Capricci - Carmelo Bene (1969)
Verfasst: Mo 4. Jul 2016, 23:20
Originaltitel: Capricci
Produktionsland: Italien 1969
Regie: Carmelo Bene
Darsteller: Carmelo Bene, Anne Wiazemsky, Tonino Caputo, Ornella Ferrari, Giovanni Davoli
Mit sechzehn oder siebzehn bin ich in den Besitz von Amos Vogel FILM AS SUBVERSIVE ART gelangt. Erschienen ist das Buch erstmals 1974, in Deutschland erst 1979 unter dem Titel KINO WIDER DIE TABUS. Eine Zeitlang war dieses Werk, in dem der New Yorker Cineast, Filmclubbegründer und Kurator die für ihn wichtigsten subversiven Filme von Anbeginn der Kinematographie bis in die 70er hinein unter Oberbegriffen wie Tod, Pornographie oder Blasphemie gesammelt hat, wie eine Bibel für mich. Nicht nur, dass es mich mit der Nase auf Filme stieß, die ich bislang gar nicht auf dem Radar hatte, auch machte es mich, zumindest schriftlich, mit Werken vertraut, über die ich bis heute sonst nirgendwo irgendwelche anderen Informationen gefunden habe als die, die Vogel anbietet, fast so, als sei er der einzige Mensch auf Erden, der solche interessant klingenden Filme wie THE END OF ONE von Paul Kocela, der angeblich das langsame Sterben einer Seemöwe zeigt, oder THE MAN FROM ONAN von Alan Ruskin, in dem ein Mädchen sich sexuell mit Haushaltsgeräten befriedigen soll, überhaupt gesehen hat. Einer der Filme, die ich damals ganz oben auf meine Wunschliste setzte, trägt den schönen Namen CAPRICCI. Vogel schreibt über Regisseur Bene im Kapitel zu Ästhetischen Rebellen: „Begründer eines der berühmtesten experimentalen Theater Italiens, Poet, Schauspieler, Dramatiker und führender Avantgardist, ist Carmelo Bene ein unbekanntes Genie des zeitgenössischen Films. Dieses ist eines seiner Meisterwerke. Benes Filme sind visuelle, lyrische und auditive Sintfluten mit Ausbrüchen wie Lava, deren halluzinatorische Perversion ihresgleichen sucht. Ihre visuelle Dichte und ihr schöpferischer Überschwang spotten der Beschreibung.“ Rechts von dieser Lobhudelei ist in meiner Ausgabe ein Screenshot aus CAPRICCI abgedruckt. Eine Frau und ein Mann liegen nebeneinander im Bett. Sie ist jung, hübsch, hat die Arme überm Kopf verschränkt, die rechte Brust ist entblößt. Er ist uralt, ein Leichnam beinahe, hat zerzaustes Haar, einen komplett entblößten Brustkorb, und den Mund weit offen, wohl weil er schnarcht. Beide scheinen tief und fest zu schlafen. Irgendwas an dem Bild affizierte mich so sehr, dass ich an allen möglichen und unmöglichen Orten nach diesem Film suchte – und ihn nirgends finden konnte. Bis heute jedenfalls.
Der 1937 geborene Carmelo Bene gehört wohl zu den am lautesten polternden enfants terribles der italienischen Theaterszene in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Nachdem er Albert Camus überzeugt hatte, ihm kostenlos die Rechte an seinem Stück CALIGULA abzutreten, und nachdem er in diesem 1959 zum ersten Mal vor einer breiteren Öffentlichkeit als Schauspieler in Erscheinung getreten ist, der seine, zumeist klassischen, Rollen konsequent gegen den Strich bürstet, entwickelte er in den Folgejahren als Regisseur und Akteur eine eigenwillige, respektlose, bewusst kitschige, bewusst trashige, vor allem für ein bürgerliches Publikum extrem subversive Theaterform, deren Hauptziel es wohl gewesen sein dürfte, den Betrachter bis zu den Grenzen des Aushaltbaren zu führen – und darüber hinaus. Artaud ist, wenig verwunderlich, sein erklärtes Vorbild. Außerdem mag er klassische italienische Opern, den ganzen Pathos, der damit verbunden ist, religiösen Kitsch und Godards PIERROT LE FOU. Die Inspiration des letzteren ist es vielleicht, die ihn in den Jahren zwischen 1968 und 1974 der Bühne abspenstig macht und ihn sich als Experimentalfilmregisseur versuchen lässt. Fünf Filme entstehen in dieser Zeit. Es sind: NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI (1968), CAPRICCI (1969), DON GIOVANNI (1971), SALOME (1972) und UN AMLETO DI MENO (1973). Einige der Titel lassen schon erahnen: Auch hier sind es Stoffe der Bühnentradition, die Bene zerfleddert, um über die Dekonstruktion sein Publikum mit irgendeiner abstrakten Form von Wahrheit zu konfrontieren. Außerdem tritt er weiterhin als Schauspieler auf: in den eigenen Produktionen, aber auch bei anderen. Man sieht ihn in Franco Brocanis NECROPOLIS (1970), in Pasolinis EDIPOE RE (1967), in Piero Zuffis COLPO ROVENTE (1970). Natürlich laufen seine Filme vorrangig auf Arthouse-Festivals, in Programmkinos, in Kunstgalerien. Nach 1974 wendet er sich wieder ausschließlich dem Theater zu, und macht weiter wie bisher: Hamlet, Don Giovanni, Macbeth müssen weiter Federn lassen, sein Publikum leiden. Er schreibt nebenbei Romane, zwei Autobiographien, arbeitet fürs Radio, fürs Fernsehen, stirbt 2002 in Rom.
Auf der Radierung ist eine gedrungene, ziemlich feiste Gestalt zu sehen. Sie trägt einen Schlapphut mit viel zu breiter Krempe, verziert mit zwei Federn, einen Wamst, Stiefel, und offenbar eine Maske, die das Gesicht eines alten Mannes vorstellen soll. Es handelt sich um einen Geigenspieler, das Instrument in der Rechten, mit der Linken den Bogen führend, jedoch nicht zu den Saiten schauend, sondern nach rechts, über den Rand der Radierung hinweg. Auf einer anderen Radierung sind die Schrecken des Krieges dargestellt, irgendeines Krieges, keines speziellen. Palisaden, Zelte, Soldaten säumen den Hintergrund. Den Vordergrund nimmt ein Baum ein, der kurzerhand zu einem Galgen umfunktioniert worden ist. Zahllose Männer baumeln bereits an ihm, mit schlaffen Armen, schlaffen Beinen. Einer wird gerade aufgeknüpft. Der Henker steht am oberen Ende einer Leiter, der Delinquent scheint sein Schicksal wehrlos hinzunehmen, ein Priester hält ihm das Kreuz hin. Auf der dritten Radierung sehen wir eine Theatersituation. Links und rechts sind die Reihen voller Besucher, die, je weiter von uns entfernt sie sich befinden, desto mehr zu einer zusammenhängenden Masse verschmelzen. Die Bühne, geformt wie eine Zunge vielleicht oder ein Rochen, bleibt vergleichsweise leer, mit großen Abständen zwischen den einzelnen Tänzern, die dort, scheint es, ausgelassen ihre Kreise ziehen. Weiter hinten ist eine Kulisse zu erkennen: ein künstlicher Wald, ein künstlicher Himmel, eine Welt, die es so gar nicht gibt. Jacques Callot (1592-1635), von dem all diese Radierungen stammen, hat für eine dem Herzog Cosimo II. de‘ Medici gewidmete Serie den Begriff Capricci geprägt. Der ist allerdings schon wesentlich älter. Man findet ihn bereits bei dem Künstlerbiograph und Kunsthistoriker Giorgio Vasari (1511-1574), der unter Capricci all das versteht, was dem Kunstverständnis seiner Zeit zuwiderläuft: das Groteske, das Profane, das Vulgäre, das ungeschönt Schreckliche. Literarisch begegnen wir dem Capriccio bei E.T.A. Hoffmann (1776-1822), der sich mit seinen FANTASIESTÜCKEN (1814/15) ausdrücklich auf Callot bezieht, oder bei Ernst Jünger (1895-1998), der den vielleicht einzigen surrealistischen Text der Deutschen Literatur, DAS ABENTEUERLICHE HERZ (1938), in einzelne Capricci unterteilt. Auch die Musik hat das Wort, dessen Etymologie nicht abschließend geklärt ist – die gängige Meinung ist, es solle aus dem Italienischen übersetzt so etwas heißen wie „launenhafter Mensch“ -, adaptiert. Wenn Bach, Beethoven oder Pagagnini Capricci schreiben, dann meinen sie damit scherzhaft-verspielte Stücke, die unabhängig sind von klar definierten musikalischen Formen wie beispielweise dem Regelwerk einer Symphonie oder einer Sonate.
Zwei Künstler sind in ihrem Alter unter anderem damit beschäftigt, Fische – sind das Makrelen? – mit Farbe zu betupfen, während ein alter, ausgemergelter Mann in Christuspose ihnen Modell steht. Scheinbar grundlos entbrennt ein Streit zwischen den beiden, der in einer extrem gewalttätigen Schlägerei gipfelt, in der sie sich – wie sinnig! – mit Hammer und Sichel bekämpfen. Einer von ihnen, Carmelo Bene höchstpersönlich, finden wir daraufhin in einem eigenartigen Subplot wieder, wo er – erneut scheinbar grundlos – Autos zu Schrott fährt. Manche von ihnen explodieren, andere sind voller blutiger Verkehrsunfallopfer. Anne Wiazemsky wohnt diesem Spektakel bei und ist scheinbar grundlos völlig angetan von dem Rüpel, der ihr mit einem Augenzwinkern zu verstehen gibt, dass er gerne ihr Clyde sein würde, wenn sie seine Bonnie wird. Ein extrem schnarchender Greis stiehlt sich mit einem anderen Alten aus einer Wohnung davon, in der er neben einer nackten Frau erwacht ist. Seine eigene Frau bringt ihnen ebenfalls splitterfasernackt das Abendessen. Dabei wiederholen die beiden gebetsmühlenartig und scheinbar grundlos die immer gleichen sinnleeren Sätze. Aus dem Off ertönen Ratschläge für angehende Spitzenköche und ein Beitrag zum Modemagazin Elle. Die Frau des einen Herrn wird scheinbar grundlos bei lebendigem Leibe angezündet, um ihr irgendwelche sinnleeren Geständnisse abzupressen. Dann sind wir plötzlich in einem Western-Saloon, wo es der andere der beiden Alten mit echten Cowboys zu tun bekommt, die ebenfalls scheinbar grundlos gebetsmühlenartig die immer gleichen sinnlosen Sätze wiederholen. Wiazemsky und Bene haben indes noch mehr Autos zu Schrott gefahren. Per Kranfahrt zeigt die Kamera uns die Verwüstungen: Autowracks, Blutlachen, explodierende Fahrzeuge, Stichflammen. Hysterisch lachend purzeln Wiazemsky und Bene scheinbar grundlos in einem dieser Wracks herum. Ein vorbeikommender Polizist stimmt einfach mit ein. Dann gibt es einen Endlos-Monolog eines der Greise, der seiner Frau vorwirft, eine Hure zu sein, ihn zu betrügen und auszunehmen. Ein Transvestit trägt einen Mann ohne Gliedmaßen durch eine belebte Straße. Eine Frau reißt sich die Kleider vom Leib, beginnt scheinbar grundlos zu tanzen, und gibt Bene Gelegenheit, mehrere Aufnahmen übereinander zu legen, sodass wir schließlich keins der Bilder mehr konkret erkennen können. Am Ende explodieren noch mehr Autos, und Bene und Wiazemsky robben zwischen weiteren Leichen und Blutlachen umher. Reiter ganz in Rot wie zu einer Fuchsjagd erscheinen scheinbar grundlos und verzieren den Abspann mit grellen Farben.
Auf dem Papier klingt es wirklich wunderbar: Bene nimmt sich einen Text vor, entweder klassisches Theatermaterial oder etwas Selbstverfasstes, und beginnt ihn systematisch zu dekonstruieren, sodass am Ende bloß kontextlose Fragmente übrigbleiben, die er dann von Schauspielern physisch ausagieren lässt, denen so ziemlich alles abverlangt wird von Nacktszenen über Schockszenen bis hin zu endlosem schrillen Gelächter oder vollkommen überzogenen Anfällen purer Hysterie. Das alles wird dann auf der Tonebene noch mit szenenfremden Sounds versehen oder mit überlauter Opernmusik. Das alles wird dann ästhetisch gekleidet in billig wirkende Handkameraaufnahmen oder knallbunte Sets, die selbst einem Douglas Sirk zu kitschig gewesen wären. Das alles wird dann noch zusätzlich verkompliziert durch im wahrsten Wortsinne sinnlose Dialoge, Verfremdungseffekte oder Gewaltexzesse. Im Falle von CAPRICCI dürfte das eine große Vorbild klar erkennbar sein. Autofriedhöfe, Crashs am laufenden Band bzw. deren Endergebnisse – wer würde da nicht sowohl an PIERROT LE FOU als auch natürlich an WEEK END denken? Hinzukommt, dass Bene Godard für CAPRICCI sogar seine damalige Lebensgefährtin Wiazemsky ausgespannt hat. Doch muss man sagen: im Vergleich zu einem unbarmherzigen Chaos wie CAPRICCI wirken selbst die Werke Godards aus den späten 60ern wie völlig lineare, nachvollziehbare, logische Spielfilme der alten Schule. Möglicherweise möchte Bene viel Kluges sagen über den Zustand der italienischen Gesellschaft, über Kapitalismus und Kommunismus, über die Rolle von Sex in den Medien, über die Möglichkeit, Theater und Leben miteinander zu verbinden, und möglicherweise muss man sehr viel gelesen haben oder ein Kind der 68er sein oder mit Bene schon mal mehr als einen langen intellektuellen Abend verbracht haben, um dieses Genie annähernd begreifen zu können, doch für mich sieht CAPRICCI, den euphorischen Worten eines Amos Vogel zum Trotz, schlicht aus wie ein Film, der kein Maß kennt, kein Ziel hat, keine Botschaft transportiert, und nur eins will: mir den wirklich allerletzten Nerv zu rauben.
Ich habe fast alles von Godard gesehen. Ich kann über die Frühwerke eines Christoph Schlingensief herzhaft lachen. Ich mag es abgöttisch, wenn Zulawski seine Schauspieler von einem hysterischen Exzess in den nächsten hetzt. Mich stört es kein bisschen, wenn ein Film keine nacherzählbare Handlung hat. Mich stört es nicht mal, wenn er mir mit einer Geste der Sperrigkeit oder der Coolness brüsk den Rücken zuwendet, um mich auf Distanz zu halten. All das tut CAPRICCI zwar, doch in einem Ausmaß, das selbst meine Toleranzgrenze mit Siebenmeilenstiefeln überschritten hat. Dieser Film ist ein wahres Monstrum, eine Komposition aus allem, was dazu dienen kann, einen in den Wahnsinn zu treiben. Um ehrlich zu sein, habe ich schon wirklich sehr lange keinen derart anstrengenden Film mehr wie vorliegenden gesehen – einen Film, der sich benimmt wie ein kleines Kind, auf das man den mit einem befreundeten Eltern aufzupassen versprochen hat, und das sich dann, sobald die Rücklichter von Mamas und Papas Auto vom Abend verschluckt worden sind, als Satansbraten entpuppt, der einem die Hölle auf Erden bereitet. Ich kann dieses Werk nur jedem empfehlen, der aufsteigen möchte in die Gilde der allerhartgesottensten Cineasten. Viel schlimmer als hier kann es wohl wirklich nicht mehr werden. Oh mein Gott...
Der 1937 geborene Carmelo Bene gehört wohl zu den am lautesten polternden enfants terribles der italienischen Theaterszene in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Nachdem er Albert Camus überzeugt hatte, ihm kostenlos die Rechte an seinem Stück CALIGULA abzutreten, und nachdem er in diesem 1959 zum ersten Mal vor einer breiteren Öffentlichkeit als Schauspieler in Erscheinung getreten ist, der seine, zumeist klassischen, Rollen konsequent gegen den Strich bürstet, entwickelte er in den Folgejahren als Regisseur und Akteur eine eigenwillige, respektlose, bewusst kitschige, bewusst trashige, vor allem für ein bürgerliches Publikum extrem subversive Theaterform, deren Hauptziel es wohl gewesen sein dürfte, den Betrachter bis zu den Grenzen des Aushaltbaren zu führen – und darüber hinaus. Artaud ist, wenig verwunderlich, sein erklärtes Vorbild. Außerdem mag er klassische italienische Opern, den ganzen Pathos, der damit verbunden ist, religiösen Kitsch und Godards PIERROT LE FOU. Die Inspiration des letzteren ist es vielleicht, die ihn in den Jahren zwischen 1968 und 1974 der Bühne abspenstig macht und ihn sich als Experimentalfilmregisseur versuchen lässt. Fünf Filme entstehen in dieser Zeit. Es sind: NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI (1968), CAPRICCI (1969), DON GIOVANNI (1971), SALOME (1972) und UN AMLETO DI MENO (1973). Einige der Titel lassen schon erahnen: Auch hier sind es Stoffe der Bühnentradition, die Bene zerfleddert, um über die Dekonstruktion sein Publikum mit irgendeiner abstrakten Form von Wahrheit zu konfrontieren. Außerdem tritt er weiterhin als Schauspieler auf: in den eigenen Produktionen, aber auch bei anderen. Man sieht ihn in Franco Brocanis NECROPOLIS (1970), in Pasolinis EDIPOE RE (1967), in Piero Zuffis COLPO ROVENTE (1970). Natürlich laufen seine Filme vorrangig auf Arthouse-Festivals, in Programmkinos, in Kunstgalerien. Nach 1974 wendet er sich wieder ausschließlich dem Theater zu, und macht weiter wie bisher: Hamlet, Don Giovanni, Macbeth müssen weiter Federn lassen, sein Publikum leiden. Er schreibt nebenbei Romane, zwei Autobiographien, arbeitet fürs Radio, fürs Fernsehen, stirbt 2002 in Rom.
Auf der Radierung ist eine gedrungene, ziemlich feiste Gestalt zu sehen. Sie trägt einen Schlapphut mit viel zu breiter Krempe, verziert mit zwei Federn, einen Wamst, Stiefel, und offenbar eine Maske, die das Gesicht eines alten Mannes vorstellen soll. Es handelt sich um einen Geigenspieler, das Instrument in der Rechten, mit der Linken den Bogen führend, jedoch nicht zu den Saiten schauend, sondern nach rechts, über den Rand der Radierung hinweg. Auf einer anderen Radierung sind die Schrecken des Krieges dargestellt, irgendeines Krieges, keines speziellen. Palisaden, Zelte, Soldaten säumen den Hintergrund. Den Vordergrund nimmt ein Baum ein, der kurzerhand zu einem Galgen umfunktioniert worden ist. Zahllose Männer baumeln bereits an ihm, mit schlaffen Armen, schlaffen Beinen. Einer wird gerade aufgeknüpft. Der Henker steht am oberen Ende einer Leiter, der Delinquent scheint sein Schicksal wehrlos hinzunehmen, ein Priester hält ihm das Kreuz hin. Auf der dritten Radierung sehen wir eine Theatersituation. Links und rechts sind die Reihen voller Besucher, die, je weiter von uns entfernt sie sich befinden, desto mehr zu einer zusammenhängenden Masse verschmelzen. Die Bühne, geformt wie eine Zunge vielleicht oder ein Rochen, bleibt vergleichsweise leer, mit großen Abständen zwischen den einzelnen Tänzern, die dort, scheint es, ausgelassen ihre Kreise ziehen. Weiter hinten ist eine Kulisse zu erkennen: ein künstlicher Wald, ein künstlicher Himmel, eine Welt, die es so gar nicht gibt. Jacques Callot (1592-1635), von dem all diese Radierungen stammen, hat für eine dem Herzog Cosimo II. de‘ Medici gewidmete Serie den Begriff Capricci geprägt. Der ist allerdings schon wesentlich älter. Man findet ihn bereits bei dem Künstlerbiograph und Kunsthistoriker Giorgio Vasari (1511-1574), der unter Capricci all das versteht, was dem Kunstverständnis seiner Zeit zuwiderläuft: das Groteske, das Profane, das Vulgäre, das ungeschönt Schreckliche. Literarisch begegnen wir dem Capriccio bei E.T.A. Hoffmann (1776-1822), der sich mit seinen FANTASIESTÜCKEN (1814/15) ausdrücklich auf Callot bezieht, oder bei Ernst Jünger (1895-1998), der den vielleicht einzigen surrealistischen Text der Deutschen Literatur, DAS ABENTEUERLICHE HERZ (1938), in einzelne Capricci unterteilt. Auch die Musik hat das Wort, dessen Etymologie nicht abschließend geklärt ist – die gängige Meinung ist, es solle aus dem Italienischen übersetzt so etwas heißen wie „launenhafter Mensch“ -, adaptiert. Wenn Bach, Beethoven oder Pagagnini Capricci schreiben, dann meinen sie damit scherzhaft-verspielte Stücke, die unabhängig sind von klar definierten musikalischen Formen wie beispielweise dem Regelwerk einer Symphonie oder einer Sonate.
Zwei Künstler sind in ihrem Alter unter anderem damit beschäftigt, Fische – sind das Makrelen? – mit Farbe zu betupfen, während ein alter, ausgemergelter Mann in Christuspose ihnen Modell steht. Scheinbar grundlos entbrennt ein Streit zwischen den beiden, der in einer extrem gewalttätigen Schlägerei gipfelt, in der sie sich – wie sinnig! – mit Hammer und Sichel bekämpfen. Einer von ihnen, Carmelo Bene höchstpersönlich, finden wir daraufhin in einem eigenartigen Subplot wieder, wo er – erneut scheinbar grundlos – Autos zu Schrott fährt. Manche von ihnen explodieren, andere sind voller blutiger Verkehrsunfallopfer. Anne Wiazemsky wohnt diesem Spektakel bei und ist scheinbar grundlos völlig angetan von dem Rüpel, der ihr mit einem Augenzwinkern zu verstehen gibt, dass er gerne ihr Clyde sein würde, wenn sie seine Bonnie wird. Ein extrem schnarchender Greis stiehlt sich mit einem anderen Alten aus einer Wohnung davon, in der er neben einer nackten Frau erwacht ist. Seine eigene Frau bringt ihnen ebenfalls splitterfasernackt das Abendessen. Dabei wiederholen die beiden gebetsmühlenartig und scheinbar grundlos die immer gleichen sinnleeren Sätze. Aus dem Off ertönen Ratschläge für angehende Spitzenköche und ein Beitrag zum Modemagazin Elle. Die Frau des einen Herrn wird scheinbar grundlos bei lebendigem Leibe angezündet, um ihr irgendwelche sinnleeren Geständnisse abzupressen. Dann sind wir plötzlich in einem Western-Saloon, wo es der andere der beiden Alten mit echten Cowboys zu tun bekommt, die ebenfalls scheinbar grundlos gebetsmühlenartig die immer gleichen sinnlosen Sätze wiederholen. Wiazemsky und Bene haben indes noch mehr Autos zu Schrott gefahren. Per Kranfahrt zeigt die Kamera uns die Verwüstungen: Autowracks, Blutlachen, explodierende Fahrzeuge, Stichflammen. Hysterisch lachend purzeln Wiazemsky und Bene scheinbar grundlos in einem dieser Wracks herum. Ein vorbeikommender Polizist stimmt einfach mit ein. Dann gibt es einen Endlos-Monolog eines der Greise, der seiner Frau vorwirft, eine Hure zu sein, ihn zu betrügen und auszunehmen. Ein Transvestit trägt einen Mann ohne Gliedmaßen durch eine belebte Straße. Eine Frau reißt sich die Kleider vom Leib, beginnt scheinbar grundlos zu tanzen, und gibt Bene Gelegenheit, mehrere Aufnahmen übereinander zu legen, sodass wir schließlich keins der Bilder mehr konkret erkennen können. Am Ende explodieren noch mehr Autos, und Bene und Wiazemsky robben zwischen weiteren Leichen und Blutlachen umher. Reiter ganz in Rot wie zu einer Fuchsjagd erscheinen scheinbar grundlos und verzieren den Abspann mit grellen Farben.
Auf dem Papier klingt es wirklich wunderbar: Bene nimmt sich einen Text vor, entweder klassisches Theatermaterial oder etwas Selbstverfasstes, und beginnt ihn systematisch zu dekonstruieren, sodass am Ende bloß kontextlose Fragmente übrigbleiben, die er dann von Schauspielern physisch ausagieren lässt, denen so ziemlich alles abverlangt wird von Nacktszenen über Schockszenen bis hin zu endlosem schrillen Gelächter oder vollkommen überzogenen Anfällen purer Hysterie. Das alles wird dann auf der Tonebene noch mit szenenfremden Sounds versehen oder mit überlauter Opernmusik. Das alles wird dann ästhetisch gekleidet in billig wirkende Handkameraaufnahmen oder knallbunte Sets, die selbst einem Douglas Sirk zu kitschig gewesen wären. Das alles wird dann noch zusätzlich verkompliziert durch im wahrsten Wortsinne sinnlose Dialoge, Verfremdungseffekte oder Gewaltexzesse. Im Falle von CAPRICCI dürfte das eine große Vorbild klar erkennbar sein. Autofriedhöfe, Crashs am laufenden Band bzw. deren Endergebnisse – wer würde da nicht sowohl an PIERROT LE FOU als auch natürlich an WEEK END denken? Hinzukommt, dass Bene Godard für CAPRICCI sogar seine damalige Lebensgefährtin Wiazemsky ausgespannt hat. Doch muss man sagen: im Vergleich zu einem unbarmherzigen Chaos wie CAPRICCI wirken selbst die Werke Godards aus den späten 60ern wie völlig lineare, nachvollziehbare, logische Spielfilme der alten Schule. Möglicherweise möchte Bene viel Kluges sagen über den Zustand der italienischen Gesellschaft, über Kapitalismus und Kommunismus, über die Rolle von Sex in den Medien, über die Möglichkeit, Theater und Leben miteinander zu verbinden, und möglicherweise muss man sehr viel gelesen haben oder ein Kind der 68er sein oder mit Bene schon mal mehr als einen langen intellektuellen Abend verbracht haben, um dieses Genie annähernd begreifen zu können, doch für mich sieht CAPRICCI, den euphorischen Worten eines Amos Vogel zum Trotz, schlicht aus wie ein Film, der kein Maß kennt, kein Ziel hat, keine Botschaft transportiert, und nur eins will: mir den wirklich allerletzten Nerv zu rauben.
Ich habe fast alles von Godard gesehen. Ich kann über die Frühwerke eines Christoph Schlingensief herzhaft lachen. Ich mag es abgöttisch, wenn Zulawski seine Schauspieler von einem hysterischen Exzess in den nächsten hetzt. Mich stört es kein bisschen, wenn ein Film keine nacherzählbare Handlung hat. Mich stört es nicht mal, wenn er mir mit einer Geste der Sperrigkeit oder der Coolness brüsk den Rücken zuwendet, um mich auf Distanz zu halten. All das tut CAPRICCI zwar, doch in einem Ausmaß, das selbst meine Toleranzgrenze mit Siebenmeilenstiefeln überschritten hat. Dieser Film ist ein wahres Monstrum, eine Komposition aus allem, was dazu dienen kann, einen in den Wahnsinn zu treiben. Um ehrlich zu sein, habe ich schon wirklich sehr lange keinen derart anstrengenden Film mehr wie vorliegenden gesehen – einen Film, der sich benimmt wie ein kleines Kind, auf das man den mit einem befreundeten Eltern aufzupassen versprochen hat, und das sich dann, sobald die Rücklichter von Mamas und Papas Auto vom Abend verschluckt worden sind, als Satansbraten entpuppt, der einem die Hölle auf Erden bereitet. Ich kann dieses Werk nur jedem empfehlen, der aufsteigen möchte in die Gilde der allerhartgesottensten Cineasten. Viel schlimmer als hier kann es wohl wirklich nicht mehr werden. Oh mein Gott...