Nostra signora dei turchi - Carmelo Bene (1968)
Verfasst: Mo 25. Jul 2016, 22:24
Originaltitel: Nostra signora dei turchi
Produktionsland: Italien 1968
Regie: Carmelo Bene
Darsteller: Carmelo Bene, Lydia Mancinelli, Ornella Ferrari, Anita Masini, Salvatore Siniscalchi
Mit sechzehn oder siebzehn bin ich in den Besitz von Amos Vogel FILM AS SUBVERSIVE ART gelangt. Erschienen ist das Buch erstmals 1974, in deutscher Übersetzung 1979 unter dem Titel KINO WIDER DIE TABUS. Eine Zeitlang war dieses Werk, in dem der New Yorker Cineast, Filmclubbegründer und Kurator die für ihn wichtigsten subversiven Filme von Anbeginn der Kinematographie bis in die 70er hinein, geordnet nach Oberthemen wie Tod, Blasphemie und Pornographie, sammelt, wie eine Bibel für mich. Nicht nur, dass es mich mit der Nase auf Filme stieß, die ich bislang gar nicht auf dem Radar hatte, auch machte es mich, zumindest schriftlich, mit Werken vertraut, über die ich bis heute sonst nirgendwo irgendwelche anderen Informationen gefunden habe, fast so, als sei Vogel der einzige Mensch auf Erden, der solche interessant klingenden Filme wie THE END OF ONE von Paul Kocela, der angeblich das langsame Sterben einer Seemöwe zeigt, oder THE MAN FROM ONAN von Alan Ruskin, in dem ein Mädchen sich sexuell mit Haushaltsgeräten befriedigen soll, gesehen. Einer der Filme, die ich damals ganz oben auf meine Wunschliste setzte, trägt den schönen Namen NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI. Vogel schreibt über Regisseur Bene im Kapitel zu Ästhetischen Rebellen: „Dies ist zusammen mit CAPRICCI das hallzuinierendste und originellste bisher von Bene geschaffene Meisterwerk: eine neoexpressionistische Explosion (mit surrealistischen Obertönen) von einmaliger Art auf der zeitgenössischen Leinwand. Der inspirierte, verzweifelte Wahnsinn dieses besessenen Moralisten geleitet ihn über die Wut hinaus in den schwarzen Humor und die groteske Burleske, die sich gezielt gegen das tote Eigengewicht einer reaktionären kulturellen Grundsubstanz wendet. Diese erscheint hier als ein Erbe von prächtigen, zerfallenden Kirchen, wundertätigen Madonnen und melodramatischen Opern, als die barocken Exzesse in Kunst und Leben eines Italiens, von dem sich Bene freimachen möchte.“ Darüber ist in meiner Ausgabe ein Screenshot aus NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI abgedruckt. Es handelt sich um eine Portraitaufnahme des Gesichts Carmelo Benes, das sich mit Mühe und Not aus dem schwärzesten Schwarz herausschält. Spärlich sind die Nase, die Wangen, die Lippen beleuchtet, und werfen Schlagschatten zur rechten Seite. Benes Augen scheinen keine Pupillen zu besitzen, sind weiße Kugeln in der Dunkelheit, und erinnern mich an die von Somnambulen in romantischen Texten von E.T.A. Hoffmann oder in Stummfilmen von Robert Wiene. Irgendwas an dem Bild affizierte mich so sehr, dass ich an allen möglichen und unmöglichen Orten nach diesem Film suchte – und ihn nirgends fand. Bis heute jedenfalls.
NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI beginnt im Stil einer experimentellen Dokumentation über Benes Heimatstadt, das süditalienische Otranto, das im Jahre 1480 fast zwölf Monate lang von einem osmanischen Heer unter dem Feldherrn Gehdik Ahmed Pascha besetzt gehalten worden ist. Dieser von Sultan Mehmed II. initiierte Vorstoß aufs europäische Festland geriet für die Osmanen zwar nur zu einem zeitweiligen Erfolg – schon im Mai 1481 unterliegen sie einem Gegenangriff neapolitanischer Truppen, sind aber außerdem bereits aufgrund des inzwischen eingetretenen Todes des Sultans in interne Konflikte verwickelt -, immerhin verhalf ihre kurzzeitige Anwesenheit in Otranto der römisch-katholischen Kirche aber zu einer wundersamen Heiligengeschichte: Während der Belagerung der Stadt nämlich soll einem alten Schneider namens Antonio Pezzulla die militärische und moralische Befehlsgewalt über die Bevölkerung erteilt worden sein. Als die Osmanen Otranto dann erfolgreich bestürmt hatten, stellten sie die Italiener vor die Wahl, entweder zum Islam überzutreten und fortan von ihnen als Glaubensbrüder erachtet zu werden oder eben ihr Leben lassen zu müssen. Standhaft soll Pezzulla sich geweigert haben, Christus eine Absage zu erteilen, und mit ihm weitere achthundert Stadtbewohner. Natürlich ereignete sich bei seiner Hinrichtung ein Wunder. Nachdem man ihm den Kopf vom Rumpf getrennt hatte, blieb sein Körper angeblich stocksteif stehen, und ließ sich nicht mal mit roher Gewalt in die Knie zwingen – ein schönes, symbolträchtiges Bild, mit der die Amtskirche auf die göttliche Rückendeckung verweist, die der Allmächtige jedem bewilligt, der in seinem Namen den Tod in Kauf nimmt. Von der Nonne, Flavia, die kurz vor der muslimischen Eroberung der Stadt aus ihrem Kloster entwischt ist, heißt es, sie soll zur Geliebten eines der Feldherrn avanciert sein, grausame Rache an ihrem ehemaligen Orden, ihren Eltern, den Lokalfürsten geübt haben und nach Monaten der Blutgier bei lebendigem Leibe gehäutet worden sein. Anders als ihre Gebeine, von deren Verbleib man nichts weiß, sind die der achthundert Märtyrer heute im Hypogäum der Kathedrale von Otranto, Santa Annunziata, zu bestaunen. Zu den weiteren Sehenswürdigkeiten gehört die mittelalterliche Festungsanlage und die byzantinische Kirche von San Pietro. Wir sehen verfremdete Impressionen der historischen Bauten – von Filtern verzerrt wie auf Gemälden von Dalí -, wandern die Festungsmauer entlang, hören pompöser Musik zu – irgendwas von Donizetti oder Verdi oder Puccini -, hören Bene zu, der uns aus dem Nähkästchen der Stadtgeschichte erzählt, und landen schließlich bei einem Haufen heiliger Knochen, die sich vor der Kamera auftürmen wie ein Minarett.
Der 1937 geborene Carmelo Bene gehört wohl zu den am lautesten polternden enfants terribles der italienischen Theaterszene in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Nachdem er Albert Camus überzeugt hatte, ihm kostenlos die Rechte an seinem Stück CALIGULA abzutreten, und nachdem er in diesem 1959 zum ersten Mal vor einer breiteren Öffentlichkeit als Schauspieler in Erscheinung getreten ist, der seine, zumeist klassischen, Rollen konsequent gegen den Strich bürstet, entwickelte er in den Folgejahren als Regisseur und Akteur eine eigenwillige, respektlose, bewusst kitschige, bewusst trashige, vor allem für ein bürgerliches Publikum extrem subversive Theaterform, deren Hauptziel es wohl gewesen sein dürfte, den Betrachter bis zu den Grenzen des Aushaltbaren zu führen – und darüber hinaus. Artaud ist, wenig verwunderlich, sein erklärtes Vorbild. Außerdem mochte er klassische italienische Opern, den ganzen Pathos, der damit verbunden ist, religiösen Kitsch und Godards PIERROT LE FOU. Letzterer ist es vielleicht, der ihn in den Jahren zwischen 1968 und 1974 der Bühne abspenstig macht und sich als Experimentalfilmregisseur versuchen lässt. Fünf Filme entstehen in dieser Zeit. Es sind: NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI (1968), CAPRICCI (1969), DON GIOVANNI (1971), SALOME (1972) und UN AMLETO DI MENO (1973). Einige der Titel lassen schon erahnen: Auch hier sind es Stoffe der Bühnentradition, die Bene zerfleddert, um über die Dekonstruktion sein Publikum mit irgendeiner abstrakten Form von Wahrheit zu konfrontieren. Außerdem tritt er weiterhin als Schauspieler auf: in den eigenen Produktionen, aber auch bei anderen. Man sieht ihn in Franco Brocanis NECROPOLIS (1970), in Pasolinis EDIPOE RE (1967), in Piero Zuffis COLPO ROVENTE (1970). Natürlich laufen seine Filme vorrangig auf Arthouse-Festivals, in Programmkinos, in Kunstgalerien. Nach 1974 wendet er sich wieder ausschließlich dem Theater zu, und macht weiter wie bisher: Hamlet, Don Giovanni, Maceth müssen weiter Federn lassen, sein Publikum leiden, und er schreibt nebenbei Romane, zwei Autobiographien, arbeitet fürs Radio, fürs Fernsehen, stirbt 2002 in Rom.
Obwohl Amos Vogel so tut, als seien Benes Debut NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI und sein Zweitling CAPRICCI wie aus einem Guss, kann ich dem überhaupt nicht zustimmen. CAPRICCI fühlte sich für mich an wie ein Film von jemandem, der kopfüber in alles hineingetaucht ist, was er von Godard hat sehen können, und der dann den Plan fasst, etwas zu drehen, das noch radikaler, noch zuschauerabweisender, noch unkomsumierbarer ist als es Filme wie WEEK END oder ONE PLUS ONE jemals sein könnten. Inhaltlich steht NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI dem nichts nach: Auch hier erweist Bene sich als Großmeister der Dekonstruktion – diesmal auf Basis eigener Texte, die möglicherweise ziemlich sinnreich sind, wenn man sie in Ruhe bei einer Tasse Tee auf einer Sommerveranda liest, denen zumindest ich aber meine Probleme zu folgen habe, wenn sie eingebettet sind in einen derartigen Bilder- und Farbenrausch wie vorliegendem. Inhaltich geht es in dem Film – von dem ich einmal bezweifle, dass ihm ein klassisches Drehbuch zugrunde gelegen hat – scheinbar um folgende zwei Haupterzählstränge (wobei das mit der Narration natürlich mal wieder so eine Sache ist, sprich: jeder, der eine Handlung erwartet, die er jemand anderem eins zu eins nacherzählen kann, wird sich mit Grausen abwenden): Zum einen haben wir da die Fake-Dokumentation über Ortranto, die ein bisschen Geschichtsunterricht nachholt und ein bisschen die örtliche Architektur vorführt, mit zunehmender Laufzeit aber immer unwichtiger wird, und sich sowieso irgendwann mehr um den namenlosen Protagonisten und seine bizarren Eskapaden rankt, die von unserem Off-Sprecher genauso nüchtern beschrieben werden wie zuvor historische Ereignisse und außergewöhnliche Baustile. In einem zweiten Strang erlebt und erleidet dieser Protagonist, natürlich verkörpert von Bene höchstpersönlich, allerhand Seltsamkeiten, deren Sinn sich mir nicht erschlossen hat. Auf jeden Fall scheint er einer Frau verfallen, einer Madonnengestalt, einer Heiligen, die ihm wahlweise als engelsgleiche Imagination erscheint, dann aber wieder rauchend und in Magazinen blätternd sich auf seinem Bett herumlümmelt. Während des gesamten Films kommen die beiden nie so recht zusammen, und sowieso wirkt es auch nicht, als sei es Bene wichtig, eine epochenübergreifende Liebesromanze zu illustrieren. Viel lieber lässt er NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI zu einer einzigen One-Man-Show ausufern, die möglicherweise einen idealen Einblick in die Theaterpraxis dieses Verrückten gewährt: Minutenlang wälzt sich der gefesselte Bene in einem Raum voller Bücher und wirft die einzelnen Bände um sich, wenn er sie zwischen die Finger bekommt. Bene erschießt sich selbst von einem Balkon aus, während er zugleich in ein Feld flieht. Auf einem öffentlichen Platz jagt er sich eine (Heroin?-)Spitze in den Allerwertesten. In voller Kreuzrittermontur stürmt er eine Kapelle. Während CAPRICCI sich reichlich verzettelt in einem ganzen Reigen schräger Figuren, bleibt bei NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI zumindest klar, worauf der Fokus liegt, nämlich darauf, dass Carmelo uns zeigt, was er und sein Körper bereit sind, so alles anzustellen, um mit gängigen Narrationsstrukturen nicht nur der Bühne zu brechen.
Aber die Bilder, mit denen er das tut! NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI mag inhaltlich genauso anstrengend, wenn nicht manchmal sogar enervierend sein wie CAPRICCI, doch hat er letzterem Film gegenüber wenigstens in meinen Augen einen unbestreitbaren Vorteil: Er sieht aus wie ein Traum, den Maio Bava, Dario Argento, Kenneth Anger und Stan Brakhage gemeinsam auf die Leinwand gepinselt haben! CAPRICCIs Bilder sind nüchtern, karg, reduziert – wären sie ein Text, dann eine emotionslose marxistische Gesellschaftsanalyse, in der höchstens die Passagen hervorstechen, in denen besonders polemisch auf den Klassenfeind eingedroschen wird. NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI indes holt all das ab, was wir an Pomp und Prunk aus der europäischen Kunst- und Kinogeschichte gewohnt sind. Die Ikonographie des christlichen Abendlandes trifft auf byzantinische und arabische Architektur. Bene als weißgeschminkter Pierrot zieht Grimassen, die auf keiner Volksbühne der Renaissance fremd gewirkt hätten. Feuerwerke zerreißen das Firmament und bekleiden unsere Madonna mit einem echten Heiligenschein flirrender Funken. Aber damit nicht genug: Bene liefert nicht einfach nur Bilder, von denen nahezu jedes einzelne einen Rahmen und einen Platz in den Uffizien verdient hätte, um sie, zumindest teilweise, ironisch zu brechen, sondern gestaltet NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI zu so etwas wie einem Lexikon all jener technischer Möglichkeiten, die Ende der 60er für den experimentellen Film konstitutiv gewesen sind.
Ich bin offiziell an einer Kunsthochschule eingeschrieben. Narrative Filme sind dort weitgehend verpönt. Sobald Du beginnst, eine Geschichte zu erzählen, mit inszenierten Szenarien arbeitest, mit fiktiven Figuren, die auswendiggelernte Sätze aufsagen sollen, kannst Du Dir des einen oder anderen skeptischen Blicks bewusst sein. Am liebsten werden im hochschuleigenen Kino Klassiker des Experimentalfilms gezeigt, sperrige, unverständliche, schwere Werke, die alles tun sollen, nur sich nicht in den Bahnen des tradierten Spielfilmkinos bewegen oder gar unterhalten. Eine minutenlange Großaufnahme einer tickenden Uhr, oder jemand, der mit Rasierklingen im Mund einen politischen Text vorliest bis es vom Kinn rot tropft, oder lange Litaneien über die Suche nach dem eigenen Geschlecht, private Schicksalsschläge oder den Weltschmerz – das ist, womit die Schultern unserer Filmstudioleinwand beladen werden. NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI wirkt für mich vielleicht gerade deshalb wie ein Artefakt aus einer Zeit, als die filmische Avantgarde noch so lebendig und ungestümt war wie ein junger Hund – und es wundert mich, dass Bene im Kontext der Modernen Kunst, jetzt, wo ich sein Debut kenne, so sehr untergegangen ist. NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI ist nämlich, meine ich, nichts weniger als ein Sammelbecken für all das, was bis 1968 an formalen und ästhetischen Strategien entwickelt worden ist, um solchen Feindbildern wie Hollywood oder Cinecitta etwas entgegenzusetzen. Bene experimentiert mit allen möglichen und unmöglichen Mitteln, um mir die Sinne vergehen zu lassen – so sehr, dass ich nach einem Sinn hinter dem Ganzen irgendwann schon gar nicht mehr frage. Er schneidet mehrere Tonspuren übereinander. Er unterbricht seinen Film in der Mitte mit dem Schriftzug Intervallo und einer Kamerafahrt über einen Geldschein hinweg. Er filmt sich küssende Pärchen aus der Froschperspektive zwischen kitschigen Blumensträußen hindurch. Er inszeniert sich selbst als Stummfilmkomödiant in Bildern, die wohl nachträglich derart ramponiert worden sind, dass sie aussehen wie aus den Kindertagen der Kinematographie. Er lässt den islamischen Gebetsruf derart übersteuert abspielen, dass es klingt wie Schafsblöken. Er spielt mit dem Medium Film genauso versiert wie er es zuvor und danach mit dem des Theaters tun wird. Und habe ich schon erwähnt, dass NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI für mich das filmische Äquivalent zu einem saftigen, knallbunten Pfirsich ist, in den man einfach nur die Zähne hineinschlagen möchte?
Über CAPRICCI habe ich geschrieben, dass ich dieses Werk nur jedem empfehlen könne, der aufsteigen möchte in die Gilde der allerhartgesottensten Cineasten – und das nicht unbedingt positiv gemeint. Für NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI gilt wohl gewissermaßen das Gleiche – wer es schafft, sich dieses Zwei-Stunden-Epos in einem Stück zu geben, der hat meinen Respekt! -, und inhaltlich kann man Bene auch hier vorwerfen, die Konfusion zum Selbstweck zur Schau zu stellen, d.h. sein Publikum zu quälen ohne dass dieser Qual irgendeine Form von Apotheosis oder Katharsis oder sonst irgendein Fremdwort folgen würde. Dennoch: jeder, der sich einen Bava-Giallo nicht primär wegen der komplett logischen Krimihandlung anschaut, und jeder, der bei Kenneth Anger nicht primär auf der Suche nach einer prägnanten, griffigen Aussage ist, und jeder, der Dario Argento nicht primär dafür schätzt, dass er zeigt wie Menschen auf bestialische Weise ums Leben kommen, sprich: jeder, der als höchste Qualität dieser drei Regisseure die Farbräusche sieht, von denen ihre besten Filme regelrecht verschlungen werden, der wird, glaube ich, mit NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI seine helle Freude haben. Ich jedenfalls bin verzückt!
NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI beginnt im Stil einer experimentellen Dokumentation über Benes Heimatstadt, das süditalienische Otranto, das im Jahre 1480 fast zwölf Monate lang von einem osmanischen Heer unter dem Feldherrn Gehdik Ahmed Pascha besetzt gehalten worden ist. Dieser von Sultan Mehmed II. initiierte Vorstoß aufs europäische Festland geriet für die Osmanen zwar nur zu einem zeitweiligen Erfolg – schon im Mai 1481 unterliegen sie einem Gegenangriff neapolitanischer Truppen, sind aber außerdem bereits aufgrund des inzwischen eingetretenen Todes des Sultans in interne Konflikte verwickelt -, immerhin verhalf ihre kurzzeitige Anwesenheit in Otranto der römisch-katholischen Kirche aber zu einer wundersamen Heiligengeschichte: Während der Belagerung der Stadt nämlich soll einem alten Schneider namens Antonio Pezzulla die militärische und moralische Befehlsgewalt über die Bevölkerung erteilt worden sein. Als die Osmanen Otranto dann erfolgreich bestürmt hatten, stellten sie die Italiener vor die Wahl, entweder zum Islam überzutreten und fortan von ihnen als Glaubensbrüder erachtet zu werden oder eben ihr Leben lassen zu müssen. Standhaft soll Pezzulla sich geweigert haben, Christus eine Absage zu erteilen, und mit ihm weitere achthundert Stadtbewohner. Natürlich ereignete sich bei seiner Hinrichtung ein Wunder. Nachdem man ihm den Kopf vom Rumpf getrennt hatte, blieb sein Körper angeblich stocksteif stehen, und ließ sich nicht mal mit roher Gewalt in die Knie zwingen – ein schönes, symbolträchtiges Bild, mit der die Amtskirche auf die göttliche Rückendeckung verweist, die der Allmächtige jedem bewilligt, der in seinem Namen den Tod in Kauf nimmt. Von der Nonne, Flavia, die kurz vor der muslimischen Eroberung der Stadt aus ihrem Kloster entwischt ist, heißt es, sie soll zur Geliebten eines der Feldherrn avanciert sein, grausame Rache an ihrem ehemaligen Orden, ihren Eltern, den Lokalfürsten geübt haben und nach Monaten der Blutgier bei lebendigem Leibe gehäutet worden sein. Anders als ihre Gebeine, von deren Verbleib man nichts weiß, sind die der achthundert Märtyrer heute im Hypogäum der Kathedrale von Otranto, Santa Annunziata, zu bestaunen. Zu den weiteren Sehenswürdigkeiten gehört die mittelalterliche Festungsanlage und die byzantinische Kirche von San Pietro. Wir sehen verfremdete Impressionen der historischen Bauten – von Filtern verzerrt wie auf Gemälden von Dalí -, wandern die Festungsmauer entlang, hören pompöser Musik zu – irgendwas von Donizetti oder Verdi oder Puccini -, hören Bene zu, der uns aus dem Nähkästchen der Stadtgeschichte erzählt, und landen schließlich bei einem Haufen heiliger Knochen, die sich vor der Kamera auftürmen wie ein Minarett.
Der 1937 geborene Carmelo Bene gehört wohl zu den am lautesten polternden enfants terribles der italienischen Theaterszene in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Nachdem er Albert Camus überzeugt hatte, ihm kostenlos die Rechte an seinem Stück CALIGULA abzutreten, und nachdem er in diesem 1959 zum ersten Mal vor einer breiteren Öffentlichkeit als Schauspieler in Erscheinung getreten ist, der seine, zumeist klassischen, Rollen konsequent gegen den Strich bürstet, entwickelte er in den Folgejahren als Regisseur und Akteur eine eigenwillige, respektlose, bewusst kitschige, bewusst trashige, vor allem für ein bürgerliches Publikum extrem subversive Theaterform, deren Hauptziel es wohl gewesen sein dürfte, den Betrachter bis zu den Grenzen des Aushaltbaren zu führen – und darüber hinaus. Artaud ist, wenig verwunderlich, sein erklärtes Vorbild. Außerdem mochte er klassische italienische Opern, den ganzen Pathos, der damit verbunden ist, religiösen Kitsch und Godards PIERROT LE FOU. Letzterer ist es vielleicht, der ihn in den Jahren zwischen 1968 und 1974 der Bühne abspenstig macht und sich als Experimentalfilmregisseur versuchen lässt. Fünf Filme entstehen in dieser Zeit. Es sind: NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI (1968), CAPRICCI (1969), DON GIOVANNI (1971), SALOME (1972) und UN AMLETO DI MENO (1973). Einige der Titel lassen schon erahnen: Auch hier sind es Stoffe der Bühnentradition, die Bene zerfleddert, um über die Dekonstruktion sein Publikum mit irgendeiner abstrakten Form von Wahrheit zu konfrontieren. Außerdem tritt er weiterhin als Schauspieler auf: in den eigenen Produktionen, aber auch bei anderen. Man sieht ihn in Franco Brocanis NECROPOLIS (1970), in Pasolinis EDIPOE RE (1967), in Piero Zuffis COLPO ROVENTE (1970). Natürlich laufen seine Filme vorrangig auf Arthouse-Festivals, in Programmkinos, in Kunstgalerien. Nach 1974 wendet er sich wieder ausschließlich dem Theater zu, und macht weiter wie bisher: Hamlet, Don Giovanni, Maceth müssen weiter Federn lassen, sein Publikum leiden, und er schreibt nebenbei Romane, zwei Autobiographien, arbeitet fürs Radio, fürs Fernsehen, stirbt 2002 in Rom.
Obwohl Amos Vogel so tut, als seien Benes Debut NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI und sein Zweitling CAPRICCI wie aus einem Guss, kann ich dem überhaupt nicht zustimmen. CAPRICCI fühlte sich für mich an wie ein Film von jemandem, der kopfüber in alles hineingetaucht ist, was er von Godard hat sehen können, und der dann den Plan fasst, etwas zu drehen, das noch radikaler, noch zuschauerabweisender, noch unkomsumierbarer ist als es Filme wie WEEK END oder ONE PLUS ONE jemals sein könnten. Inhaltlich steht NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI dem nichts nach: Auch hier erweist Bene sich als Großmeister der Dekonstruktion – diesmal auf Basis eigener Texte, die möglicherweise ziemlich sinnreich sind, wenn man sie in Ruhe bei einer Tasse Tee auf einer Sommerveranda liest, denen zumindest ich aber meine Probleme zu folgen habe, wenn sie eingebettet sind in einen derartigen Bilder- und Farbenrausch wie vorliegendem. Inhaltich geht es in dem Film – von dem ich einmal bezweifle, dass ihm ein klassisches Drehbuch zugrunde gelegen hat – scheinbar um folgende zwei Haupterzählstränge (wobei das mit der Narration natürlich mal wieder so eine Sache ist, sprich: jeder, der eine Handlung erwartet, die er jemand anderem eins zu eins nacherzählen kann, wird sich mit Grausen abwenden): Zum einen haben wir da die Fake-Dokumentation über Ortranto, die ein bisschen Geschichtsunterricht nachholt und ein bisschen die örtliche Architektur vorführt, mit zunehmender Laufzeit aber immer unwichtiger wird, und sich sowieso irgendwann mehr um den namenlosen Protagonisten und seine bizarren Eskapaden rankt, die von unserem Off-Sprecher genauso nüchtern beschrieben werden wie zuvor historische Ereignisse und außergewöhnliche Baustile. In einem zweiten Strang erlebt und erleidet dieser Protagonist, natürlich verkörpert von Bene höchstpersönlich, allerhand Seltsamkeiten, deren Sinn sich mir nicht erschlossen hat. Auf jeden Fall scheint er einer Frau verfallen, einer Madonnengestalt, einer Heiligen, die ihm wahlweise als engelsgleiche Imagination erscheint, dann aber wieder rauchend und in Magazinen blätternd sich auf seinem Bett herumlümmelt. Während des gesamten Films kommen die beiden nie so recht zusammen, und sowieso wirkt es auch nicht, als sei es Bene wichtig, eine epochenübergreifende Liebesromanze zu illustrieren. Viel lieber lässt er NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI zu einer einzigen One-Man-Show ausufern, die möglicherweise einen idealen Einblick in die Theaterpraxis dieses Verrückten gewährt: Minutenlang wälzt sich der gefesselte Bene in einem Raum voller Bücher und wirft die einzelnen Bände um sich, wenn er sie zwischen die Finger bekommt. Bene erschießt sich selbst von einem Balkon aus, während er zugleich in ein Feld flieht. Auf einem öffentlichen Platz jagt er sich eine (Heroin?-)Spitze in den Allerwertesten. In voller Kreuzrittermontur stürmt er eine Kapelle. Während CAPRICCI sich reichlich verzettelt in einem ganzen Reigen schräger Figuren, bleibt bei NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI zumindest klar, worauf der Fokus liegt, nämlich darauf, dass Carmelo uns zeigt, was er und sein Körper bereit sind, so alles anzustellen, um mit gängigen Narrationsstrukturen nicht nur der Bühne zu brechen.
Aber die Bilder, mit denen er das tut! NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI mag inhaltlich genauso anstrengend, wenn nicht manchmal sogar enervierend sein wie CAPRICCI, doch hat er letzterem Film gegenüber wenigstens in meinen Augen einen unbestreitbaren Vorteil: Er sieht aus wie ein Traum, den Maio Bava, Dario Argento, Kenneth Anger und Stan Brakhage gemeinsam auf die Leinwand gepinselt haben! CAPRICCIs Bilder sind nüchtern, karg, reduziert – wären sie ein Text, dann eine emotionslose marxistische Gesellschaftsanalyse, in der höchstens die Passagen hervorstechen, in denen besonders polemisch auf den Klassenfeind eingedroschen wird. NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI indes holt all das ab, was wir an Pomp und Prunk aus der europäischen Kunst- und Kinogeschichte gewohnt sind. Die Ikonographie des christlichen Abendlandes trifft auf byzantinische und arabische Architektur. Bene als weißgeschminkter Pierrot zieht Grimassen, die auf keiner Volksbühne der Renaissance fremd gewirkt hätten. Feuerwerke zerreißen das Firmament und bekleiden unsere Madonna mit einem echten Heiligenschein flirrender Funken. Aber damit nicht genug: Bene liefert nicht einfach nur Bilder, von denen nahezu jedes einzelne einen Rahmen und einen Platz in den Uffizien verdient hätte, um sie, zumindest teilweise, ironisch zu brechen, sondern gestaltet NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI zu so etwas wie einem Lexikon all jener technischer Möglichkeiten, die Ende der 60er für den experimentellen Film konstitutiv gewesen sind.
Ich bin offiziell an einer Kunsthochschule eingeschrieben. Narrative Filme sind dort weitgehend verpönt. Sobald Du beginnst, eine Geschichte zu erzählen, mit inszenierten Szenarien arbeitest, mit fiktiven Figuren, die auswendiggelernte Sätze aufsagen sollen, kannst Du Dir des einen oder anderen skeptischen Blicks bewusst sein. Am liebsten werden im hochschuleigenen Kino Klassiker des Experimentalfilms gezeigt, sperrige, unverständliche, schwere Werke, die alles tun sollen, nur sich nicht in den Bahnen des tradierten Spielfilmkinos bewegen oder gar unterhalten. Eine minutenlange Großaufnahme einer tickenden Uhr, oder jemand, der mit Rasierklingen im Mund einen politischen Text vorliest bis es vom Kinn rot tropft, oder lange Litaneien über die Suche nach dem eigenen Geschlecht, private Schicksalsschläge oder den Weltschmerz – das ist, womit die Schultern unserer Filmstudioleinwand beladen werden. NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI wirkt für mich vielleicht gerade deshalb wie ein Artefakt aus einer Zeit, als die filmische Avantgarde noch so lebendig und ungestümt war wie ein junger Hund – und es wundert mich, dass Bene im Kontext der Modernen Kunst, jetzt, wo ich sein Debut kenne, so sehr untergegangen ist. NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI ist nämlich, meine ich, nichts weniger als ein Sammelbecken für all das, was bis 1968 an formalen und ästhetischen Strategien entwickelt worden ist, um solchen Feindbildern wie Hollywood oder Cinecitta etwas entgegenzusetzen. Bene experimentiert mit allen möglichen und unmöglichen Mitteln, um mir die Sinne vergehen zu lassen – so sehr, dass ich nach einem Sinn hinter dem Ganzen irgendwann schon gar nicht mehr frage. Er schneidet mehrere Tonspuren übereinander. Er unterbricht seinen Film in der Mitte mit dem Schriftzug Intervallo und einer Kamerafahrt über einen Geldschein hinweg. Er filmt sich küssende Pärchen aus der Froschperspektive zwischen kitschigen Blumensträußen hindurch. Er inszeniert sich selbst als Stummfilmkomödiant in Bildern, die wohl nachträglich derart ramponiert worden sind, dass sie aussehen wie aus den Kindertagen der Kinematographie. Er lässt den islamischen Gebetsruf derart übersteuert abspielen, dass es klingt wie Schafsblöken. Er spielt mit dem Medium Film genauso versiert wie er es zuvor und danach mit dem des Theaters tun wird. Und habe ich schon erwähnt, dass NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI für mich das filmische Äquivalent zu einem saftigen, knallbunten Pfirsich ist, in den man einfach nur die Zähne hineinschlagen möchte?
Über CAPRICCI habe ich geschrieben, dass ich dieses Werk nur jedem empfehlen könne, der aufsteigen möchte in die Gilde der allerhartgesottensten Cineasten – und das nicht unbedingt positiv gemeint. Für NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI gilt wohl gewissermaßen das Gleiche – wer es schafft, sich dieses Zwei-Stunden-Epos in einem Stück zu geben, der hat meinen Respekt! -, und inhaltlich kann man Bene auch hier vorwerfen, die Konfusion zum Selbstweck zur Schau zu stellen, d.h. sein Publikum zu quälen ohne dass dieser Qual irgendeine Form von Apotheosis oder Katharsis oder sonst irgendein Fremdwort folgen würde. Dennoch: jeder, der sich einen Bava-Giallo nicht primär wegen der komplett logischen Krimihandlung anschaut, und jeder, der bei Kenneth Anger nicht primär auf der Suche nach einer prägnanten, griffigen Aussage ist, und jeder, der Dario Argento nicht primär dafür schätzt, dass er zeigt wie Menschen auf bestialische Weise ums Leben kommen, sprich: jeder, der als höchste Qualität dieser drei Regisseure die Farbräusche sieht, von denen ihre besten Filme regelrecht verschlungen werden, der wird, glaube ich, mit NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI seine helle Freude haben. Ich jedenfalls bin verzückt!