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Poesie des Verstoßenen – Werkschau Thierry Zéno

Verfasst: Do 22. Aug 2019, 09:19
von Salvatore Baccaro
Mein Traum wird wahr... :sabber:

"Erstmals überhaupt in Deutschland widmet sich unsere Filmreihe am 28. und 29. September 2019 (Samstag + Sonntag) dem belgischen Filmemacher Thierry Zéno (1950–2017).

Zénos erster Lang- und einziger Spielfilm, der lange als Skandalfilm rezipierte, experimentelle Spielfilm, das Außenseiterporträt Vase de noces (1974) über einen autistischen Bauern, der die Grenzen menschlicher Zivilisation auslotet, bleibt bis heute der einzige seiner Filme, dessen Bekanntheitsgrad über eingeweihte Underground-Kreise hinausgeht.
Psychische Krankheit, Tod, aber auch gesellschaftliche Minoritäten wie die mexikanischen Tzotzil-Indianer oder „poètes maudits“ der Kunstgeschichte, wie der umstrittene belgische Grafiker Félicen Rops, sind Gegenstand seiner ethnologisch und kulturanthropologisch geprägten Experimental- und Dokumentarfilme.

Die Filme werden größtenteils auf analogem 35- und 16mm-Filmformat vorgeführt,. Zahlreiche dieser Filme laufen erstmals in Deutschland im Kino und für einige Filme erstellen wir eigens deutsche Untertitel

Samstag, 28. September
18:30 Begrüßung
19:00 Bouche sans fond ouverte sur les horizons (1971) (16mm, 26 min, OmU)
20:00 Vase de noces (1974) (35mm, 81 min, kein Dialog)
22:00 Les tribulations de Saint Antoine (1984) (16mm, 40 min, OmU)

Sonntag, 29. September
13:00 Les muses sataniques (1983) (16mm, 60 min, OmU)
14:30 Chroniques d’un village tzotzil (1984-1992) (16mm, 99 min, OmU)
17:30 Ya Basta! Le cri des sans-visage (1995-1997) (DCP, 50 min, frz./span. mit dt. Live-UT)
19:00 Des morts (1979) (35mm, 102 min, OmU)

Eintritt: 5 EUR / Dauerkarten werden erhältlich sein
Ort: Festsaal im Studierendenhaus (Mertonstr. 26-28, 60325 Frankfurt am Main)

In Kooperation mit dem AStA der Goethe-Universität und der Pupille – Kino in der Uni e.V.
Unterstützt von der Hessen Film und Medien GmbH und dem Kulturamt der Stadt Frankfurt am Main."

Quelle: http://www.filmkollektiv-frankfurt.de/veranstaltungen/werkschau-thierry-zeno

Mag mich jemand moralisch unterstützen? ;-)

Re: Poesie des Verstoßenen – Werkschau Thierry Zéno

Verfasst: Mo 30. Sep 2019, 21:58
von Salvatore Baccaro
Was für eine wundervolle Veranstaltung dies doch war!

"Wundervoll" in dem Zusammenhang muss ausnahmesweise mal wirklich wortwörtlich genommen werden, denn da von Thierry Zéno lediglich zwei Filme - namentlich: VASE DE NOCES und DES MORTS - mehr oder minder leicht auf Heimmedien zu ergattern sind, und sich sein restliches Oeuvre quasi seit jeher im Arkanen tummelt, steckte die nicht vollständige, aber doch die Hauptwerke berührende Retrospektive des Filmkollektivs Frankfurt unter Ägide Sebastian Schwittays voller überraschender Wendungen und verblüffender Querverbindungen, die man unterm Strich tatsächlich als "Wunder" bezeichnen kann.

Mit Zéno bin ich ja, wie ich am Wochenende viel zu oft erzählen wollte/musste, mit sechzehn oder siebzehn erstmals in Berührung gekommen, als mir ein Freund, (der trotz widriger Umstände zumindest bei DES MORTS dann auch persönlich anwesend sein konnte), das seinerzeit von verwirrten Geistern als THE PIG FUCKING MOVIE vermarktete transgressive Meisterwerk VASE DE NOCES in einer himmelschreienden Web-Rip-Fassung zuspielte: Bild und Ton asynchron; die Qualität jeder Beschreibung spottend. Angefixt schaute ich damals, was denn dieser eigenartige Regisseur sonst noch gedreht hat, und stellte fest: Zum einen nur eine Handvoll Filme, und zum andern hauptsächlich welche, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Da VASE DE NOCES noch nicht mal seine 2010 erfolgte DVD-Veröffentlichung erlebt hatte, gab es exakt nur einen, nämlich DES MORTS, überhaupt legal irgendwo käuflich zu erwerben - und zwar von einem US-Label, das Zénos dezidierten Anti-Mondo als FACES-OF-DEATH-Verschnitt in furchtbarer Bild- und Tonqualität unters schocksüchtige Volk jubelte. Dieser Film, (von mir für etwa 10 Euro bei irgendeinem Online-Händler geschossen), faszinierte mich indes ebenso, ist das doch, (wie man auch in meiner blumigen Kritik in diesem Forum nachlesen kann), ein zutiefst melancholischer, trauriger Panoramaschwenk über die Phänomene Sterben und Tod, der sich gerade aufgrund seiner Zurückhaltung und seiner Verweigerung jedweder weiterführenden Kontextualisierung der gezeigten Szenen deutlich vom gängigen Shockumentary-Betrieb abhebt.

Dass ich VASE DE NOCES, diesen flämische Malerei, alchemistische Experimente, Zoophilie, Koprophagie, Monteverdi, und die (Selbst-)Begräbnisszene aus Pasolinis TEOREMA miteinander verbindenden Geniestreich, sowie DES MORTS jemals in einem ordentlichen Kino als 35mm-Kopien zu sehen bekomme, hätte ich mir jedenfalls bis vor Kurzem niemals träumen lassen, - und dass ich dann auch noch zu letzterem Film einen Einführungsvortrag halten darf, noch weniger.

Abgerundet wurde das Programm von zwei Dokumentarfilmen, in denen Zéno Partei für die Tzotzil-Mayas des mexikanischen Bundesstaates Chiapas ergreift, in deren Gemeinschaft der Belgier jahrelang lebte: CHRONIQUES D'UN VILLAGE TZOTZIL (1992) führt uns mitten hinein in das Alltagsleben des marginalisierten Volkes, während ¡YA BASTA! LE CRI DES SANS-VISAGE (1997) vom Volksaufstand der Tzotzil gegen durch die Regierung beförderte soziale und gesellschaftliche Benachteiligungen berichtet. LES MUSES SATANIQUES (1984) wiederum ist ein Portrait des von Zéno hochgeschätzten belgischen Grafikers und Illustrators Félicien Rops (1833-1898), einem für seine Zeit äußerst pikante Sujets antippenden Symbolisten: Anhand von Detailaufnahmen lernen wir seine wichtigsten Werke kennen, während aus dem Off Tagebuchnotizen und Briefe aus Rops' Feder rezitiert werden. Ähnlich verfährt Zéno im ein Jahr später entstandenem, stilistisch nahezu identischen LES TRIBULATIONS DE SAINT ANTOINE, nur dass diesmal der Heilige Antonius im Mittelpunkt von Zénos Interesse steht: Während Zéno uns eine endlose Gemäldegalerie, die sich mit dem frühchristlichen Wüsten-Eremit auseinandersetzt, vor Augen führt - ein Rundumschlag durch die (abendländische) Kunstgeschichte von Bosch bis Dalí -, deklamiert ein mir bislang unbekannter Schriftsteller einen sehr poetischen, aus der Ich-Perspektive des Heiligen verfassten Text. Besonders augenöffnend ist: Nahezu sämtliche in VASE DE NOCES verwendete Requisiten finden ihre Entsprechung in Antonius-Gemälden - das Schwein, die Kirchenglocke, die bauchigen Flechtkörbe, monströse Federviecher usw. BOUCHE SANS FOND OUVERTE SUR LES HORIZONS zuletzt, entstanden 1971 noch während Zénos Hochschulstudiums, ist eine interessante Dokumentation über Georges Moinet, einem Art-Brut-Maler, der sich zum Zeitpunkt der Dreharbeiten bereits für Jahre als diagnostizierter Schizophrener in einer Nervenheilanstalt befindet, wo er zu uns in Sätzen spricht, die für die einen sinnloses Kauderwelch, für die anderen (und dazu gehört sicherlich Zéno selbst) poetische Weisheiten sein dürften.

Ich bin verzückt!

Re: Poesie des Verstoßenen – Werkschau Thierry Zéno

Verfasst: Di 1. Okt 2019, 05:52
von purgatorio
Salvatore Baccaro hat geschrieben:
Ich bin verzückt!
kann man so stehen lassen :nick:

Re: Poesie des Verstoßenen – Werkschau Thierry Zéno

Verfasst: Di 1. Okt 2019, 07:49
von jogiwan
Schön, dass man auch so sträflich vernachlässigten Regisseuren wie Zéno so eine schöne Werkschau widmet. Trotz sicherlich nicht einfacher Koste wäre man da gerne dabei gewesen. Schon alleine wegen der Einführung. Danke für deine Eindrücke! :nick:

Re: Poesie des Verstoßenen – Werkschau Thierry Zéno

Verfasst: Mo 14. Okt 2019, 22:25
von Salvatore Baccaro
Auf seinem Blog stellt der Organisator unseres Happenings, der hochgeschätzte Sebastian Schwittay, nun übrigens nach und nach erhellende Texte zu Thierry Zénos Oeuvre online:

https://oddandexcluded.wordpress.com/