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Die Spielregel - Jean Renoir (1939)

Verfasst: Sa 3. Dez 2016, 14:33
von Salvatore Baccaro
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Originaltitel: La règle du jeu

Produktionsland: Frankreich 1939

Regie: Jean Renoir

Darsteller: Nora Gregor, Marcel Dalio, Jean Renoir, Paulette Dubost, Roland Toutain, Mila Parély
Fragt man eine Gruppe Cineasten nach einem Film, der bei seiner Premiere ein beispielloser Misserfolg gewesen, später aber unter die besten und wichtigsten Werke der Filmgeschichte eingeordnet worden ist, dann kommt die Sprache wahrscheinlich bald auf Jean Renoirs LA RÈGLE DU JEU aus dem Jahre 1939. Renoir, gefeierter Regisseur der Zola-Adaption LA BÊTE HUMAINE (1938) und dem Antikriegs-Drama LA GRANDE ILLUSION (1937), gründet für sein bis dahin ambitioniertestes, d.h. teuerstes Projekt eine eigene Produktionsfirma, die NEF (Nouvelles Éditions de Films), treibt schätzungsweise 5.000.000 Francs zusammen und dreht mit seinem vielköpfigen Cast fast vier Monate in dem Schlösschen La Ferté-Saint Aubin im Loiret-Departement. Das Ergebnis trägt weniger rosige Früchte: Aufgrund der finanziellen Pleite an der Kinokasse muss Renoirs Produktionsfirma Konkurs anmelden, er selbst wird von Presse und Publikum als Nestbeschmutzer geschmäht und seinem Film degenerierte Tendenzen vorgeworfen, schließlich verlässt er Frankreich Richtung Hollywood und wird erst in den 50ern wieder in seinem Heimatland arbeiten. Sicher muss man diese jähe Zäsur in der bis dahin steilen Karriere Renoirs auch vor ihrem historischen Hintergrund betrachten. Als LA RÈGLE DU JEU in den Kinos erscheint, steht der Zweite Weltkrieg bereits in den Startlöchern, ganz Europa zu verheeren, und dass die französische Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt nicht der Sinn nach einer bissigen Gesellschaftskomödie steht, die nicht davor Halt macht, Aristokratie und Militär auf die Hörner zu nehmen, ist rückblickend genauso nachvollziehbar wie das Verbot, das den Film schlussendlich ereilt, um nicht etwa wehrsetzend auf die Kämpfer für Frankreichs Freiheit einzuwirken. Selbst Renoirs eigene Intervention kann da nicht viel retten: Er kürzt sein Werk immer wieder, hat irgendwann über eine halbe Minute aus ihm entfernt, und trotzdem wird es nicht nur auf den Index gesetzt, sondern hagelt es in bestimmten Theatern, die es trotzdem zu spielen wagen, gar Bombendrohungen. Aber Zeiten ändern sich: Der Krieg tobt und vergeht, und nachdem die gröbsten Trümmer beseitigt sind, erklären die Filmkritiker der Cahiers du Cinema bzw. die aufstrebenden Regisseure der Nouvelle Vague wie Godard, Truffaut, Rohmer in den 50ern LA RÈGLE DU JEU mit schöner Regelmäßigkeit in ihren Bestenlisten neben Howard-Hawks-Gangsterstreifen und Nicholas-Ray-Western zu einem ihrer Lieblingsfilme. Seitdem hat das Konjunktur: Renoir wird nachträglich mit Preisen überhäuft, sein Film in die Spitzenetage des Meisterwerkkanons der Filmgeschichte aufgenommen, und noch heute gehört er zu den Werken, denen Medien- und Filmwissenschafts-Studenten in ihrem Ersten Semester oft genug gegen ihren Willen ausgeliefert werden.

Es ist eine Weile her, dass ich LA RÉGLE DU JEU zum ersten Mal gesehen habe, doch ich erinnere mich noch genau an meine Reaktion. Der Film gab mir Rätsel auf, verwirrte mich zutiefst. Er schien keinen einheitlichen Rhythmus zu haben, keinen einheitlichen Tonfall, in dem er mir seine verwickelte Liebesgeschichte erzählt. Er beginnt als Komödie und endet als Tragödie. Es gibt Szenen, die einfach nur grotesk und überzeichnet sind, und dann wieder welche, die ehrlich und realistisch wirken. Man findet Slapstick-Elemente, aber auch den realen Tod realer Kaninchen auf dem Schlachtfeld einer Treibjagd. Nun, Jahre später, kann ich genau das, was mich damals so irritiert hat, als die Qualitäten von LA RÉGLE DU JEU schätzen. Kein Wunder, denke ich mir, dass der Film damals so durchfiel. Er sitzt zwischen allen Stühlen, ist vieles gleichzeitig, und weigert sich nachdrücklich, sich für irgendeine ästhetische Position zu entscheiden. Seine reine Handlung vermengt dabei Versatzstücke aus dem reichhaltigen Fundus der französischen Literatur des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts zu einem Liebesreigen, der jeden Seifenopfer-Rahmen sprengen dürfte: André Jurieux hat gerade mehrere Rekorde gebrochen. Mit seinem Flugzeug ist er quer über den Atlantik geflogen – als erster Franzose und zwölf Jahre nachdem Charles Lindbergh das als erster Mensch überhaupt erfolgreich versucht hat. Eine jubelnde Menge und eine knipsende Pressemeute empfangen den neuen Nationalhelden an der Landebahn. Nur eine fehlt: Christine, die Frau, die er liebt, und wegen der er dieses Wagnis überhaupt auf sich genommen hat. Sein Freund Octave tröstet ihn vergeblich: André lässt sich von seinen verletzten Gefühlen dazu hinreißen, im Blitzlichtgewitter Christine mit Vorwürfen zu überhäufen. Die hört das Ganze zusammen mit ihrer Zofe Lisette per Radio mit, und beteuert ihrem Ehemann, Robert de la Chesnaye, dass sie mit André einzig und allein eine platonische Freundschaft verbinde. Bei Robert sieht die Sache schon anders aus: Seine Geliebte Geneviève ist schon seit langer Zeit fester Bestandteil seiner außerehelichen Aktivitäten. Nachdem André einen Selbstmordversuch unternommen hat, indem er mit seinem Auto gegen einen Baum gerast ist, schafft Octave, Christines väterlicher Freund, den sie noch aus ihrer Zeit in Österreich kennt, es, sie dazu zu überreden, den unglücklich Verliebten zu einer Jagdpartie auf Roberts Landsitz einzuladen. Alles, was in Frankreichs High Society Rang und Namen hat, soll dort auflaufen, und sich, wenn man nicht gerade unschuldige Karnickel abknallt, mit teuren Weinen, belanglosen Gesprächen und Maskenbällen die Zeit vertreiben. Nach einigem Hin und Her sind alle Spieler unseres Liebesvielecks dort vereint, und die Ereignisse überstürzen sich: Durch Zufall erfährt Christine von Roberts Affäre mit Geneviève. Robert allerdings ist bereits dabei, sich von Geneviève loszusagen, für ihn gibt es, sagt er, nur noch Christine. Zugleich setzt André alles daran, Plato aus seiner Beziehung mit Christine herauszuwerfen. Ebenso parallel verguckt sich der neue Bedienstete, ein ehemaliger Wilderer namens Marceau, in Christines Zofe Lisette. Die ist dem nicht abgeneigt, jedoch ihr hochgradig eifersüchtiger Gatte Schumacher umso mehr. Je länger der Jagdausflug dauert desto heftiger steigen die unter Gesellschaftsregeln verborgenen Obsessionen nach oben und verwandeln unsere Helden in hysterische Nervenbündel. Schusswaffen kommen ins Spiel, Mäntel werden vertauscht, bald schon gibt es den ersten Toten…

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Abb.1 & 2: Eine Gesellschaft am Rande des Abgrunds. Nach lustigen Tiroler Tänzen entscheiden sich die Partygäste dafür, einen waschechten danse macabre aufzuführen - während ein eifersüchtiger Ehegatte mit geladenem Gewehr durch das Schloss rast, und während die Nationen Europas sich ebenfalls bereits stützend auf ihre geladenen Gewehre lehnen.

LA RÉGLE DU JEU – der Name ist Programm. Renoir eröffnet in seinem Film ein Tableaux aus unterschiedlichen Figuren sowohl aus der gesellschaftlichen Ober- als auch deren sogenannter Unterschicht, lässt sie konzentriert an einem Ort zusammenkommen, und schaut sich an wie ihren Leidenschaften Normen und Werte im Weg stehen, die nicht die ihren, sondern die ihnen quasi von Geburt an mit der Muttermilch eingetrichtert worden sind. Die Verhältnisse in Roberts Jagdschloss entsprechen einer klassischen Gesellschaftshierarchie: Oben, im Festsaal, speisen die Generäle, Adligen, Neureichen, unten, in der Küche, speist die Dienerschaft. Jeder Tag läuft nach einem festgelegten Schema ab, sei es nun die allabendlichen Kostümaufführungen oder, natürlich, die Treibjagd, bei der die Rollen ebenso klar verteilt sind: Die Dienerschaft scheucht Kaninchen und Fasanen vor sich her, und die Herrschaften verweilen in ihren Hochsitzen, warten bis die Tierchen aus dem Unterholz hoppeln und flattern, und strecken sie dann mittels gezielter Schüsse nieder. Besonders deutlich wird die Determiniertheit der Handlungen unserer Protagonisten in einer Leidenschaft Roberts. Der sammelt nämlich Automaten, kleine Puppen, die mit den Augen zwinkern können, Vorläufer heutiger Roboter. Das Herzstück seiner Sammlung ist eine gigantische Uhr, aus der zu jeder vollen Stunde maschinell betriebene Figuren heraustreten und die Zuschauer begrüßen. Streng durchchoreographiert wie deren Bewegungen sind auch die, die die Schlossgäste ausführen. Oft und gerne fährt die Kamera durch die langen Schlossflure, wo ständig aus jeder Tür irgendwer heraustritt, sich im Gespräch mit jemand anderem verfängt, nur um sofort von jemand anderem zum nächsten Gespräch fortgerissen zu werden. Das antizipiert schon beinahe ein wohlüberlegtes Chaos wie das in den Filmen Andrzej Zulawski, wenn quasi keine Person in irgendeiner Szene jemals alleine ist und pausenlos geplappert, geplaudert und geplärrt wird, und die Kamera gerade in diesen Szenen elegant und aufmerksam durch die unter der konventionellen Fassade allmählich anschwellende Hysterie gleitet. Der General erzählt Anekdoten aus dem letzten Krieg, ein galanter Geck tut sich mit mehr oder minder feinsinnigen Bonmots hervor, Robert fabuliert über die Vorzüge seiner Maschinenmenschen – und währenddessen nähert sich der Film stetig einem Kulminationspunkt, an dem die gesellschaftlichen Spielregeln zusammenzubrechen drohen: Christine knickt endlich vor Andrés Liebesbekundungen ein. Ich liebe Dich auch, sagt sie ihm, und dass sie mit ihm fortgehen wolle, jetzt, sofort. Nur sind da schon wieder die Konventionen, die dem einen Riegel vorschieben. André zögert plötzlich. Einfach so abhauen, das kann er sich nicht vorstellen. Sie müssen die Sache doch erst mit Robert klären, oder nicht?

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Abb.3 & 4: Der Einbruch der Wirklichkeit in die Fiktion. Aufmerksam schaut Renoirs Kamera zu wie das Leben aus dem angeschossenen Kaninchen entweicht. Sein Körper verkrampft sich, streckt sich. Wir erkennen, dass keine Seele mehr in ihm wohnt, wenn sich die Hinterläufe so lang wie möglich machen, und sich dann versteifen. Die Landschaft nach der Schlacht wiederum ist gesäumt von zahllosen toten Körpern. Es ist, als würde man eine Kriegsphotographie aus den Schützengräben von 1918 betrachten, nur dass alle Menschen durch Langohren und Geflügel ersetzt worden sind.

Das klingt alles furchtbar dramatisch, und ist es wohl auch, aber darüber sollte nicht vergessen werden, dass LA RÉGLE DU JEU sich vor allem der Mittel der Komödie bedient, um seinem Publikum einen Spiegel vorzuhalten. Dass es in einem französischen Film vor Dialogwitzen nur so wimmelt, dürfte niemanden überraschen, und dass sie hauptsächlich auf die bereits erwähnte Stückeschreibertradition voriger Jahrhunderte rekurrieren, erschwert es für den heutigen Betrachter natürlich eher, sie alle allumfassend zu verstehen, doch ein Gag wie der, dass der Chefdiener Roberts ausgerechnet Corneille heißt, und er an einer Stelle von der Herrschaft angeschrien wird, er solle endlich diese Komödie beenden!, funktioniert, glaube ich, auch heute noch. Ein weiterer Witz, über den ich mich köstlich amüsieren kann: Nach der Jagd beobachten unsere weltfremden Aristokraten ein Eichhörnchen. Einer hat ein Guckglas dabei, durch das man Details noch auf mehrere Kilometer erkennen kann. Christine ist ganz verzückt, als sie es auf das Eichhörnchen richtet. Während die Kamera es uns in Großaufnahme zeigt, bejubelt sie die Schärfe des Guckglases, und es wirkt, als seien wir auf einmal in einen Werbespot für Kameralinsen geraten. Höhepunkt für mich ist natürlich das finale Chaos, in dem Schumann seinen Nebenbuhler Marceau mit einem Gewehr hetzt, und sämtliche Partygäste glauben, das sei lediglich eine weitere von Roberts exzentrischen Show-Einlagen. Da stürzen Leute hinter Sofas, Geneviéves Schauspielerin Mila Parély fällt überzeugend in Ohnmacht, Marcel Dalio, der den Robert spielt, verliert ebenfalls kurzzeitig völlig die Contenance, es kommt zu Schlägereien und Schusswechseln.

Dadurch, dass LA RÉGLE DU JEU größtenteils bewusst in einem lockeren, heiteren, unbeschwerten Ton gehalten ist, der noch die schlimmsten menschlichen Unglücksfälle und Schicksalsschläge mit einem Lächeln zur Seite schiebt, wirken letztlich die Einbrüche von Tragik und Schmerz umso heftiger als in einem Film, der sowieso von Anfang an die Tränendrüsen melkt. Die Figur des Octave ist hierfür vielleicht das anschaulichste Beispiel. Der pummelige, liebenswerte, etwas kindliche Freund Christines wird von niemand Geringerem als Jean Renoir höchstpersönlich zunächst als eine Art Mittler zwischen den Personen dargestellt, dabei stets gutaufgelegt und sogar bereit - übrigens eine der putzigsten Szenen des Films - für die Abendgarderobe in ein lausiges Bärenkostüm zu schlüpfen. Doch dann, gegen Ende, wandelt sich Octave immer mehr. Wir erfahren in einem Monolog seinerseits, dass er der Sohn eines weltberühmten Dirigenten ist, der es selbst nie zu Weltruhm geschafft hat, während er derart bekümmert auf der Außentreppe des Schlosses sitzt, dass er selbst die Anwesenheit Christines nicht erträgt – und bedenkt man, dass Jean Sohn des weltberühmten Malers Auguste Renoir ist, und dass vorliegender Film, in dem er diesen Monolog hält, zumindest zunächst gnadenlos scheitern wird, bekommt die persönliche Tragödie des fiktiven Octave, ob nun bewusst oder unbewusst, noch eine, finde ich, metadiskursive Ebene aufgepfropft. Interessant für Renoirs feinsinniges Lavieren zwischen einem ausgelassenen Lachen und einem, das einem auf halbem Wege in der Kehle steckenbleibt, sind dann noch die beiden wohl berühmt-berüchtigtsten Szenen des Films: Da wäre der Totentanz, den die Schlossgäste eines Abends aufführen. In schaurigen Skelettkostümen, unter Bettlaken und zu Klängen von Saint-Saëns tanzen einige unserer Protagonisten durch die theatralisch-erschrocken aufschreienden Zuschauerreihen und stellen, ohne es zu ahnen, eine Gesellschaft am Rande des Abgrundes dar. Oft genug ist darauf hingewiesen worden, auch von Renoir selbst, dass LA RÉGLE DU JEU am Vorabend des Zweiten Weltkriegs entstanden ist. So wie der Totentanz damit schon all die Massengräber vorwegnimmt, die sich in den kommenden Jahren auftun werden, und zugleich die Ignoranz einer High-Society porträtiert, die derart verwickelt ist in ihre Liebestechtelmechtel, dass sie von dem sich um sie herum verdichtenden weltpolitischen Unheil kein bisschen etwas wahr-nehmen oder wahrzunehmen bereit ist, so deutet auch die wirklich heftige Treibjagdszene auf ein sinnloses Schlachten hin, das zwar nach bestimmten rationalen Regeln abläuft, ansonsten aber vor allem darauf bedacht ist, so viele Leichen wie möglich zu sammeln. Noch während sie Auerhähne aus der Luft schießen, ergehen sich unsere Helden in launigen Konversationen, oder streiten sich darüber, wessen Kugel nun welches Kaninchen niedergestreckt hat, oder nutzen die Pausen, um heimlich hinter Büschen zu knutschen. Dass Christine dabei per Fernglas ihren Ehemann und seine Geliebte ertappt, das ist für alle Beteiligten ein größerer Schock als die bergeweise toten Tiere, die danach von den Bediensteten eingesammelt und zur Kür des diesjährigen Jagdkönigs ins Schloss gebracht werden.

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Abb.5: Die finale Einstellung, direkt gefilmt aus Platos Höhle: Ein Mord ist geschehen, doch egal, die Party geht weiter, nein, sie muss sogat weitergehen. Jedoch begeben sich nicht die Menschen zurück in den Festsaal, sondern lediglich ihre Schatten.

Jean Renoirs Meisterleistung ist möglicherweise gerade das, was ich bei meiner ersten Sichtung mit sechzehn oder siebzehn nicht verstanden habe: Sein Film oszilliert ständig zwischen den Polen, ist einmal so fröhlich wie eine Komödie sein soll, um mich ernsthaft zum Lachen zu bringen, schlägt aber eine Szene später schon um in Szenen echten Sterbens und Tötens, das ich mich meines vorherigen Lachens fast schon schäme. Dieser Film ist unberechenbar – seine Kameraarbeit, mal schnell, hektisch, dann wieder statisch, elegisch, seine Schauspieler, die eben noch wild gackern, und einen Moment danach tieftraurig in sich zusammensinken, seine Handlung, die über alles hinwegfräst, was es an Topoi im französischen Theater gibt und gab, und durch ihre merkwürdigen Kapriolen nichtsdestotrotz stets zu überraschen weiß, schließlich seine sorgfältigen Bildkompositionen, fast wie Gemälde, in deren Betrachtung man sich zurücklehnen und noch bei der dreißigsten Sichtung nach Details suchen kann, die einem bislang entgangen sind. LA RÉGLE DU JEU, das ist ein Film, für den ich beide Hände ins Feuer lege. Endlich einmal hat der Kanon einmal Recht behalten.

Re: Die Spielregel - Jean Renoir (1939)

Verfasst: Do 23. Dez 2021, 14:56
von buxtebrawler
Jean Renoirs („Bestie Mensch“) Satire „Die Spielregel“ galt in ihrem Erscheinungsjahr 1939 als die bis dato kostspieligste französische Kinoproduktion überhaupt – und floppte an den Kinokassen kolossal. Der unmittelbar vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs entstandene Film wurde vom Publikum weitestgehend abgelehnt oder missverstanden bzw. wollte nicht verstanden werden. Seinen wohlwollenden Leumund erhielt „Die Spielregel“ erst, nachdem die Katastrophe eingetreten war und der Krieg große Teile der Welt in Schutt und Asche gelegt und Abermillionen Menschenleben gekostet hatte.

Der Rekordpilot André Jurieux (Roland Toutain, „Die Lüge der Nina Petrowna“) ist zum französischen Nationalheld avanciert, nur Christine (Nora Gregor, „Abenteuer am Lido“), in die er unglücklich verliebt ist, zeigt sich auch von seiner jüngsten Atlantikquerung unbeeindruckt. Noch vor der Journalistenschar, die ihn am Flugplatz empfängt, schimpft er darüber ins Mikro, sodass Christine seine Botschaft per Radio empfängt und sich gegenüber ihrem Ehemann Robert de la Cheyniest (Marcel Dalio, „Die weiße Sklavin“) erklären muss. Dabei unterhält er im Gegensatz zu seiner Frau tatsächlich eine Affäre, nämlich zu Geneviève (Mila Parély, „Die freudlose Gasse“). André unternimmt einen erfolglosen Selbstmordversuch, woraufhin es Octave (Jean Renoir), einem gemeinsamen Freund beider, immerhin gelingt, Christine zu überreden, André zu einer Jagdpartie auf dem Landsitz einzuladen. Dort versammelt sich die höhere Gesellschaft Frankreichs, frönt der Kaninchenjagd und feiert ihren dekadenten, oberflächlichen Lebensstil. Als Christine dort von Roberts Affäre mit Geneviève erfährt, ist dies nur der Startschuss für weitere zwischenmenschliche Verwicklungen und Zerwürfnisse und eine sich immer weiter hochschaukelnde Zügellosigkeit, die unter der Maske der Etikette lauerte. Das geht nicht lange gut und wird bald Menschenleben kosten…

Nach ein paar Texttafeln steigt Renoir direkt in die Handlung ein, die sich in ihrer stilistischen Melange aus Drama, klassischer französischer Komödie, poetischem Realismus und Gesellschaftssatire zunehmend anstrengend präsentiert und deren Humor nicht (mehr?) so recht zünden will. Das entlarvend oberflächliche Figurengeplapper innerhalb einer unübersichtlichen Gemengelage wurde offenbar größtenteils improvisiert, die Ereignisse in fünf Akte wie im klassischen Theater aufgeteilt und mit Barockmusik unterlegt. Die versammelte Gesellschaft wird immer mehr zu einem Mikrokosmos des französischen Klassensystems; Ziel Renoirs Spotts ist dabei die Oberschicht, der angesichts der weltpolitischen Entwicklungen Belanglosigkeiten wichtiger sind als Bedeutsames und die in einer Mischung aus Ignoranz und Dekadenz die Augen vor dem nahenden Unheil verschließt. Die Etikette muss gewahrt werden, bei allem, auch den größten Schweinereien – daraus speist sich der Humor des Films.

Die innovative Kameraführung mit ihrer Tiefenschärfe und ihren Long Shots weiß zu gefallen, was sie einfängt mutet hingegen nicht selten wie ein Straffilm fürs Publikum an, der nicht nur die Oberschicht konfrontiert, sondern auch das normale Durchschnittspublikum eher ratlos zurückgelassen haben dürfte. Die Schauspieler(innen) hat man offenbar bewusst gegen den Strich gecastet; die von ihnen verkörperten Figuren bleiben ohne Hintergrundgeschichten und Profile reine Abziehbilder, die sich dem überdrehten Konzept unterzuordnen haben. Zurecht verfiel Renoir in tiefe Besorgnis über das Münchner Abkommen und die Aussicht auf den Zweiten Weltkrieg, doch als Kritik an französischer Tatenlosigkeit hätte ich mir „Die Spielregel“ wütender gewünscht, als Verballhornung der Bourgeoisie spottender. Vielleicht trifft er, ähnlich wie manch anderer französischer Satirefilm („Das große Fressen“ bspw.) einfach nicht meinen Humor, vielleicht muss man die damalige gesellschaftliche Stimmung besser nachempfinden können, um einen besseren Zugang zu diesem Film zu finden.

Die diffizile Veröffentlichungsgeschichte des Films, der von Zensur und Kürzungsauflagen betroffen war, und der Umstand, dass Renoir als Nestbeschmutzer diskreditiert wurde, bestätigen den von Renoir abgebildeten damaligen Zustand der französischen Gesellschaft und machen den Film indes nachträglich historisch besonders interessant. Insbesondere denjenigen, die sich dem Film wissenschaftlich-analytisch nähern, dürfte es eine helle Freude bereiten, all seine Anspielungen und Referenzierungen zu dechiffrieren. Nach meiner Erstsichtung überwiegt jedoch die Frage, ob Renoir als Künstler nicht zumindest ein Stück weit auch Teil der von ihm kritisierten Ignoranz ist, wenn es ihm nicht gelingt, allgemeinverständlicher vor dem verheerenden Krieg zu warnen und zu klassenübergreifendem gesellschaftlichem Zusammenhalt aufzurufen, statt seine Anliegen in einer derartigen Farce zu verklausulieren…?