Wie so oft im italienischen Genrekino reicht eine einzige erfolgreiche Filmproduktion aus, ein ganzes Subgenre loszutreten. So geschehen bei Pier Paolo Pasolinis IL DECAMERONE, mit dem der Autorenfilmer 1971 seine Trilogie des Lebens beginnt. Insgesamt neun Geschichten hat Pasolini aus der weltberühmten, die erotische Literatur Europas nicht nur grundlegend konstituierenden, sondern in der Folge vor allem maßgeblich beeinflussenden gleichnamigen Novellensammlung Boccaccios (1313-1375) ausgewählt und für die Leinwand adaptiert. Der Titel von Boccaccios Decameron ist Programm: An zehn Tagen erzählen sich sieben Frauen und drei Männer, die sich vor der 1348 in Florenz grassierenden Pest in ein abgeschiedenes Landhaus geflüchtet haben, zur Unterhaltung je zehn Geschichten aus den Themenfeldern Liebe, Erotik und Sexualität. Die einhundert Novellen, die dabei zusammenkommen, bilden leidenschaftliche Gefühle zwischen den Geschlechtern in allen erdenklichen Konstellationen ab. Uns begegnen lüsterne Mönche, die sich als Engel verkleiden, um fromme-einfältige Frauen als Himmelsboten begatten zu können. Wir lernen Ehefrauen kennen, die ihren Männern auf die verschiedensten Arten Hörner aufsetzen. Ein ganzes Nonnenkloster vergisst nach der Ankunft eines angeblich taubstummen Jünglings seine Gelübde und widmet sich statt der göttlichen Liebe bis zur Erschöpfung ihrer Beute der irdischen. Junge Mädchen unterhalten heimliche Treffen mit ihren Liebsten bis sie von ihren Eltern erwischt werden und sich der Konflikt in einer unter Scherzen und Gelächter ausgerichteter Hochzeit auflöst. Genau das ist bezeichnend für Boccaccios sorglosen Umgang mit seinen Stoffen, und genau das ist es wohl, was Pasolini an den mittelalterlichen Texten gereizt hat: In der Welt des Decamerone mag es Schicksalsschläge, Unglücksfälle, Leid und Trauer geben wie in jeder anderen, doch die Figuren, die sie besiedeln, bewahren noch in den schlimmsten Situation ein sonniges Gemüt. Erotik und Sexualität sind keine teuflichen Bedrohungen, ihnen wohnt nichts Gewalttätiges inne, sie besitzen nur ein einziges Potential, nämlich das Leben lebenswert zu machen. Voll der Sinnesfreude hingegeben finden Boccaccios Helden zu jeder Tagesstunde Grund, in ein gelöstes Lachen auszubrechen. Demgemäß gestaltet Pasolini seine Verfilmung, trotz des einen oder anderen erigierten Penis und der Omnipräsenz des Geschlechtlichen, fast schon wie eine Antithese zur sich in den späten 60ern allmählich formierenden kommerziellen Pornographie. In volksnahem Ton, gespielt von non-professionellen Darstellern, in bewusst schlichten, schmucklosen, alltäglichen Bildern feiert Pasolini den Sexus im Rahmen einer traditionell gewachsenen, unverfälschten Kultur, deren Vertreter zechen, wenn sie zechen wollen, lieben, wenn sie lieben wollen, und stets mit einem Lächeln erwachen und einschlafen. Pasolini versteht seine Boccaccio-Adaption, der mit I RACCONTI DI CANTERBURY (1972) noch eine Fassung der CANTERBURY TALES des Geoffrey Chaucer (1343-1400) und mit IL FIORE DELLE MILLE E UNA NOTTE (1974) eine Verfilmung der Märchen aus tausendundeiner Nacht folgen sollte, durchaus als revolutionäres, anti-intellektuelles Projekt, das einer, seiner Meinung nach, von Industrialisierung, Kapitalismus, Globalisierung unterdrückten Volksstimme Ausdruck zu verleihen versucht.
Freilich wurde IL DECAMERONE von den Kritiken seiner Zeit oftmals auf die progressive Darstellung nackter Körper reduziert, und freilich ist es genau das, auf was die sofort nach dem finanziellen Erfolg des Films überall in Italien aus dem Boden sprießenden Nachzügler sich am meisten versteifen. Während STORIA SCELLERATE (1973), deutscher Titel: DECAMERONE – ABENTEUER DER WOLLUST, noch von Pasolinis Regieassistent, Drehbuchautor und engem Freund Sergio Citti gedreht wird und zumindest versucht, der frivolen Volksnähe seines Vorbilds treu zu bleiben, teilen die meisten sonstigen sogenannten decamerotici mit Pasolinis Film nicht viel mehr als ihre episodische Struktur und die Tatsache, dass sie sich freimütig an den Klassikern der erotischen Weltliteratur wie Pietro Aretino oder Boccaccio bedienen. Dabei ist es nicht übertrieben, gerade in den Jahren 1972 und 1973 von einer wahren Flut an Sexkomödien mit Boccaccio-Bezug zu sprechen. Über dreißig Filme kann man allein in diesen beiden Jahren zählen, die alle entweder schon in ihrem Titel auf das DECAMERONE Bezug nehmen oder Pasolinis Adaption doch von ihrem Wesen her stilverwandt sind. DECAMERONE NO 2 – LE ALTRE NOVELLE DI BOCCACCIO (Mino Guerrini, 1972), DECAMERONE NO 3 – LA PIÙ BELLE DONNE DEL BOCCACCIO (Italo Alfaro, 1972), DECAMERONE NO 4 – LE BELLE NOVELLE DI BOCCACCIO (Paolo Bianchini, 1972), BOCCACCIO (Bruno Corbucci, 1972) IL DECAMERONE PROIBITO (Carlo Infascelli, 1972) wären nur einmal fünf beispielhafte Titel, die allesamt den mehr oder minder erfolgreichen Versuch unternehmen, zotige Komik, splapstickhaften Klamauk, subtile Gesellschaftskritik und deftige Softsexerotik miteinander zu verknüpfen. Nicht zuletzt hat selbst der große Joe D’Amato in diesem Genre seine ersten Gehversuche als Co-Regisseur, Kameramann und Cutter unternommen – und der Alternativtitel seines NOVELLE LICENZIOSE DI VERGINI VOGLIOSE (1973) könnte besser kaum gewählt sein, fasst er doch Pasolinis gesamte Lebenstrilogie kongenial zusammen, wenn es heißt: LE MILLE E UNA NOTTE DI BOCCACCIO A CANTERBURY.
Interessanterweise mutierten all diese DECAMERONE-Rip-Offs nicht nur zu einem eigenständigen Subgenre der comedia sexy all’italiana, sie verhalfen außerdem, so meine These, dem sogenannten Nunsploitation-Genre in die Steigbügel. Um das zu beweisen, soll mir Mariano Laurentis LA BELLA ANTONIA, PRIMA MONICA E POI DIMONIA von 1972 dienen (deutscher Titel übrigens: WEHE, WENN DIE LUST UNS PACKT! Ja, wehe…!). Zunächst ist dieser Film nicht aufgeteilt in einzelne höchstens durch eine Rahmenhandlung verbundene Episoden, sondern erzählt eine kohärente Geschichte von A bis Z. Edwige Fenech, jung, gutaussehend und bereit, sich permanent splitterfasernackt auszuziehen, spielt die titelgebende schöne Antonia, die unglücklich in den blonden Jüngling Fulco verliebt ist. Das sehen ihre Eltern, vor allem ihr herrischer Vater, der sich für sie schon einen ganz anderen, wesentlich wohlhabenderen Bräutigam ausgeguckt hat, gar nicht gerne, sodass Antonia ihnen droht, sie würde in ein Nonnenkonvent eintreten, wenn sie nicht den Mann ehelichen darf, den sie liebt. Da ihr Vater dies mit einem Lächeln abtut, lässt Antonia Taten folgen und nimmt tatsächlich den Schleier. Sie wird ihn, schwört sie, erst ausziehen, wenn ihrer Verbindung mit Fulco nichts mehr im Wege steht. Das tut es aber sowieso schon nicht wirklich, denn die tugendhafte Isolation der frommen Frauen ist nichts als eine bloße Illusion: Die feiste Äbtissin hat sich den Klosterpriester sexuell hörig gemacht, unter den Nönnchen regiert Sinneslust und amüsante Ausschweifung, und mit Hilfe eines umherziehenden Künstlers, der ebenfalls kein Frauenbett unbestiegen lässt, schafft es natürlich auch Fulco, seiner Liebste ungestörte Mitternachtsbesuche abzustatten…
LA BELLA ANTONIA vereint zwei Eigenheiten miteinander, die einem auf den ersten Blick eigentlich unvereinbar scheinen. Er wagt sich heran an Themen, die 1972 noch durchaus subversives Potential besitzen: Das Laster-und Liebesleben von Klerikern und Ordensschwestern gepaart mit, obwohl es keine Sexszenen im eigentlichen Sinne zu sehen gibt, vielen entblößten Brüsten und Schenkeln und einem harmlosen, jovialen Ton, der die Sündenfälle eher lustig findet als bedenklich. Dabei ist seine Inszenierung jedoch derart antiquiert, theatralisch, nahezu statisch, dass der Film, seiner Nacktheiten entledigt, gut und gerne auch in dieser Form fünf bis zehn Jahre früher hätte entstanden sein können. Die Produtionskosten sind nicht niedrig gewesen, es gibt sorgfälte Kamerafahrten, die Kulissen sehen hübsch aus wie Frau Fenech, und trotzdem ergibt das alles keine Mischung, die ich als homogen bezeichnen würde. Ich habe LA BELLA ANTONIA weder als besonders witzig empfunden – er ist dabei weniger nahe am echten Leben als Pasolini, und wirkt oft einfach wie ein abgefilmtes Bühnenstück, lässt aber auch die richtig derben Zote vermissen, die ihn wenigstens ein bisschen deftig gewürzt hätten – noch als besonders spannung, anrührend oder erotisch – wie gesagt beschränkt sich die Erotik auf hüllenlose Darstellerinnen, und dadurch, dass alle Figuren ziemlich sorglos durch den Film tänzeln, entsteht zu keinem Zeitpunkt ein ernstzunehmendes Konfliktpotential oder ein Funken von Dramatik. Nichtsdestotrotz finde ich LA BELLA ANONIA interessant aufgrund der knappen halben Stunde, die seine Handlung sich hinter Klostermauern verabschiedet. Dort nämlich versammelt der Film all die Ingredienzien, die etwa zeitgleich zum festen Repertoire des Nonnensexfilms gehören sollten, nur eben mit dem Unterschied, dass sie, im Gegensatz zu „richtigen“ Nonnen-Exploitern wie Gianfranco Mingozzis FLAVIA (1974) oder Domenico Paolellas LE MONACHE DI SANT’ARCANGELO (1973) niemals eine bedrohliche Wendung nehmen, sprich: all die begehrten und begehrenden Nonnen, Mönche und Priester, die Antonias eigene Liebesgeschichte flankieren, müssen nie mit unangenehmen Konsequenzen ihrer Handlungen rechnen. Wo die sexuell tätige Nonne im klassischen Nunsploitation-Film ihres Lebens selten froh wird, da ihr die Heilige Inquisition auf den Hals rückt, sie sich in Machtintrigen des Klosterlebens verstrickt oder sie schlicht ihrer eigenen Lust zum Opfer fällt, die sich manchmal gar als leibhaftiger Teufel manifestiert, sind sich die Figuren des decamerotici-Universums sicher, dass sie weder von sich selbst noch von außen irgendetwas zu befürchten haben. Bezeichnend ist hierfür allein schon die Art und Weise wie Antonia überhaupt zu ihrem Habit kommt. Typisch für den Nonnensexfilm ist eigentlich, eine Figur im Zentrum zu haben, die gegen ihren Willen im Kloster landet. Antonia indes nimmt den Schleier mehr oder minder freiwillig. Ihr Vater denkt nicht daran, sie zur Nonne zu machen, Antonia als emanzipierte Frau jedoch weiß, dass sie ihn damit erpressen kann, und scheint ihr Noviziat mehr als Auszeit vom Elternhaus zu begreifen – zumal sie ihren Fulco ja, erst einmal Nonne geworden, wesentlich ungestörter treffen und lieben kann als unter den Argusaugen ihrer Familie. Ganz deutlich spürt man in einem Film wie LA BELLA ANTONIA den sorgenfreien Atem Boccaccios, der durch die Klostergänge weht. Amtskirche, Höllenfeuer, verzehrende Leidenschaften sind so weit weg wie sie nur sein können.
Zwei Traditionslinien, die hin zum Nunsploitation-Genre führen, kann man somit ausmachen. Für die erste, wesentlich besser untersuchte, steht ikonographisch Ken Russells wahnwitziger THE DEVILS von 1971, einer Adaption eines Theaterstück, das wiederum auf einem Roman Aldous Huxleys basiert, der darin authentische Vorkommnisse von Nonnenbesessenheit und darasu resultierender brennender Scheiterhäufen im Frankreich des siebzehnten Jahrhunderts dokumentiert. Diese Traditionslinie ist verwurzelt in historischen Ereignissen, in der anti-klerikalen Literatur der Aufklärung, in der, könnte man sagen, „ernsten“ Seite der Dinge. In ihnen erscheinen Nonnen zumeist als Opfer ihrer erfolglos unterdrückter sexueller Gelüste oder eines hierarchischen, patriarchalen Systems, in das sie aus unfreien Stücken hineingeraten sind. Die zweite Traditionslinie indes kommt von der „heiteren“ Seite der Dinge, und versteht das Klosterleben, ausgehend von Boccaccio, als Chance, den Fährnissen der Welt zu entfliehen und in aller Ruhe seine sinnlichen Sehnsüchte hinter schützenden Mauern auszuleben. Die Nonnen in einem Film wie LA BELLA ANTONIA nehmen sich, was sie wollen, und sie bekommen das, was sie wollen. Sie lachen viel, streiten sich höchstens mal darum, wer wann vom Klostergärtner beglückt werden darf, wahren eine Fassade, die sie aufrecht erhalten, um in ihrem Schutz ihre Sexualität zu feiern. Obwohl LA BELLA ANTONIA nun, muss ich sagen, wirklich kein Film ist, den ich besonders empfehlen würde, ist sein historisches Interesse dennoch ungebrochen für mich: Auf der Schwelle zum „richtigen“ Nunsploitation-Film kann man zusehen wie Nonnen für eine halbe Stunde all das tun, was sie später auch noch tun werden, jedoch mit einer Sorglosigkeit, die dahin ist, wenn Paolellas, Mingozzis oder Matteis Nonnen-Figuren bei lebendigem Leib die Haut abgezogen bekommen, bei lebendigem Leibe eingemauert werden oder von den Inquisitionsrichtern bei lebendigem Leib unaussprechliche Folterqualen erdulden müssen.