Gribiche - Jacques Feyder (1925)
Verfasst: Di 5. Feb 2019, 18:05
Originaltitel: Gribiche
Produktionsland: Frankreich 1925
Regie: Jacques Feyder
Darsteller: Jean Forest, Cécile Guyon, Rolla Norman, Françoise Rosay, Maurice Soufflot:
Wenn deutsche Verleihtitelverleiher ihrer Kreativität freien Lauf lassen, kommen ja häufig Stilblüten zustande, die mit dem zugrundeliegenden Film wenig bis gar nichts zu tun haben. Mein liebstes Beispiel wird wohl nach wie vor SEXUAL-TERROR DER ENTFESSELTEN VAMPIRE bleiben, zu dem man seinerzeit zwecks deutscher Kinoveröffentlichung Jean Rollins weder wirklich entfesselten noch auch nur ansatzweise terroristischen LE FRISSON DES VAMPIRES umgemünzt hat. Auch bei Jacques Feyders stummem Kinderdrama GRIBICHE bin ich zuallererst geneigt, entrüstet den Kopf zu schütteln. Gribiche, das ist in der französischen Küche eine säuerlich-pikante Sauce mit viel Eigelb und ein paar Gurken, die man gemeinhin zu Kalbsköpfen oder Sülze serviert. Gribiche, so heißt aber auch der minderjährige Held vorliegenden Films, ein Arbeiterjunge, der sich zu Beginn vor die Entscheidung gestellt sieht: Gebe ich das pralle Portemonnaie, das einer betuchten Dame im Kaufhaus aus der Tasche gepurzelt ist, der rechtmäßigen Besitzerin zurück, oder stecke ich es schnell ein, und suche das Weite? Im Deutschen ist GRIBICHE offenbar unter dem Namen HEIMWEH NACH DER GASSE erschienen – und, kurioserweise, passt der Titel nun doch einmal genauso perfekt zu vorliegendem Film wie eine Sauce gribiche zu kaltem Fisch oder Schalentieren.
Einer der schönsten Filme, die ich letztes Jahr gesehen habe, ist wohl Feyders VISAGES D’ENFANTS gewesen. Das Melodram um zwei Geschwister, die nach dem Tod der Mutter bei ihrem Vater in einem Alpendorf aufwachsen, und alsbald eine Schwiegermutter nebst Stiefschwester vorgesetzt bekommen, mit denen warm zu werden es ihnen einfach nicht gelingen mag, hat mich nicht nur aufgrund seiner atemberaubenden Landschaftsaufnahmen, seinen stellenweisen virtuosen Kameraperspektiven und Montage-Tricks und dem herzerwärmenden, zutiefst menschlichen und unaufgeregt realistischem Plot entzückt, sondern vor allem weil Feyder seinen einstmals verkannten und erst später zum Meisterwerk gekürten Film konsequent aus dem Blickwinkel seines Helden, dem Buben Jean, erzählt. Lange bevor irgendeiner der Erwachsenen eine Großaufnahme geschenkt kriegt, haben wir uns bereits an das Gesicht des kleinen Jeans gewöhnt, dessen Augen allein uns die nachfolgende Geschichte erzählen. Der Darsteller Jeans heißt ebenfalls Jean – Jean Forest, um genau zu sein – und es ist nicht sein erster Auftritt in einem Film Feyders: Bereits zuvor hat er in der von mir bislang nicht gesichteten Anatole-France-Verfilmung CRAINQUEBILLE eine Nebenrolle gespielt. Es wird allerdings auch nicht seine letzte Rolle in einem Film Feyders bleiben: Zwei Jahre nach VISAGES D’ENFANTS sehen wir ihn in GRIBICHE wieder, wo er zunächst zögernd mit der geblähten Geldbörse einer reichen Amerikanerin in den Händen dasteht, sich dann aber doch ein Herz fasst, und Madame Marnet (gespielt von Feyders Ehefrau Francoise Rosay) hinterhereilt, um sie noch zu erreichen, bevor sie in ihrer Droschke davonfährt. Der Moment, in dem sie ihr Hab und Gut von ihm empfängt, und der brave Bub sich sogar weigert, einen Finderlohn entgegenzunehmen, entscheidet über seine nächsten Monate: Verzückt von Jeans engelsgleichem Wesen unterbreitet Madame Marnet seiner Mutter, der Kriegswitwe Berlot, das Angebot, ihren Sohn zu adoptieren, und in ihrem luxuriösen Palais eine erstklassige Erziehung angedeihen zu lassen, die ihn dazu prädestinieren soll, später einmal ein Leben fernab der ärmlichen elterlichen Unterkunft führen zu können. Obwohl Jean nichts ferner liegt, als den mütterlichen Herd zu verlassen, gibt es doch triftige Gründe, die ihn seine Mama dazu überreden lassen, auf Madame Marnets Vorschlag einzugehen: Zufällig hat er mitbekommen, wie der Vorarbeiter Philippe seiner Mutter einen Heiratsantrag gemacht hat – und der Junge redet sich ein, er würde dem Glück der Mama im Wege stehen, wenn er nicht in die feine Welt der Marnet überwechsle, oder aber er sei, was nicht stimmt, dem Stiefpapa sowieso ein Dorn im Auge. Schweren Herzens nimmt die Witwe Berlot von ihrem Sprössling Abschied; nur einmal die Woche, sonntags, soll er sie regelmäßig besuchen kommen. Schweren Herzens fährt Jean in sein neues Leben – und traut sich kaum, die französische Bulldogge, die Madame Marnet als Schoßhündchen Schritt auf Tritt folgt, auch nur mit einer Fingerspitze zu berühren.
Für GRIBICHE hat Feyder die schneebedeckten Hänge, die Lawinen, die Gipfelkreuze, die sich in Schluchten schmiegenden Bergdörfer aus VISAGES D’ENFANTS gegen das großstädtische Paris eingetauscht, was dem Film naturgemäß einige der Schauwerte raubt, die seinen unmittelbaren Vorgänger für mich auf visueller Ebene so sehr ausgezeichnet haben. Andererseits schafft es der auf einer Erzählung Frédéric Bouets beruhende Film nichtsdestotrotz, gerade aus der Dichotomie zwischen der eher dürftig eingerichteten Behausung von Jeans Mutter und dem Überfluss in der Stadtvilla der Marnet eine konstante Spannung zu ziehen – zumal die Inszenierung erneut, wie schon bei VISAGES D’ENFANTS, auf allzu grelle, allzu dramatische Töne verzichtet, und sich viel eher auf das tadellose Spiel der Darsteller – und hierbei vor allem natürlich auf das des damals dreizehnjährigen Jean Forest – fokussiert. GRIBICHE ist erneut kein lauter Film geworden – man könnte ihn vielmehr als beinahe introvertiert bezeichnen –, und, trotz der Klassenthematik, schon gar kein pessimistischer. Subtil streut Feyder ein paar Splitter Gesellschaftssatire ein, wenn Jean von seiner Adoptivmutter beispielweise in einen mathematisch exakt kalkulierten Zeitplan eingespannt wird, der ihm im Viertelstundentakt ab 7 Uhr morgens vom Boxtraining über Geographieunterricht bis hin zu genau terminierten Spaziergängen kaum einmal Zeit zum Luftholen lässt. Genauso fehlen aber eher schmerzhafte Momente nicht, wenn zum Beispiel Madame Marnet einer Runde befreundeter Damen aus der Oberschicht ihren frischgewonnen Zögling wie ein dressiertes Äffchen vorführt. Wie schon in VISAGES D’ENFANTS hat das ebenfalls aus der Feder Feyders stammende Drehbuch kein Interesse an plakativen Schwarzweißzeichnungen: Weder die finanziell wenig gepolsterte Lebens- und Wohnsituation der Witwe Berlot wird wahlweise idealisiert oder degradiert noch das opulente Treiben im Palast der Marnet – und selbst wenn sich am Ende, erneut wie schon in VISAGES D’ENFANTS, alles zum Guten fügt, habe zumindest ich nicht das Gefühl, keine ausgewogene Mischung aus bitteren Pillen und Zuckerstückchen in den Mund gesteckt bekommen zu haben.
Besonders ergötzt hat mich indes freilich die bereits erwähnte französische Bulldogge, die wie ein Bindeglied zwischen den beiden Welten fungiert, zwischen denen sich GRIBICHE's Handlung spannt. Madame Marnets Hündchen stellt eine Mischung aus Natur und Kultur dar, die einerseits auf Kommando Purzelbäume schlagen kann, domestiziert und überzüchtet ist, und andererseits dennoch ihren Urinstinkten folgt. Vor allem aber ruft das Tier bei den Angehörigen verschiedener Gesellschaftsschichten unterschiedliche Reaktionen hervor: Die Lausbuben in den Armenviertel strecken dem Hündchen die Zunge raus, machen sich über es lustig, ziehen Grimassen vor dem Fenster der Luxuskarosse, in der es auf seine Herrin wartet. Jean wiederum ängstigt oder ekelt sich zunächst vor dem Tier, bevor er in einer Szene seinem eigenen Gefühl, in einem goldenen Käfig eingepfercht worden zu sein, dadurch Ausdruck verleiht, dass er die Bulldogge zu immer tolleren Luftsprüngen dirigiert. Madame Marnet letztlich scheint in dem Kurzschnauzer so etwas wie einen Kinderersatz zu erblicken: Sie hätschelt und tätschelt das Tier wie sie nur kann, und stopft es gar in hübsche Kleidchen. Für eine umfassende Arbeit zur Kulturgeschichte von Schoßhunden im Kino wäre GRIBICHE demnach genauso geeignetes Fressen wie für jeden Cineasten, der sich einmal nach einem Film sehnt, dessen Effekt ich nur als den schlichter Schönheit bezeichnen kann.
Eine Frage bleibt: Wieso scheint Jacques Feyder offenbar selbst unter Stummfilm-Aficionados noch immer den Rang eines Geheimtipps zu haben!?
Einer der schönsten Filme, die ich letztes Jahr gesehen habe, ist wohl Feyders VISAGES D’ENFANTS gewesen. Das Melodram um zwei Geschwister, die nach dem Tod der Mutter bei ihrem Vater in einem Alpendorf aufwachsen, und alsbald eine Schwiegermutter nebst Stiefschwester vorgesetzt bekommen, mit denen warm zu werden es ihnen einfach nicht gelingen mag, hat mich nicht nur aufgrund seiner atemberaubenden Landschaftsaufnahmen, seinen stellenweisen virtuosen Kameraperspektiven und Montage-Tricks und dem herzerwärmenden, zutiefst menschlichen und unaufgeregt realistischem Plot entzückt, sondern vor allem weil Feyder seinen einstmals verkannten und erst später zum Meisterwerk gekürten Film konsequent aus dem Blickwinkel seines Helden, dem Buben Jean, erzählt. Lange bevor irgendeiner der Erwachsenen eine Großaufnahme geschenkt kriegt, haben wir uns bereits an das Gesicht des kleinen Jeans gewöhnt, dessen Augen allein uns die nachfolgende Geschichte erzählen. Der Darsteller Jeans heißt ebenfalls Jean – Jean Forest, um genau zu sein – und es ist nicht sein erster Auftritt in einem Film Feyders: Bereits zuvor hat er in der von mir bislang nicht gesichteten Anatole-France-Verfilmung CRAINQUEBILLE eine Nebenrolle gespielt. Es wird allerdings auch nicht seine letzte Rolle in einem Film Feyders bleiben: Zwei Jahre nach VISAGES D’ENFANTS sehen wir ihn in GRIBICHE wieder, wo er zunächst zögernd mit der geblähten Geldbörse einer reichen Amerikanerin in den Händen dasteht, sich dann aber doch ein Herz fasst, und Madame Marnet (gespielt von Feyders Ehefrau Francoise Rosay) hinterhereilt, um sie noch zu erreichen, bevor sie in ihrer Droschke davonfährt. Der Moment, in dem sie ihr Hab und Gut von ihm empfängt, und der brave Bub sich sogar weigert, einen Finderlohn entgegenzunehmen, entscheidet über seine nächsten Monate: Verzückt von Jeans engelsgleichem Wesen unterbreitet Madame Marnet seiner Mutter, der Kriegswitwe Berlot, das Angebot, ihren Sohn zu adoptieren, und in ihrem luxuriösen Palais eine erstklassige Erziehung angedeihen zu lassen, die ihn dazu prädestinieren soll, später einmal ein Leben fernab der ärmlichen elterlichen Unterkunft führen zu können. Obwohl Jean nichts ferner liegt, als den mütterlichen Herd zu verlassen, gibt es doch triftige Gründe, die ihn seine Mama dazu überreden lassen, auf Madame Marnets Vorschlag einzugehen: Zufällig hat er mitbekommen, wie der Vorarbeiter Philippe seiner Mutter einen Heiratsantrag gemacht hat – und der Junge redet sich ein, er würde dem Glück der Mama im Wege stehen, wenn er nicht in die feine Welt der Marnet überwechsle, oder aber er sei, was nicht stimmt, dem Stiefpapa sowieso ein Dorn im Auge. Schweren Herzens nimmt die Witwe Berlot von ihrem Sprössling Abschied; nur einmal die Woche, sonntags, soll er sie regelmäßig besuchen kommen. Schweren Herzens fährt Jean in sein neues Leben – und traut sich kaum, die französische Bulldogge, die Madame Marnet als Schoßhündchen Schritt auf Tritt folgt, auch nur mit einer Fingerspitze zu berühren.
Für GRIBICHE hat Feyder die schneebedeckten Hänge, die Lawinen, die Gipfelkreuze, die sich in Schluchten schmiegenden Bergdörfer aus VISAGES D’ENFANTS gegen das großstädtische Paris eingetauscht, was dem Film naturgemäß einige der Schauwerte raubt, die seinen unmittelbaren Vorgänger für mich auf visueller Ebene so sehr ausgezeichnet haben. Andererseits schafft es der auf einer Erzählung Frédéric Bouets beruhende Film nichtsdestotrotz, gerade aus der Dichotomie zwischen der eher dürftig eingerichteten Behausung von Jeans Mutter und dem Überfluss in der Stadtvilla der Marnet eine konstante Spannung zu ziehen – zumal die Inszenierung erneut, wie schon bei VISAGES D’ENFANTS, auf allzu grelle, allzu dramatische Töne verzichtet, und sich viel eher auf das tadellose Spiel der Darsteller – und hierbei vor allem natürlich auf das des damals dreizehnjährigen Jean Forest – fokussiert. GRIBICHE ist erneut kein lauter Film geworden – man könnte ihn vielmehr als beinahe introvertiert bezeichnen –, und, trotz der Klassenthematik, schon gar kein pessimistischer. Subtil streut Feyder ein paar Splitter Gesellschaftssatire ein, wenn Jean von seiner Adoptivmutter beispielweise in einen mathematisch exakt kalkulierten Zeitplan eingespannt wird, der ihm im Viertelstundentakt ab 7 Uhr morgens vom Boxtraining über Geographieunterricht bis hin zu genau terminierten Spaziergängen kaum einmal Zeit zum Luftholen lässt. Genauso fehlen aber eher schmerzhafte Momente nicht, wenn zum Beispiel Madame Marnet einer Runde befreundeter Damen aus der Oberschicht ihren frischgewonnen Zögling wie ein dressiertes Äffchen vorführt. Wie schon in VISAGES D’ENFANTS hat das ebenfalls aus der Feder Feyders stammende Drehbuch kein Interesse an plakativen Schwarzweißzeichnungen: Weder die finanziell wenig gepolsterte Lebens- und Wohnsituation der Witwe Berlot wird wahlweise idealisiert oder degradiert noch das opulente Treiben im Palast der Marnet – und selbst wenn sich am Ende, erneut wie schon in VISAGES D’ENFANTS, alles zum Guten fügt, habe zumindest ich nicht das Gefühl, keine ausgewogene Mischung aus bitteren Pillen und Zuckerstückchen in den Mund gesteckt bekommen zu haben.
Besonders ergötzt hat mich indes freilich die bereits erwähnte französische Bulldogge, die wie ein Bindeglied zwischen den beiden Welten fungiert, zwischen denen sich GRIBICHE's Handlung spannt. Madame Marnets Hündchen stellt eine Mischung aus Natur und Kultur dar, die einerseits auf Kommando Purzelbäume schlagen kann, domestiziert und überzüchtet ist, und andererseits dennoch ihren Urinstinkten folgt. Vor allem aber ruft das Tier bei den Angehörigen verschiedener Gesellschaftsschichten unterschiedliche Reaktionen hervor: Die Lausbuben in den Armenviertel strecken dem Hündchen die Zunge raus, machen sich über es lustig, ziehen Grimassen vor dem Fenster der Luxuskarosse, in der es auf seine Herrin wartet. Jean wiederum ängstigt oder ekelt sich zunächst vor dem Tier, bevor er in einer Szene seinem eigenen Gefühl, in einem goldenen Käfig eingepfercht worden zu sein, dadurch Ausdruck verleiht, dass er die Bulldogge zu immer tolleren Luftsprüngen dirigiert. Madame Marnet letztlich scheint in dem Kurzschnauzer so etwas wie einen Kinderersatz zu erblicken: Sie hätschelt und tätschelt das Tier wie sie nur kann, und stopft es gar in hübsche Kleidchen. Für eine umfassende Arbeit zur Kulturgeschichte von Schoßhunden im Kino wäre GRIBICHE demnach genauso geeignetes Fressen wie für jeden Cineasten, der sich einmal nach einem Film sehnt, dessen Effekt ich nur als den schlichter Schönheit bezeichnen kann.
Eine Frage bleibt: Wieso scheint Jacques Feyder offenbar selbst unter Stummfilm-Aficionados noch immer den Rang eines Geheimtipps zu haben!?