ist, bringt sie ihren Cousin zurück in seinen Keller, verschließt ihn dort und nimmt als neue Hausherrin Platz im Sawyer-Anwesen – eine imperiale Geste, die einer Sarah Hardley nie vergönnt gewesen ist.

So viel es in TEXAS CHAINSAW an Querverweisen, halbwegs intelligenten Meta-Aussagen und absolut bekloppten Nachlässigkeiten – ich komme einfach nicht darüber hinweg, dass man in einem Film, der in der ersten Hälfte der 90er spielen soll, minutenlang mit einem modernen Smartphone herumfuchtelt! – zu entdecken gibt, so schal ist das Ergebnis dann aber doch, und selbst wenn einem in 3D Kettensägen und Leichenteile um die Ohren fliegen, kann vorliegender Film seinem übermächtigen Vorläufer freilich nicht mal ein Gläschen stilles Wasser reichen.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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The VVitch

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Originaltitel: The VVitch: A New-England Folktale

Produktionsland: USA, Großbritannien, Kanada, Brasilien 2015

Regie: Robert Eggers

Darsteller:Anya Taylor-Joy, Ralph Ineson, Kate Dickie, Harvey Scrimshaw
Da ich diesen Oktober vom Schicksal zum Hochschulbesetzer ernannt worden bin, hatte ich kaum Zeit, mir auf dem diesjährigen Braunschweiger Filmfestival mehr als einige Stippvisiten zu leisten. Eine davon galt allerdings der kanadischen, britischen, US-amerikanischen Co-Produktion THE VVITCH, und zwar stilecht als Mitternachtsvorstellung, nach der sich der Nachhauseweg für mich in etwa so schaurig gestaltete, als sei ich mit einem Blindenhund zur gleichen Uhrzeit auf dem Münchner Königsplatz unterwegs…

Der Untertitel des Films - A NEW ENGLAND FOLKTALE – hätte gar nicht besser gewählt werden können. Erste Überraschung nämlich dieses Werks, über das ich zuvor bewusst wenig gelesen hatte, und deshalb absichtlich sehr wenig wusste: Es spielt zur Gänze unter den ersten Siedlern Neuenglands um das Jahr 1630 herum, etwa eine Dekade nachdem die Gründerväter der späteren Vereinigten Staaten mit ihrer Mayflower vom alten Europa her herbeigesegelt sind, um Land zu bestellen, eine Nation zu gründen, und die indigenen Völker zu verscheuchen. Deshalb sind sämtliche Figuren angetan mit traditionellen Kostümen und verständigen sich mittels eines archaischen Englischs, von dem ich zwar nicht weiß, inwieweit das nun tatsächlich einem Linguisten als authentisch genügt, das sich aber zumindest in meinen Ohren ausgesprochen angenehm anhörte. Statt aber Shakespeare oder Marlowe zu deklamieren, haben unsere Helden – eine anfangs siebenköpfige Familie, bestehend aus Mutter, Vater, halbwüchsiger Tochter, noch halbwüchsigerem Sohn, einem vielleicht fünfjährigen Zwillingspaar, und einem Säugling – mit viel grundlegenderen Problemen zu kämpfen: Nachdem die Familie, aus welchen Gründen auch immer, von ihrer Siedlung aus in die öde Wildnis verstoßen worden ist, errichtet man sich dort eine kleine Ziegenfarm, und beschließt, im Vertrauen auf Gott, den Fährnissen zu trotzen, und ein frommes Leben nach der Bibel zu führen. Die Wetter sind rau, die Felder geben weniger her als gedacht, und dann verschwindet eines Tages das jüngste Familienmitglied spurlos, und zwar direkt vor den Augen der ältesten Tochter. Damit ist aber nur ein erstes Ereignis einer ganzen Kette losgetreten, die die vermeintliche Freiheit unter Gottes Himmel allmählich in einen Zustand äußerster Klaustrophobie verwandeln wird. Passend dazu hält Regisseur Robert Eggers sein Debut in entsättigten Farben. Es dominierten Schwarz- und Grautöne, gearbeitet wird mitunter mit äußerst unvorteilhaften Lichtverhältnissen, die gerade das Interieur der schlichten Wohnhütte, selbst ganz ohne die übernatürlichen Eingriffe, die später noch folgen werden, schon gleich zu Beginn zu einem Schauplatz machen, der aus der Feder Goyas hätte tröpfeln können, und den Wald ebenfalls sehr früh, noch bevor von der titelgebenden Hexe auch nur ein Besenstiel zu sehen ist, in eine bedrohliche Masse aus Holz, Blättern und vor allem Schatten, in denen per se alles lauern kann.

Das lauert natürlich dann auch. Die in mancher Kritik zu lesende Behauptung, THE VVITCH könne auch psychoanaly-tisch decodiert werden, wodurch sämtliche Spukerscheinungen, denen unsere Familie in den nächsten eineinhalb Stunden ausgesetzt sind, prinzipiell auch in Phantasmagorien unserer gebeutelten Familie umzudeuten wären, kann ich für meinen Teil kaum bis gar nicht unterschreiben. THE VVITCH ist, seinem Untertitel folgend, ein Volksmärchen – und zwar eins voller permeabel werdender Grenzlinien zwischen Vernunft und Wahn, zwischen Subjekt und Objekt, und zwischen Physik und Metaphysik, das am besten um Glock zwölf an einem prasselnden Lagerfeuer erzählt, oder eben in einem halbvollen Kino betrachtet wird. Positiv ist anzumerken: So sehr Eggers in klassischem Schauerromanrepertoire, in Volksgut, in altbekannten Grusel-Versatzstücken wildert – manche Szene könnte tatsächlich von Goya stammen, von Hans Baldung Grien, von Luis Ricardo Falero -, so sehr hält er sich auch weitgehend mit den Knalleffekten zurück, die das Horrorkino im derzeitigen Jahrtausend zu gefühlten neunundneunzig Prozent konstituiert. Viel dezenter als die von mir aufgezählten Maler vergangener Jahrhunderte möchte Eggers seinem Publikum offenbar wirklich mehr ein Frösteln verschaffen als es mit plakativen Effekten erschlagen: Wenn das Sound-Design anschwillt, dann Hand in Hand mit den Bildern, und nicht, um die Bilder mit Emotionen vollzupumpen, die nicht in ihnen angelegt sind, und wenn es Blut sudelt, dann selten exploitativ, und sowieso ist es dem Film wichtiger, mich mit angeblich Kinderohren schlimme Dinge zuflüsternden schwarzen Ziegenböcken, mit unheimlichen Lauten aus dem Forst oder mit solchen wohlig-schaurigen Bildern wie einem halb mit dem Wald verwachsenen Hexenhaus mitten in demselben zu verstören. Wenn der älteste Sohn sich - ich bestehe darauf, dass das ein SHINING-Querverweis ist - einer wunderschönen Frau nähert, erklingt dazu ein Soundgemisch, als würden gleich Kubricks Affen ihre Tatzen auf den Monolith legen, und wenn die Kamera einmal mehr einfach nur in der Schönheit einer Menge Bäume schwelgt, die von der Nacht verschlungen wird, dann sind, was die hohen Frauenchöre angeht, auch die knallbunten Flure einer Freiburger Ballettschule zumindest akustisch keinen Raubkatzensprung entfernt.

Verwöhnt mit Reminiszenzen an Ligeti und Goblin, mit zugleich beklemmenden wie lyrischen Bildern, mit Schauspielern, denen ich jede Silbe abkaufe – vor allem Anya Taylor-Joy als vermeintliche Teufelsbuhlin Thomasin sei hier hervorgehoben! -, mit einem Drehbuch, das sich viel Zeit lässt, niemals vorschnell aus der Hüfte feuert, und eine ansprechende Balance findet zwischen Vagheit und Präzision, was hat mich unterm Strich dann doch an THE VVITCH gestört? Es sind Details, aber trotzdem, sie müssen sein: Die paar Szenen, in denen es dann doch härter zur Sache geht, hätte Eggers sich für mich getrost sparen können – zumal die Großaufnahmen, die die Gewalt schließlich doch ansatzweise zur Schau stellen. Das hat dieser Film genauso wenig nötig wie die an manchen Stellen ebenfalls doch ein bisschen zu sehr in den Vordergrund gespielte Klangkulisse. Gerade auch vom Schnitt hätte ich mir oftmals eine noch ein bisschen langsamere Gangart gewünscht. Freilich, es muss nicht gleich Tarr oder Tarkowskij sein - obwohl, die Vorstellung ist reizvoll, wie das ausgesehen hätte: Bela Tarrs THE VVITCH! -, doch, glaube ich, hätte dem Film es nicht schlechtgetan, noch ein wenig mehr in den Arthouse-Bereich hinein zu lehnen, und ein paar Einstellungen aus dem Ärmel zu schütteln, deren Laufzeit über die Aufmerksamkeitsspanne eines normalen Kinogängers hinausreicht. Über das Finale, diese ANTICHRIST-Pointe für verzärtelte Gemüter, kann man geteilter Meinung sein – und ist es auch -, ich mochte es in etwa genauso wie die reine Präsenz eines teuflischen, sprechenden Ziegenbocks und die Szenen, in denen ein gewöhnlicher Feldhase nur mit dem Näschen zu schnüffeln braucht, und schon fängt mir das Herz an zu klopfen.

Alles in allem finde ich wenige den Gesamteindruck störende borstige Ziegenbockhaare in diesem Film, von dem ich es zwar auch für übertrieben finde, ihn als einen der überwältigendsten Genrefilme der letzten Jahre zu bezeichnen – dafür ist er mir dann doch noch zu konventionell: und das meine ich ganz und gar nicht auf seine Story bezogen, die, einer Folktale gemäß, schlicht und stringent daherkommt, sondern allein auf seine technische Seite -, ihm aber gerade auch wegen des Erstsichtungs-Settings (und dem darauffolgenden Nachhauseweg: oh mein Herz...) als fulminante Überraschung für meine Gänsehäute von diesen absolut empfehlen kann: So im besten Sinne altmodisch haben mir in den letzten Jahren wenige Filme das Fürchten gelehrt.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

By Giulio Questi (2002-2006)

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Originaltitel: Doctor Shizo e Mister Phrenic / Lettera da Salamanca / Tatatatango / Mysterium Noctis / Repressione in citta' / Vacanze con Alice / Visitors

Produktionsland: Italien 2002-2006

Regie: Giulio Questi

Darsteller: Giulio Questi
Angeblich haben ihn Masken dazu inspiriert, die ihn eines Tages aus einem Schaufenster ansprachen. Was er mit ihnen anfangen solle, habe er nicht gewusst, sie aber trotzdem erstmal gekauft. Letztendlich führt dieser Spontankauf zu einem der großartigsten Alterswerke der Filmgeschichte. Der Mann nämlich, der auf die Kommunikationsversuche der Gummifratzen reagiert hat, ist Giulio Questi, Anfang der 2000er Jahre schon weit über Siebzig, und seit einer Weile nicht mehr im Filmgeschäft tätig, nachdem er in den späten 60ern, frühen 70ern eine Trilogie aus drei Spielfilmen auf die Leinwand brachte, und nach dem finanziellen Desaster seines magnum opus ARCANA ausschließlich fürs italienische Fernsehen arbeitete. Seine drei Kinofilme – SE SEI VIVO SPARA, LA MORTE HA FATTO L’UOVO und eben ARCANA – gehören für mich mit zum Entzückendsten, was die an Wundern nicht arme italienische Filmindustrie jemals hervorgebracht hat – und die Filme, die Questi ab 2002 bis zu seinem Tod 2014 (nahezu) ausschließlich mit sich selbst als einzigem Schauspieler, nahezu (ausschließlich) in den vier Wänden seiner eigenen Wohnung, und ausschließlich mit einer handelsüblichen Digitalkamera inszeniert, reihen sich nahtlos in sein überschaubares, aber Augen öffnendes Oeuvre ein. Auf DVD erschienen sind die ersten sieben seiner Videofilme. Titel der Sammlung: BY GIULIO QUESTI.

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Questis Konzept ist das eines absoluten Minimalismus. Zugleich aber auch das einer absoluten Freiheit. Questi hat sich, zumindest in seinen Kinofilmen, nie um Konventionen geschert. Wenn er einen Italowestern dreht, dann nur vordergründig – in Wirklichkeit geht es um eine Kulturgeschichte von Gier und Habsucht im Westerngewand. Wenn er einen Giallo dreht, dann nur vordergründig – in Wirklichkeit geht es um eine schmerzhafte Analyse des westlichen Turbokapitalismus. Wenn er einen Horrorfilm dreht, dann auch das nur vordergründig, um wie der Großmeister eines Arkan-Ordens Bewusstseinspforten zu öffnen, von denen wir nicht mal wussten, dass es sie gibt. Genauso ist es, wenn Questi zur Digi-Cam greift, und sich als Videokünstler neu erfindet. Es sind home videos, sicherlich. Man sieht ihnen ihre Produktionsbedingungen an. Das soll man aber auch. Das muss man aber auch. Questi improvisiert. Er setzt seine Kamera auf das Bodenputztuch seines Wischmobs, wenn er eine Fahrt auf Fußhöhe braucht. Er setzt seine Kamera auf einen Stuhl und den wiederum auf das Bodenputztuch seines Wischmobs, wenn er eine Fahrt auf Rumpfhöhe braucht. Er zieht sich verschiedene Masken auf. Längst bleibt es nicht mehr bei denen, die er sich zu Beginn gekauft hat. Er erzählt Geschichten. Geschichten, die abwechselnd absurd sind, oder tragisch, oftmals beides. Seine Psyche öffnet sich wie von selbst. Ein Mann am Ende seines Lebens macht dieses Leben rückblickend zum Kunstwerk.

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Die einzelnen Filme ähneln sich thematisch, strukturell. In seinem viertelstündigen home-video-Debut DOCTOR SHIZO E MISTER PHRENIC vom Juni 2002 ist eigentlich bereits alles angelegt, was Questi in späteren Arbeiten ausfeilen wird. Wir sehen ihn lesend, scheinbar den ganzen Tag, Gedichtbände, die sich in Regalen bis zur Decke stapeln. Borges liegt herum, Platon, was von Henry James. Frische Tomaten in einem Korb, seine Pfeife, eine VHS-Kassette von Max Ophüls LE PLAISIR. Zugleich: Ein Giallo-Killer dringt in sein Appartement ein. Schwarze Handschuhe hebeln das Türschloss auf. Wir begleiten den Gesichtslosen, während er Questis Privatsphäre erkundet. Natürlich POV, und natürlich mit den Handschuhen in Großaufnahme, wie sie tasten, zugreifen, Türen öffnen. Am Ende finden sie ein Messer. Questi ist gerade dabei, lautstark Gedichte zu deklamieren, wie im Rausch. Dann spritzt die Nudeltomatensauce in hohen Bögen bis zur Decke. Doktor Shizo tötet Mister Phrenic. Es ist Questi selbst, unter der Strumpfhosenmaske. Er habe den Typen, sich selbst, einfach nicht mehr ertragen können, regt sich furchtbar auf: Wie könne man Walter Whitman mit Sappho und Anacreon mixen! Das sei wie Äpfel und Orangen! Die Leiche bekommt einen Abschiedstritt von ihm. Am Ende ruft er die Polizei an. Sie sollen kommen, ihn zu holen. Der Abspann besteht lediglich aus zwei Informationen. Die Musik stammt von Orff und Mozart. Außerdem ist der Film made by Giulio Questi. Im Interview erklärt Questi, seine Videoarbeiten hätten mehr mit Handwerkskunst zu tun. Er sieht sich nicht mehr als Regisseur. Ein Regisseur, der muss viele lose Fäden zusammenhalten, koordinieren, dirigieren. Wie aber dirigiert man sich selbst? Trotzdem: Er hat eine Produktionsfirma gegründet, bestehend aus ihm selbst, und sonst niemandem. Er nennt sie La Solipso Film.

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Questis Filme sind Konfrontationen mit sich selbst, mit dem eigenen (Selbst-)Bild, mit der eigenen Vergangenheit, mit dem, was man sein wird, wenn man nicht mehr ist. Questis Filme sprühen so nur vor kreativen Ideen und einem Humor, der geschult ist am Absurden Theater wie am Surrealismus gleichermaßen. Es ist sein Privatuniversum, in das er uns entführt. Er erklärt uns die Regeln nicht, nach denen seine Welt funktioniert. Das müssen wir selbst herausfinden. In LETTERA DA SALAMANCA vom Dezember 2002, zwanzig Minuten lang, unterlegt von Beethoven, bekommt Questi Besuch von einer Art außerirdischem Wesen, das in monotoner elektronisch verzerrter Stimme spricht. Zeit und Raum geraten aus den Fugen: Am Ende betrachtet das Alien, das freilich niemand anderes ist als Questi selbst, dessen im Schlafzimmer aufgebahrte Leiche im Kerzenschein einer Totenwache. In MYSTERIUM NOCTIS vom April 2004, fünfunddreißig Minuten lang, unterlegt mit Berg und Schönberg, gerät die Ordnung der Dinge noch heftiger aus den Fugen. Es herrscht Stromausfall, seit geraumer Zeit schon. Im Kerzenschein wandert Questi in seiner Wohnung umher. Er kann nicht mehr essen, nicht mehr schlafen. Der Fernsehapparat spielt verrückt. Irgendwer oder irgendwas ist bei ihm. Die letzte Szene dürfte eine der surrealsten und aberwitzigsten sein, die Questi jemals gedreht hat. In drolligem Schlafanzug und Zeitlupe trägt er einen Stuhl auf seinem Kopf spazieren, auf dem wiederum eine Uhr sitzt. REPRESSIONE IN CITTÀ vom Februar 2005, fünfundvierzig Minuten lang, unterlegt mit Mozart und Bartók, könnte ein waschechter home-invasion-Thriller sein, wäre er nicht so bizarr. Zwei Typen, angeblich vom Stromwerk, tauchen bei Questi auf, machen ihn zum Gefangenen in seiner eigenen Wohnung, schneiden ihm schließlich ein Auge aus dem Kopf, worauf er den Verstand verliert. Ich muss vielleicht an dieser Stelle betonen: Questi leuchtet seine Filme superb aus. Er montiert sie wie ein Gott. Obwohl einzig er selbst zu sehen ist, wird spielerisch die Illusion erweckt, wir hätten es tatsächlich mit mehreren Darstellern zu tun. Allein deshalb sind Questis Filme pure Kinematographie. Ihre technische Seite ist makellos. Von ihrem Inhalt ganz zu schweigen. Ich lache über Questis kauzige Scherze, ich weine mit ihm, wenn er wunde Stellen seiner Seele entblößt, ich staune darüber, mit welcher Ehrlichkeit er sich in Szene setzt.

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In dem Ehebruchdrama TATATATANGO vom August 2003, vierzehn Minuten lang, unterlegt mit Musik von Carlos Gardel, beispielweise scheut Questi sich nicht, seinen nackten Körper in denkbar verblüffendster Weise zu zeigen. Inszeniert wird ein Techtelmechtel zwischen einer Blondine(n-Maske) und einem(/r) Macho(-Maske). Der Ehegatte ertappt die Treulose in flagranti, zückt seine Knarre. Am Ende ist Questis Wohnung einmal mehr ein Blutbad. Ein Inspektor und sein sidekick erscheinen, stellen fest: Unter jeder Maske ist das gleiche Gesicht, nämlich das Questis. Der Inspektor kratzt sich am Kopf: Offenbar hat der Mörder sich selbst gleich dreimal um die Ecke gebracht. Um zu illustrieren, was Blondine und Macho miteinander treiben, fasst Questi sich selbst am Hintern, am Oberschenkel an. Im fertigen Film sieht das dann so aus, als sei das eine fremde Hand die einen Frauenkörper tätschelt. Mehr noch: Questi klemmt sich den Penis zwischen die Beine, fährt mit dem Finger durch seine grauen Schamhaare, als stimuliere er eine Klitoris. Das wirkt nicht peinlich, nicht provokant. Es ist Teil einer Erzählung, der man anmerkt, dass sie darauf drängt, erzählt zu werden. Mit bescheidenen Mitteln, klar, oder womöglich nur wegen dieser bescheidenen Mitteln, weil sie anders gar nicht funktionieren würde. Einzig VACANZA CON ALICE vom September 2005, siebzehn Minuten lang, unterlegt mit Ravel, wirft das etablierte Konzept über Bord. Questi ist draußen, unter freiem Himmel. Er ist nicht allein. Pauline Mancini heißt das kleine Mädchen, dem er hinterherläuft wie Lewis Carrolls Alice ihrem Kaninchen. Caroll ist der Film dann auch gewidmet. Für Questi typisch endet er mit Mord und Totschlag. Das kleine Mädchen tötet diesmal den alten Mann. Woher kommt Questis Obesession, sich selbst sterben zu lassen?

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Ein Schlüsselwerk ist VISITORS vom März 2006, einundzwanzig Minuten lang, unterlegt mit Bartók. Als junger Mann hat Questi als Partisane im Zweiten Weltkrieg gekämpft. Er war Zeuge und Partizipant der schlimmsten Massaker. Der Verdacht liegt nahe, dass manche Szene in seinem Western SE SEI VIVO SPARA von dieser Zeit inspiriert ist. VISITORS widmet er seiner Generation. Einer Generation, die konfrontiert war mit dem sinnlosen Blutvergießen und dem erbitterten Hass des Krieges. VISITORS ist möglicherweise das persönlichste Werk, das Questi jemals gedreht hat. Für mich ist es auf jeden Fall zusammen mit ARCANA sein ergreifendstes. Auch diesmal erhält Questi Besuch, nur ist alles weniger verklausuliert, weniger abstrahiert. Seine Besucher, das ist eine Gruppe Faschisten, die er damals erschossen hat. Ihre Gesichter sind Schwarzweißphotographien, darüber Hüte. Sie erscheinen erst nachts. Bald fühlen sie sich sicherer, laufen auch bei Tag in seiner Stube herum. Questi flüchtet sich in den Alkohol. Es nutzt nichts: Die Vergangenheit zwingt ihn, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Er blättert in alten Heften, Zeitungen. Er weiß noch genau, wie jeder einzelne der Männer hieß, die durch seine Kugel starben. Was wollt ihr von mir? Sie erklären, sie hätten die Chance die Erde für immer zu verlassen. Ein Raumschiff warte auf sie. Das wäre die Erlösung. Nur: Besteigen können sie es erst, wenn es keinen Mensch auf Erden mehr gibt, der sich an sie erinnere. Questi sei der letzte dieser Menschen. Außerdem der, der sie getötet habe. Sie unterbreiten ihm ein Angebot, die ruhelosen Gespenster: Wieso tötet er sich nicht selbst, und kommt mit ihnen mit, hinauf ins Weltall? Questi sitzt allein an seinem Küchentisch, die geladene Waffe vor sich. Es hat mich zu Tränen gerührt, wie dieser Achtzigjährige sich auf zugleich verquere, vor allem aber unheimlich ehrliche und innovative Art und Weise mit seinen eigenen Dämonen, seinen Traumata, seinem schlechten Gewissen auseinandersetzt. Auf einmal wirkt es, als seien all diese home videos Teil eines großangelegten Exorzismus. Es hat Questi viele Umwege gekostet, doch am Ende ist er dort, wo er hatte hinwollen. Es ist, als seien all diese home videos Teil einer Therapie, die in Bilder packen und damit fixieren soll, was man sonst nicht mehr aushält. Es hat Questi viele Umwege gekostet, doch am Ende erzählt er mir das, was ihm am wichtigsten ist: Wie er an seinem Lebensabend auf das blickt, was nun hinter ihm liegt.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: L'Argent

Produktionsland: Frankreich 1983

Regie: Robert Bresson

Darsteller: Christian Patey, Vincent Risterucci, Caroline Lang, Sylvie Van Den Elsen
Manchmal ist eine gefälschte Banknote nur eine gefälschte Banknote. So im Falle von Norbert, dem seine wohlhabenden Eltern eine Extraportion Taschengeld verweigern. Was aber tun, wenn man bei einem befreundeten Schulbuben noch Schul-den hat, die beglichen werden wollen? Ein Klassenkamerad kommt mit einer Idee um die Ecke, die bereits teilweise in die Praxis übersetzt worden ist: Er hat einen Fünfhundert-Franc-Schein gefälscht, angeblich so perfekt, dass er mit bloßem Auge überhaupt nicht von einem echten zu unterscheiden sein soll. Der Plan: In irgendeinem beliebigen Geschäft das Falschgeld unter die Leute bringen, indem man irgendeinen beliebigen Artikel kauft, und das Restgeld untereinander auf-teilen. Die Wahl oder eher der Zufall fällt als Objekt ihres Täuschungsmanövers auf einen Photoladen an der Ecke. Die Verkäuferin, Gattin des Inhabers, ist misstrauisch. In letzter Zeit sind viele von den Dingern im Umlauf. Sie hält den Schein gegens Licht, sieht nichts Verdächtiges. Außerdem wirken die Schulbuben so unschuldig. Kaum ist ihr Gemahl abends zurück im Laden, erkennt er wie sehr seine bessere Hälfte übers Ohr gehauen worden ist. Im Haus haben will er das Falschgeld natürlich nicht, weswegen der nächstbeste Unschuldige mit der Blüte bestückt werden soll. Mittel hierzu wird der junge Mitarbeiter Lucien, bei dem es wenig Überzeugungsarbeit braucht, ihn gegen ein gewisses Entgelt für die gemeinsame Sündenbockschlachtung zu gewinnen. Bei diesem handelt es sich um den unbedarften Kraftstofflieferanten Yvon, dem man gleich nicht nur den einen Fünfhunderter als Bezahlung reicht, sondern ein ganzes Bündel, das sich mit der Zeit angesammelt hat. Kaum ist er in einem Restaurant essen, konfrontiert ihn der Kellner mit dem vermeintlichen Trugversuch. Es kommt zur Schlägerei, zur Verhaftung Yvons. Lucien behauptet, er habe Yvon nie gesehen. Yvon wird abgeführt, ihm wird der Prozess gemacht. Er endet nicht mit Freispruch. Luciens Schulter wird von der Hand seines Chef getätschelt: Wie gut er dem Richter mitten ins Gesicht lügen konnte!, und dafür habe er sich den Anzug verdient, den er schon immer haben wollte. Yvon ist ebenfalls gebrandmarkt. Sein Chef entlässt ihn. Nur seine Frau und seine kleine Tochter halten noch zu ihm. Doch wie sie ernähren? In einer Bar lernt er einen Kleinganoven erkennen. Alles, was er zu tun braucht, ist, erklärt dieser ihm, das Fluchtfahrzeug zu steuern…

Manchmal ist eine unbedachte Straftat nur eine unbedachte Straftat. Ihre Konsequenzen sind kontingent, von niemandem gewollt, trotzdem unerbittlich. Robert Bressons letzter Film L’ARGENT von 1983 fängt an wie ein Lausbubenstreich und endet in einem blutrünstigen Axtmord an einer ganzen Familie. Dazwischen spannt Bresson, ähnlich vielleicht wie in AU HASARD BALTHAZAR, ein ganzes Spektrum an unterschiedlichen Personen, Situationen, Schicksalen, die allesamt von dieser einen Fünfhundert-Franc-Note, die zwei Schuljungen fälschen und ausgeben, um ihr Taschengeld aufzustocken, berührt oder ausgelöst werden. Im Mittelpunkt all der sich manchmal gegenseitig befruchtenden, manchmal im Sande verlaufenden Entwicklungen steht diesmal kein Esel, sondern das Geld in all seinen Formen und Unformen. Als Schmiergeld – Lucien wird von seinem Chef quasi dafür bezahlt, dass er vor Gericht eine Falschaussage tätigt, um dessen Haut zu retten -, als Schweigegeld – Norberts Mutter steckt Luciens Chefin einen Umschlag zu, damit die ihren Jungen nicht als wahren Schuldigen verpfeift -, als Objekt der Begierde, an dem man seine intellektuelle und handwerkliche Kunstfertigkeit abarbeiten kann – so professionell und gewitzt wie Bressons Taschendieb in PICKPOCKET verschafft sich Lucien, der sich inzwischen einem elitären Gaunertrio angeschlossen hat, die Kreditkarten und Kennwörter von Bankautomatenkunden -, als Mittel, überhaupt sein Leben bestreiten zu können – nachdem Yvon in die soziale Isolation geraten ist, würde er alles tun, um die Ernährung seiner kleinen Familie sicherzustellen -, und nicht zuletzt als Störfaktor im System: Falschgeld, das ist doch im Grunde nichts weiter als ein Schädling, ein Parasit in einem selbstbezüglichen Kreislauf, bei dem nichts die primordiale Annahme, ein Stück bedrücktes Papier habe einen bestimmten Wert, der mit materiellen Gütern kongruent sei, unterminiert.

L’ARGENT zerfällt für mich in drei große Teile. Im ersten, dem oben beschriebenen, werden Ereignisketten gebildet, analysiert, illustriert, die damit enden, dass ein junger Familienvater erst in die Kriminalität, dann in den Knast getrieben wird. Nachdem der Film sich auf seine Person fokussiert hat, kann auch Bresson sich ganz darauf konzentrieren, den Zusammenbruch von Yvons Lebensglücks zu beobachten. Sein Kind verstirbt an Diphtherie. Seine Frau verlässt ihn. Er attackiert einen Mithäftling, landet in Isolationshaft. Er versucht sich umzubringen. Bresson bleibt seinem Stil treu. Falls es eine Legende ist, dass er in seiner Spätphase seine Laiendarsteller ein und dieselbe Szene so oft hat wiederholen lassen, bis ihre Gesten, Mienen, Stimmen keine Spurenelemente echter Emotionen mehr zeigten, ist es eine klug ausgedachte. Es stimmt: Bressons Darsteller sind keine Charaktere, nicht wirklich Menschen, agieren wie Automaten, und zwar welche, die man mit Valium ruhiggestellt hat. Schön verfolgen kann man ihre Verwandlung von Bühnendarstellern zu Schaufensterpuppen in den vierzig Dekaden, die Bressons Spielfilmkarriere dauerte. Er beginnt 1943 in LES ANGES DE PÉCHÉS noch mit ausgebildeten Schauspielern, wechselt sie ab JOURNAL D’UN CURÉ DE CAMPAGNE (1950) gegen welche aus, die entweder noch kaum Erfahrung haben oder gar keine sind, weil er sie quasi von der Straße weggecastet hat, und arbeitet dann unermüdlich daran, ihr vorhandenes oder nicht vorhandenes Spiel unter dem Brennglas der Reduktion immer weiter auszudünnen.

Das geht freilich aber auch einher mit einer sukzessiven Reduktion und Ent-Emotionalisierung aller übrigen Bestandteile eines kommerziellen Spielfilms. Bressons Geschichten sind keine wirklichen Geschichten, sondern Fragmente, Einzelaufnahmen, Versuchsanordnungen loser Teile, die so oder auch ganz anders zueinander hätten finden können, schon immer, doch in UN CONDAMNÉ À MORT S’EST ÉCHAPPÉ (1956) und PICKPOCKET (1959) gibt es noch einen personalen Erzähler, der die Bilder ordnet, strukturiert, kommentiert, in LANCELOT DE LAT (1974), dieser ermüdenden Dekonstruktion des Arthus-Mythos, oder LE DIABLE PROBABLEMENT (1977), dieser ermüdenden Suizid-Begleitung in tristen Bildern, sind wir letztlich auf niemand anderes angewiesen, falls wir die wahllos, schmucklos, sinnlos wirkenden Bilder irgendwie codieren wollen, außer uns selbst. Bressons Kamera ist distanziert, seine Bildsprache ist kalt, materiell. Der Philosoph Vilém Flusser schreibt, es gebe kein Denken, das nicht durch eine Geste artikuliert würde. Das Denken vor der Artikulation sei nur eine Virtualität, also nichts. Es realisiere sich erst durch die Gesten. Bresson internalisiert einen solchen Materialismus mehr und mehr. Wenn der Kellner Yvon mit den Blüten konfrontiert, und der sich zu Unrecht beschuldigt sieht, und ausrastet, zeigt Bresson uns einzig und allein seine Hände in Großaufnahmen und die Beine des Kellners. Ersteres stoßen zu – Schnitt – und letztere stürzen zu Boden. Daher ist Bresson, so verkopft es auf den ersten Blick scheinen mag, was er da als absolut idiosynkratisches Universum auf Zelluloid gebannt hat, alles andere als jemand, der sich selbst oder andere gern reden hört, kein Rohmer, kein Godard, und schon gar niemand, der mit kinematographischen Konventionen, Codes und Mythen hintersinnige Spiele treibt wie Truffaut oder Chabrol. Es hat vielmehr schon fast etwas Mönchisches, wenn er selbst die Musik mehr und mehr aus seinen Filmen verbannt. Früher enden seine Filme, wie MOUCHETTE (1967) oder AU HASARD BALTHAZAR noch mit all die über die gesamte Laufzeit unterdrückten, eingeschnürten Emotionen entladenden Szenen voller ergreifender Klassikklänge von Monteverdi oder Schubert oder Bach. PICKPOCKET wird fast schon versöhnlich-verspielt, weil andauernd Lully ertönt. Spätestens mit LE DIABLE PROBABLEMENT ist auch damit Schluss. Extradiegetische Musik bekommt keinen Zutritt mehr in Bressons Filme. Der junge Suizidant läuft an einem offenen Fenster vorbei, hört kurz zu, läuft weiter, lässt sich erschießen, Schwarzblende: FIN.

Während Bresson diesen seinen Stil aber im Vorgängerfilm bis zum Extrem getrieben hat, ist L’ARGENT fast schon rasant im Vergleich. In enorm hohen Tempo verfolgt Bresson wie Hände Geldscheine tauschen, wie Gesichter erstarren, wie Personen sich begegnen, sich verlieren, wie die Gesetzesmühlen mahlen. Seine Bilder sind präzise, innovativ darin, dass sie nach keiner Ästhetik suchen, die seinen unverblümten Realismus in irgendeiner Weise schmälern oder abfedern könnte. Das kennt man schon. Bresson hat die Arme verschränkt und steht mit dem Rücken zum Publikum. Er sagt: Ich will keine Metaphern, keine Symbole, nur Indexe, und die sind so schlicht wie ein Ladenschaufenster, eine Gefängniszellentür, ein handschriftlich verfasster Brief. Manchmal ist das alles nur das, was es zu sein vorgibt, sagt er. Auch das kennen wir schon, dass seine Welt eine voller Töne ist: Das Schlurfen der Schritte in den Gefängnisfluren, das Rascheln von Banknoten zwischen Fingern, die Abgasproduktion von Autos. Für ihn, scheint es mir mehr und mehr, ist nichts eine Metapher, alles reines Zeichen. Eine Banknote ist eine Banknote. Ein Suppenlöffel ist ein Suppenlöffel. Eine Axt ist eine Axt. Man kann kaum glauben, dass das alles arrangiert und inszeniert sein soll, was einem da als ein Leben entgegentritt, das so banal ist wie das, das man selbst kennen würde, wenn man nicht, wie ich, alles daran setzte, es zu einem wie in einem Film von Truffaut werden zu lassen.

Dabei ist Bresson aber zu keinem Zeitpunkt zynisch oder gar grausam. L’ARGENT hat Momente voller Intimität, voller Zärtlichkeit, jedoch ohne in Melodramatik oder gar Mitleid abzugleiten. Yvon erhält einen knappen Brief, in dem seine Frau sich von ihm trennt. Er liegt auf dem Boden seiner Zelle. Eine Hand schiebt sich ins Bild. Sie gehört einem Zellennachbarn. Der zieht das Papier zu sich heran, liest seinen Inhalt mit einem zweiten Knastbruder zusammen am Fenster. Danach legt er es an Ort und Stelle zurück. Erst jetzt zeigt uns die Kamera Yvon wie er, das von Tränen aufgequollene Gesicht im Kissen, auf seiner Pritsche liegt. Mehr ist nicht zu sagen, nicht zu zeigen. Eine andere großartige Szene: So basal, so unaufgeregt und zugleich so elektrisierend muss man erst einmal einen Banküberfall und eine anschließende Autoverfolgungsjagd quer durch Paris filmen – mit Schüssen im Off, mit vielen kleinen falschen Entscheidungen wie zu früh den Motor zu starten, mit Reifen, die ganz anders quietschen als man das aus normalen Actionfilmen oder den Meta-Filmen von Truffaut oder Godard kennt. Außerdem: So erschütternd muss man erst einmal einen Axtmord an mindestens vier Menschen auf die Leinwand bringen, ohne dabei tatsächlich eine Gewalttat vorzuführen. Nein, Bresson hat nicht einfach nur ein Drehbuch verfilmt. Er kommt uns mit Szenen, die wir in unserem Kopf selbst zu einem Drehbuch zusammensetzen müssen. Das klingt prätentiös, und möglicherweise ist es das für manchen auch. Vor allem aber ist es ein Kino so rein wie eine naiv vorgetragene Heiligengeschichte, die nichts weiß von dramaturgischen Kniffen, von politischen Agenden, von Humor, Spannung. Es ist einfach nur dieser schlichte Gestus: So ist es gewesen. Bresson ist vielleicht der größte Ökonom der Filmgeschichte. Ihm würde ich meinen Haushalt anvertrauen.

Damit wären wir dann auch bei dem dritten Teil von L’ARGENT, dem in dem alles, wie so oft bei Bresson, in einer nun wirklich veritablen Hagiographie kulminiert. Yvon ist frei. Er kann tun und lassen, was er will. Nur was soll man tun und lassen, und was will man überhaupt, wenn das eigene Kind tot ist, die Frau fort, der Ruf ruiniert, ein großes Unrecht, das an einem verübt wurde, über einem hängt wie eine Gewitterwolke? Yvon mietet sich in einem Hinterhofhotel ein. Nachts tötet er den Besitzer und seine Tochter. Nicht wegen des Geldes. Das spielt inzwischen keine Rolle mehr. Er tut es einfach nur, weil er tun und lassen kann, was er will. Trotzdem, der Griff in die Kasse muss sein, und die Scheine werden verjubelt, und danach einer alten Frau hinterhergestellt, die er dabei beobachtet, wie sie eine große Summe von der Bank abholt. Diese Frau aber ist eine Heilige. Nicht nur metaphorisch, sondern ganz im Ernst: Sie lebt auf dem Land, ausgenutzt, manchmal sogar geschlagen von ihren Verwandten, arbeitend Tag für Tag, wie ein Esel, für kein bisschen Lob, sich um fremde Kinder kümmernd, eigentlich nur darauf wartend, dass der Tod sie holt. Sie nimmt Yvon bei sich auf. Er wohnt in der Scheune. Da alles Fragment ist, müssen wir uns alles denken: Was in ihm vorgeht, was in ihr vorgeht. Sein Blick fällt auf eine Axt, die einsam in der Scheunenecke steht. Jetzt endlich gibt es übrigens erstmals Musik. Ein Alkoholiker, ihr Vater, spielt Bach am Klavier. Ihm fällt das Weinglas herunter. Ohne sich darum zu kümmern, laufen die Finger weiter über die Tasten. Die Alte hat schon längst den Kehrbesen geholt.

Eigentlich ist das allein ja schon ein Wunder, oder nicht? Da widmet ein Regisseur sich seit Mitte der 40er Jahre einem Konzept, das vorsieht, dass ein Film zerstückelt werden soll in rein materielle Zeichen, ohne Transportwege für Leidenschaften, Klischees, Affekte und Effekte, und diese dann auch noch so anordnet, als habe der Zufall selbst sie wie bei einem Würfelspiel völlig sinnlos zusammenpurzeln lassen, und daraus resultieren dann am laufenden Band – ich nenne nur einmal: JOURNAL D’UN CURÉ DE CAMPAGNE, AU HASARD BALTHAZAR und MOUCHETTE – zutiefst menschliche Darstellungen moderner Heiliger – ein asketischer Priester, ein Eselchen, ein junges Mädchen -, die, mit allen Kreuzen der Welt beladen, für uns auf der Leinwand leiden, um uns zu erlösen. L’ARGENT ist da gewissermaßen die konsequente Weiterschreibung (vielleicht auch der konsequente Endpunkt) einer Traditionslinie. Nicht nur treffen Satan und Christus im Finale vorliegenden Films endlich aufeinander, zugleich sind beide aus einem ähnlichen Holz, nämlich der der Schuldenlast, geschnitzt: Der eine unfreiwillig, der andere freiwillig. Wenn Yvon wie ein Poe’scher Held am Ende der Polizei all seine Untaten kaltblütig gesteht, ist das wie der besonders aufwühlende Schluss einer modernen Bergpredigt: Wir machen uns alle irgendwann schuldig, und alles, was wir tun können, ist, unsere Hände eben nicht allzu schnell ins Unschuldsbecken zu tunken.

Zusammen mit MOUCHETTE und nach AU HASARD BALTHAZAR ist L’ARGENT wohl der Bresson-Film, der mich bislang am meisten berührt hat. Noch jetzt schwelge ich in den Großaufnahmen von Händen, von falschen und echten Banknoten, von zu Stein erstarrten Allerweltsgesichtern, und in den vielen Zeilen, und dem, was dazwischen schlummert.
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