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Mouchette - Robert Bresson (1967)

Verfasst: Sa 23. Sep 2017, 10:21
von Salvatore Baccaro
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Originaltitel: Mouchette

Produktionsland: Frankreich 1967

Regie: Robert Bresson

Darsteller: Nadine Nortier, Jean-Claude Guilbert, Marie Cardinal, Paul Hebert, Jean Vimenet
Gestern schaute ich mir eine Wasserburg in einem kleinen Ort etwa fünfzehn Kilometer außerhalb der Stadt an, in der ich wohne. Nachdem ich gesehen hatte, was ich hatte sehen wollen, beschloss ich, den vielleicht letzten warmen Tag des Jahres für eine Fußwanderung zurück zu nutzen. Kurze Zeit war ich erst zwischen Feldern und Äckern soweit das Auge reicht unterwegs, als mich ein Anblick regelrecht an Ort und Stelle festkleben ließ. Vor mir, hinter der Kuppel eines der seltenen Hügel dieser Gegend, konnte man die höchsten Punkte des Panoramas der Stadt erkennen, während die dazwischenliegenden Orten, in einer Art Talsenke liegend, unsichtbar blieben. Ich sah: die Spitze des Doms, in dem ein berühmter Reichsfürst begraben liegt; das Hochhaus am Hauptbahnhof, in dessen oberster Etage sich ein Swinger Club befindet, in dem ich mit einer Freundin vor eineinhalb Jahren eine Lesung gehalten hatte; den Industrieturm in der Nähe von Schwimmbad und Jüdischem Friedhof; die Spitze der Kirche gleich bei mir um die Ecke, die Karl Philipp Moritz in seinem wundervollen ANTON-REISER-Roman erwähnt. Für einen Moment kam ich mir vor, als sei ich mitten in einen Merian-Stich gestolpert. Es fiel mir schwer, mich von dieser Perspektive zu trennen. Ich bedauerte nicht mal, keine Kamera dabei zu haben. Es fühlte sich an wie Heimat.

Abends komme ich endlich dazu, mir einen weiteren Film von Robert Bresson anzuschauen. Auch MOUCHETTE, veröffentlicht nur ein Jahr nach AU HASARD BALTHAZAR, habe ich vor vielen Jahren im Spätprogramm irgendeines Öffentlich-Rechtlichen Senders gesehen, und seitdem im Herz behalten, aber trotzdem - warum nur? - keine Anstalten gemacht, ihn mir zu besorgen. Er basiert auf einem Roman von George Bernanos, den eine Ex-Freundin besessen hat - gelesen hab ich ihn nie. Seinen Trailer hat Jean-Luc Godard gemacht. Dieser Film sei katholisch und sadistisch, heißt es dort. Außerdem sei er eine Messe. Eine Messe in Schwarz und Weiß.

MOUCHETTE ist, wie BALTHAZAR, eine Heiligengeschichte. Dieser Film findet das Sakrale dort, wo der Alltag unerträglich wird. Mouchette ist ein kleines Mädchen, viel jünger noch als Marie in BALTHAZAR: Die Außenseiterin ihres Dorfes, der Paria, dem die Buben ihre Geschlechtsteile zeigen, um ihn zu provozieren, und der von der Lehrerin in schöner Regelmäßigkeit vor der gesamten Klasse bloßgestellt wird, und der sich in der Dorfkneipe die Hände wund wäscht, damit sein Vater sich in hässlicher Regelmäßigkeit ins Koma saufen kann, und der sich um das kleine Brüderchen, ein Säugling noch, kümmern muss, weil die Mutter sterbenskrank das Bett hütet. Mouchette hat keine andere Möglichkeit als diese: Zu erdulden. Dass die anderen Kinder sich über ihre laut klappernden Holzschuhe lustig machen. Dass die alten Dorfweiber sie scheel ansehen, und hinter ihrem Rücken über ihre Eltern lästern. Dass sie, weil sie vorm Gottesdienst in eine Pfütze tritt, von fremden Männern tätlich angegriffen wird. Nur einmal erlebt sie im ersten Drittel des Films sowas wie Glück: Auf dem Rummel, beim Autoscooter, und weil ihr ein Knabe ein Los für die große Ziehung schenkt. Wie unausweichlich mechanisch Bresson das Leben auf dem Land schildert, wie voller Rollenbilder, in die man hineinwächst und dann nie wieder herauskommt, und mit welch unbarmherziger, vollkommen banaler Grausamkeit zeigt der Ausgang dieser Szene: Ein Arm packt Mouchettes Schulter. Die Hand ihres Vaters klatscht ihr ins Gesicht. Sie wird von dem Jungen weggezogen, muss neben ihrem Vater sitzen, während er sich besäuft, weint still.

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MOUCHETTE ist eine Welt voller Töne. Holzschuhe klappern. Der Sturmwind pfeift. Morast quietscht. Kleine Vögel verfangen sich in den Fallstricken von Arsène, dem örtlichen Wilderer. Der wiederum pfeift dem Barmädchen Luisa hinterher. Aber auch Mathieu steht der Sinn nach einer Frau, die jünger ist als die eigene. In einer Sturmnacht kommt es zum Showdown. Oder zumindest zu dem, was in Bressons nach wie vor entschleunigter, entdramatisierter, von jeglichem exaltierten Ballast befreiten Vision einem Showdown noch am nächsten kommt: Mathieu erwischt Arsène beim Wildern. Sie prügeln sich. Dann trinken sie zusammen. Es kommt erneut zum Streit. Arséne glaubt, seinen Kontrahenten umgebracht zu haben. Mouchette ist Zeugin, Komplizin, schließlich Opfer.

Noch mehr als AU HASARD BALTHAZAR hat Bresson seinen Film einem kompromisslosen Minimalismus unterworfen . Manchmal hat der Film beinahe etwas Kammerspielartiges. Die Sprache ist genauso reduziert, auf das Nötigste beschränkt, wie im Vorgängerfilm, dafür der Personenkreis noch extremer konzentriert. Mouchette bildet, wie der Esel zuvor, Dreh- und Angelpunkt des Szenarios. Aber sie erlebt weniger, kommt weniger herum. Sie ist gefesselt an ihre ärmliche Existenz als Sündenbock in einem französischen Dorf, wo das Schnapsbrennen und das Frauenschlagen zum guten Ton gehören, und man entweder die Regeln der heuchlerischen Moral akzeptieren und mitspielen, oder aber, wie Mouchette es tut, den sozialen und physischen Tod wählen kann.

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Als Arsène einen epileptischen Anfall erleidet, singt sie ihm ein Lied, das sie am Morgen, in der Schule, kaum über die Lippen gebracht hat. Alle Hoffnung ist verloren, kommt es über die Lippen der blutjungen Nadine Nortier, die Bresson nicht etwa von der Schauspielakademie, sondern von der Straße wegengagiert hat. Landstreicher Arsène wird erneut, wie der Herumtreiber Arnold, von dem Amateur Jean-Claude Guilbert gespielt. Der taucht ansonsten fast nur noch in einer Minirolle in Godards WEEK END auf. Mit Godard hat MOUCHETTE, obwohl er Fan von Bresson gewesen ist, übrigens nichts zu tun. Wo dessen Filme drohen, taumelnd zusammenzubrechen unter dem zentnerschweren Überbau einer ganzen Bibliothek aus intellektuellen Querverweise, sind die von Bresson von einer unprätentiösen Deutlichkeit, dass es einem das Herz bricht.

Mouchette kehrt nach Hause zurück. Arsène hat sie vergewaltigt. In der gleichen Nacht stirbt ihre Mutter. Zuvor werden wir Zeugen der wohl schrecklichsten Mutter-Kind-Szene der gesamten Filmgeschichte. Nicht, dass Mouchettes Mutter ihr etwas antun würde. Sie sieht einfach ihre Tränen nicht, die dafür ins Gesicht ihres kleinen Brüderchens fallen. Im Ofen knistert das Holz. Scheinwerfer vorbeifahrender Autos streichen das viele Unausgesprochene, das zwischen Mutter und Tochter die Stille unerträglich macht. Mouchette wird von ihrer Mutter das Schlimmste angetan.

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Ihr Vater betrinkt sich. Tot liegt der mütterliche Körper aufgebahrt im Bett. Mouchette zieht mit der Milchkanne los. Im Dorf hat sich etwas verändert. Dadurch, dass der Tod in ihre Familie einbrach, begegnen ihr die Leute auf einmal mit vorgeblichem Respekt, der freilich, unter seiner Maske, nur Neugierde oder schlechtes Gewissen oder Konformismus ist. Man tut das eben, der Göre ein Croissant und eine Tasse Kaffee zu schenken, denn ihre Mutter ist gestorben letzte Nacht. Man tut das eben, sie einzukleiden für die Beerdigung mit irgendeinem alten Kleid, das man sowieso schon viel zu lange im Schrank hängen hat. Man tut das eben, sie auszuhorchen, was letzte Nacht mit Arsène und ihr vorgefallen ist, und weshalb ihr ein Knopf oben an der Bluse fehlt. Am ehrlichsten sind noch die Schulbuben. Als sei nichts geschehen, pöbeln sie Mouchette an, und wollen sie mit ihren Geschlechtsteilen provozieren.

Marie in BALTHAZAR hatte wenigstens die Möglichkeit eines Auswegs. Jacques will sie heiraten. Ihr Vater ist einverstanden. Sie wählt trotzdem die Flucht in die Prostitution. Mouchette hat demgegenüber gar keine solche Möglichkeit. Was sie tut oder was sie nicht tut: Es würde nichts ändern an ihrer Situation. Sie kann werden wie ihre Mutter, Frau eines Alkoholikers, überfordert, verhärmt, oder sie kann gar nicht werden. Sie entscheidet sich für Letzteres.

Ihre kindliche Rebellion: Der alten Frau, die so tut, als läge sie ihr am Herzen, den Teppich ruinieren, in dem sie die schlammverkrusteten Schuhsohlen dort abwischt. Der Krämerladensfrau das Croissant hinterherwerfen, denn Almosen mag sie nicht. Mathieus Frau, die sie aushorchen will, schnippisch die Antwort geben, sie sei Arsènes Geliebte, natürlich. Aber auch: sich im nahen Bach ersäufen.

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Sollte das nicht eine Anspielung auf Jean Renoirs LA RÉGLE DU JEU sein, die Kaninchenjagd kurz vor Ende, alles echt, ein Kaninchen in Großaufnahme sterbend, getroffen, sich aufbäumend, zappelnd, zuckend, unerträglich, schließlich leblos? Auf dem Papier klingt das vielleicht wie eine abgeschmackte Metapher: Mouchette ist eins dieser Kaninchen, nicht wahr? Im Film könnte nichts abgeschmackter werden. Bresson kennt das Wort Dramatik nicht mal vom Hörensagen. So wie Mouchette gelebt hat, stirbt sie. Unbeteiligt, ein Gesicht aus Granit, über das Tränen rinnen, als gehörten die gar nicht zu ihr. Sie schaut zu wie das Kaninchen verendet. Sie winkt einem jungen Mann auf einem Traktor. Er guckt zu ihr hin, ignoriert sie. Danach braucht sie drei Anläufe, um im Fluss zu landen. Musik ertönt – seit dem Vorspann zum ersten Mal: das MAGNIFICAT von Claudio Monteverdi.

Am Ende dann noch etwas Kinomagie: Wir sehen die Flussoberfläche. Wir sehen das weiße Kleid, in das Mouchette sich wie in ein Leichentuch eingewickelt hat. Wir sehen das Wasser konzentrische Kreise ziehen. Bresson macht daraus einen Loop. Die Kreise ziehen sich zusammen, weichen voneinander, immer wieder. Das ist nicht nur ein leicht durchschaubarer Effekt, um zu verdeutlichen, dass unsere Heldin wirklich dort unten liegenbleibt, und nicht gleich wieder zum Luftholen auftaucht. Es ist zugleich ein simples Beispiel für die Macht, die das Kino über Zeiten und Räume haben kann. Wenn Bresson gewollt hätte, hätte das Wasser sich für alle Ewigkeit kräuseln können – oder zumindest so lange bis der Film reißt.

Ich bin in einem kleinen katholischen Dorf aufgewachsen. Ich weiß noch: Die Wände der Kapelle waren voller Heiligenbilder. Im Grunde ist das meine erste Kino-Erfahrung: Als kleiner Junge gucke ich mir all die Geschichten, all die Gesichter an, als müsste ich sie mir ganz genau einprägen. Der Heilige Thomas. Der Heilige Antonius. Die Heilige Anna. Wie muss das erst auf einen Menschen zu einer Zeit gewirkt haben, als es noch überhaupt keine Filme gab, keine Photographie? Das Licht, das sich durch das Buntglas wühlt, und diese Geschichten, diese Gesichter zum Leben erweckt – was für ein Wunder! Mouchette, Marie und Balthazar gehören genau in diese Reihe. Ihre Hagiographien, von Bresson so wundervoll verfilmt, dass mir die Knie weich werden, haben einen reinigenden Effekt, läuternder als jeder Beichtstuhlbesuch.

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Auch MOUCHETTE ist einer der schönsten Filme, die jemals gedreht worden sind.