Antiporno
Anchiporuno
Japan 2016
Regie: Sion Sono
Ami Tomite, Mariko Tsutsui, Fujiko, Sayaka Kotani, Tomo Uchino, Hirari Ikeda, Ami, Saki, Yûya Takayama, Mana Yoshimuta, Ami Fukuda, Honoka Ishibashi, Dai Hasegawa, Takumi Bando, Hideyuki Kobashi
- Antiporno.jpg (101.51 KiB) 1854 mal betrachtet
OFDB
Das japanische Kino ist bekannt für seine Absonderlichkeiten. Viele Regisseure haben Grenzen ausgelotet, Tabus gebrochen und filmische Exzesse ausgelebt. Damit meine ich sowohl vom Mainstream akzeptierte Künstler wie Takashi Ishii, Kinji Fukasaku oder Takashi Miike, aber auch „Avantgardisten“ wie etwa Shin'ya Tsukamoto oder Tetsuya Nakashima. Ein durchgeknallter Pop-Art-Film wie DIE FAMILIE MIT DEM UMGEKEHRTEN DÜSENANTRIEB jedenfalls schaut im Kosmos von Filmen wie TETSUO oder THE WORLD OF KANAKO sogar fast noch bieder aus.
Manchmal allerdings übertreiben es die Japaner dann auch mit dem Willen zur Avantgarde. Filme wie RUNNING IS SEX sind dann schon ... sagen wir mal fremdartig. Großartig, aber eben anders. ANTIPORNO ist auch so ein Film, der eher in die Kategorie „Ausgesprochen eigenständig“ fällt: Die junge Kyoko (Ami Tomite) ist eine Künstlerin und Schriftstellerin, die zwischen dem morgendlichen Kotzen und einem Interview am Nachmittag hauptsächlich vollkommen am Rad dreht und nebenberuflich ihre Sekretärin Noriko schurigelt. Als eine Interviewerin zusammen mit Kamerafrau und Fotografin erscheint, endet das ganze damit, dass die Gehilfin der Kamerafrau mit ihrem Plastikdildo Noriko vögelt, während die Interview-Tante das Interview völlig im Alleingang erledigt und Kyoko im Hintergrund tanzt und singt. Was die ersten 30 Minuten des Films beschreibt! Danach kommen noch weitere 43 Minuten, und die sind dann bei weitem nicht mehr so gradlinig erzählt, sondern rauschen wie ein betrunkener Surfer durch verschiedene Erzählebenen, treiben zwischen Roman Porno und Coming-of-Age-Drama an den Rand des Verstandes, und überfluten den Zuschauer mit einem Rausch aus Bildern, der einem LSD-Trip in Nichts nachsteht.
Da taucht ein Filmset auf, und die Rollen von Kyoko und Noriko drehen sich um 180 Grad, da wird erzählt warum Kyoko so auf Sex fixiert ist (ein Trauma aus der Jugend), und warum ihre Schwester bei ihr am Klavier sitzt (selbstverständlich nur als Erscheinung, und nur Kyoko kann die Schwester wahrnehmen). Dann steht Kyoko auf einer Bühne und muss sich vor Noriko für ihr schlechtes Schauspiel rechtfertigen, während das Publikum lacht, bis dann am Ende(?) nicht mehr Noriko mit einem Hundehalsband gedemütigt wird, sondern Kyoko das gleiche(?) erlebt(?). Bild und Traum, Rausch und Wirklichkeit, Wahn und Staunen, alles vermischt sich zu einer Kakophonie aus Sex, Wut, Hass, Angst und Blut, bis dann am Ende die Farbe, die den gesamten Film bereits beherrscht hat, herabfällt und Ami Tomite zu einem bunten Abziehbild einer niemals stattgefundenen Wirklichkeit werden lässt.
So beeindruckend dabei die schauspielerischen Leistungen sind, so schockierend die Meta-Ebene der Filmcrew ins Bewusstsein dringt, und so überwältigend die farblichen Sets auch erscheinen, eine Frage stellt sich halt doch immer wieder: Was soll das? Wo ist der Sinn dieses avantgardistisch-nebulösen Wahns? Die Auflösung der Roman Porno-Gesetze? Das mehrfache Durchdringen der vierten Wand? Die Entlarvung feministischer Forderungen zu Gunsten sexueller Ausnutzung? Das ist alles sehr schön anzusehen und erfüllt den Fernsehbildschirm mit vorher kaum geahnten Farben. Allein der Sinn dahinter ist leider ebenfalls kaum zu ahnen. Style without any Substance? Oder bin ich zu einfach gestrickt, um die tiefenanalytischen Rekursionen der Narration zu erkennen? Ist meine filmische Wahrnehmung nach Hunderten von Krimis, Thrillern und Western so degeneriert, dass ich ein visuell-narratives Experiment nicht als der Wahrheit letzter Schluss erkennen kann?
Schwer zu sagen, und würde ich von der arrivierten Kulturkritik bezahlt werden, dann fielen mir bestimmt ein Dutzend cool klingender Fremdwörter ein, die den Film perfekt beschreiben ohne ihn zu erläutern, womit ich meine intellektuelle Überlegenheit nach außen glaubhaft beweisen könnte – Und mir dann heimlich einen Jean-Claude van Damme-Film reinpfeifen würde, damit ich das auch selber glaube was ich da zusammenschreibe. In dieser Wirklichkeit aber, in der sich gigantische Farbspielereien im Fernseher ergießen, und kryptisch dialogisierende Frauen sich ausziehen und gegenseitig zur Sau machen, in dieser Wirklichkeit stehe ich ratlos da, staune ob des unbedingten Kunstwillens des Regisseurs, und lege mir anschließend ganz offiziell einen Maurizio Merli-Film in den DVD-Spieler, um nahrhafte und spannende Unterhaltung zu genießen.
ANTIPORNO ist nicht schlecht. Er ist provokant, künstlerisch interessant, und auf eine ganz eigene Art nicht unerotisch. Das Spielerische, mit dem Sion Sono die Grenzen des Roman Porno-Klischees aufbricht und die Erwartungshaltung des Zuschauers (und sicher auch des Produzenten) unterläuft, die stellt den Film meilenweit über verquaste Kopfgeburten à la A THOUGHT OF ECSTASY. ANTIPORNO war immerhin Sonos Beitrag zum Roman Porno Reboot der Produktionsfirma Nikkatsu, bei dem fünf unterschiedliche japanische Regisseure gebeten wurden Filme zu drehen, die den gleichen Regeln gehorchen wie die entsprechenden Klassiker aus den 70ern. Und Sono, von dem es heißt, dass sein Stil Attribute wie groteske Gewalt, extreme Erotik, philosophische Referenzen, surreale Bilder und komplexe Erzählweisen kombiniert, und der einen gewissen Hang hat zum sogenannten "Ero-Guro-Nansensu-Genre" (1), langt hier in die Vollen und zeigt seinen Kritikern lustvoll und mit einem breiten Grinsen, wie man diese Ausrichtungen miteinander kombinieren kann. Das ganze noch unter den Gesichtspunkten
Feminismus und
Roman Porno betrachtet, und fertig ist ein Mindfuck der ganz besonderen Art, der seine Kraft und seine Anziehung auch unter Umständen erst nach einiger Zeit entfaltet. Wenn man sich nämlich später, nach dem Genuss besagter van Damme- oder Merli-Filme fragt, warum die so verdammt vorhersehbar sind …
Beim Schreiben dieses Textes recherchierte ich zunehmend nach den Filmen von Sion Sono, nach seiner Rezeption, und sah mir auch immer wieder Ausschnitte seiner Filme an beziehungsweise besorgte mir andere seiner Arbeiten. Dabei fiel mir auf, dass viele Themen, die ich in ANTIPORNO angeschnitten gesehen habe, auch in anderen Filmen wieder auftauchen. Dass Sono sich oft auf ähnliche Themen bezieht, und diese immer wieder aus anderen Blickwinkeln betrachtet, die Narration also immer wieder in verschieden große und kleine Stücke zerreißt und neu zusammensetzt. Sonos Filme bestehen oft aus einzelnen Momenten, die nacheinander betrachtet vielleicht nicht immer Sinn ergeben müssen, aber in der Übersicht plötzlich ein intensives und wildes Gemälde ausmachen. Und in dem Augenblick spürte ich, dass dieses farbintensive und narrativ-labyrinthische Experiment tiefer in die Hirnrinde eingedrungen war als ursprünglich gedacht, und dass zumindest die Farben tatsächlich Ablagerungen hinterlassen haben, die nach mehr schreien. Nach mehr Irrsinn, mehr Wahn, mehr Experiment, und mehr Rausch. Ein ganzes Paket Sono-Filme wurde geordert, und dieses cineastische Delirium will jetzt nach und nach begutachtet werden. Auf dass die Welt zumindest für ein paar Stündchen eine andere wird. Eine buntere, eine quietschigere Welt, voller Farbe und Sex, voller Leben und Gefühle. Auf dass ich, bevor ich diesen Text endgültig abschließe, doch erst noch ein paar andere Filme dieses außerordentlichen Regisseurs gesehen habe. Über Jess Franco heißt es, dass man, wenn man nicht alle Filme des Regisseurs gesehen hat, keinen seiner Filme gesehen hat. Sollte es bei Sion Sono genauso sein?
Mehrere Sono-Filme später kann auch dies dann tatsächlich bestätigt werden. Dieses mehr an Farbe und Sex, an Leben und an Gefühlen, in Verbindung mit einem filmischen Universum das so reichhaltig ist, dass auch das Franco-Zitat auf Sion Sono zuzutreffen scheint. Von daher ist ANTIPORNO tatsächlich der Beginn einer wunderbaren Freundschaft …
(1)
https://jenniferlinton.com/2015/06/16/d ... roduction/
7/10