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Geheul für Sade - Guy Debord (1952)

Verfasst: Sa 18. Mai 2019, 12:08
von Salvatore Baccaro
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Originaltitel: Hurlements en faveur de Sade

Produktionsland: Frankreich 1952

Regie: Guy Debord
Die Anhänger des sogenannten Lettrismus dürften in den 40ern und 50ern für einige der provokativsten Kunstaktionen überhaupt verantwortlich gewesen sein. Auf die Fahne geschrieben hatte sich die dezidiert die Tradition von Dadaismus und Surrealismus anzapfende Künstlerbewegung nämlich nicht nur, die Sprache, wie es freilich schon der Futurismus in den 1910ern gefordert hatte, von jedweder Logik zu säubern, wenn nicht gar, was ihre orthographischen und grammatikalischen Regeln betrifft, regelrecht zu sprengen; Stichworte: Konkrete Poesie; Lautmalerei; Hypergraphologie. Zwischendurch entführt man aber auch gerne mal einen katholischen Priester während einer Messe, und ersetzt ihn durch ein Double aus den eigenen Kreisen, das den Tod Gottes verkündet, erklärt gewaltsame Sabotageakte als probates Mittel zur Revolte, und zettelt bei öffentlichen Veranstaltungen das Publikum zu Saalschlachten an.

Letzteres soll ebenfalls bei der ersten Kinovorstellung von HURLEMENTS EN FAVEUR DE SADE geschehen sein – einem Film, den Guy Debord, das wohl prominenteste Mitglied der Truppe, der später die Situationistische Internationale ins Leben rufen sollte, 1952 in einem avantgardistischen Cine-Club erstmals einem Auditorium präsentiert, das es angeblich keine zwanzig Minuten ausgehalten haben soll, bevor die ersten Schimpftiraden und Fäuste flogen. Auch heute hat sich das destruktive, aufrührerische Potential von Debords Film-Debut kaum gemindert. Was, werdet ihr denken, verbirgt sich denn bloß hinter dem wilden Titel? Ein Geheul für Sade, könnte das heißen: Explizite Gewalt?, unzensierter Sex?, Perversionen, Provokationen, politische Proklamationen? Mitnichten. Stattdessen zeigt Debord seinem Publikum während der knapp fünfzig Minuten, die HURLEMENTS EN FAVEUR DE SADE in Anspruch nimmt, exakt: NICHTS.

Die Leinwand ist abwechselnd weiß oder schwarz. Wenn sie weiß ist, passiert auf der Tonspur etwas. Wenn sie schwarz ist, knistert höchstens der Filmstreifen leise vor sich hin. Wenn sie weiß ist, hören wir verschiedene Stimmen, die abwechselnd aus dem Code Civil, aus literarischen Texten James Joyces, aus dem Drehbuch von John Fords RIO GRANDE oder aus einer Tageszeitung des Jahres 1950 vorlesen. Wenn sie schwarz ist, blicken wir einfach nur in einen stummen Abgrund. Die Intervalle zwischen Weiß und Schwarz werden dabei immer länger: Anfangs wird sogar noch recht viel geplappert. Seine letzten fünfundzwanzig Minuten bestreitet der Film dann schließlich komplett ohne Bild und Ton.

Eine der körperlosen Stimme schlägt Eckdaten für eine Geschichte des Films vor: 1902 Méliés‘ Mondreise; 1924 ENTR’ACTE von René Clair; 1928 DER ANDALUSISCHE HUND; 1931: Geburt Guy Ernest Debords; 1952: HURLEMENTS EN FAVEUR DE SADE. Ähnlich witzig: Eigentlich habe Debord ja vor der Aufführung des Films, erzählt eine weitere männliche Stimme, vor die Leinwand treten wollen, um sein Publikum darauf hinzuweisen, dass es in folgendem Film keine Bilder zu sehen gibt. Das Kino sei tot, also ersparen wir uns doch gleich die Sichtung eines Films, und fangen sofort mit der Diskussion an. Fin de Cinéma, und zwar siebzehn Jahre vor Godards WEEK END. Später säuselt eine Mädchenstimme: In diesem Film spricht wirklich niemand über Sade. Wo sie Recht hat...

Schön kann man vorliegendes Werk natürlich mit Debords wohl berühmtestem Buch, seiner 1967 veröffentlichten Analyse der GESELLSCHAFT DES SPEKTAKELS, in Korrelation setzen. Dort pfeffert der Autor mit polemischem Pathos gegen die Auswüchse des Spätkapitalismus, dem der besinnungslose Konsum von Bildern derart immanent eingeschrieben sei, dass er schon längst an die Stelle authentischer menschlicher Interaktion gerückt ist. Wäre Debord im Jahre 2019 durch eine beliebige Großstadt gelaufen, und hätte dabei die gezückten Smartphones gezählt, hätte er sich wahrscheinlich zufrieden den Bauch gerieben. Aber: Statt irgendetwas Greifbares an die Stelle dessen zu setzen, was Debord so vehement angreift, beschränkt sich HURLEMENTS EN FAVEUR DE SADE darauf, die Zerstörung um der Zerstörung willen zu betreiben. Von Otto Mühls Kot- und Otmar Bauers Kotz-Performances ist das gar nicht mal so viele Katzensprünge entfernt; zu John Cages 4'33 klafft allerdings auch nicht viel Distanz.

Ist dieser Prophet der entgleisten Mediengesellschaft aber nun ein bejubelnswerter Filmemacher? Solch eine Verweigerungshaltung jedenfalls findet man selbst in den selbsterklärten Avantgarden und fremddefinierten Untergrund-Bewegungen selten. Sicherlich, ein Film, über den man viel schreiben kann, aber: Hat den wirklich jemand, außer ich, jemals in einem Stück von vorne bis hinten durchgesessen?, und: Ist das nicht genauso sinnvoll/sinnlos, wie, sich 8 Stunden lang Andy Warhols statische Aufnahme des Empire State Buildung reinzupfeifen? (Nein, so weit bin nicht mal ich bislang gegangen!)

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Re: Geheul für Sade - Guy Debord (1952)

Verfasst: Sa 18. Mai 2019, 20:53
von Salvatore Baccaro
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