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Die Blinde von Sorrent - Giacomo Gentilomo (1953)

Verfasst: Di 12. Jan 2021, 20:24
von Salvatore Baccaro
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Originaltitle: La Cieca di Sorrento

Produktionsland: Italien 1953

Regie: Giacomo Gentilomo

Darsteller: Antonella Lualdi,Paul Campbell, Enzo Biliotti, Marilyn Buferd, Carlo Fazzetti, Corrado Annicelli, Vera Carmi, Paul Müller


Kürzlich habe ich mich recht entzückt gezeigt über die 1934er Literaturverfilmung LA CIECA DI SORRENTO, in der ich gar Elemente eines Proto-Giallos zu entdecken vermeinte. Wenig verwunderlich, dass ich nur kurze Zeit später einen Blick auf eine weitere Adaption des gleichnamigen Romans von Francesco Mastriani werfen musste, die 1953 unter der Regie Giacomo Gentilomos entstanden ist – ein Werk allerdings, das dem von Nunzio Malasaomma zu keinem Zeitpunkt das Wasser reichen kann.

Da ich die literarische Vorlage nicht kenne, weiß ich nicht, welche Version nun näher am Originaltext ist. Dass beide Filme nicht nur, was ihren Inszenierungsstil betrifft, sondern vor allem auch bezüglich ihres Inhalts erhebliche Unterschiede aufweisen, dürfte allerdings jedem ins Auge springen, der noch meine Kurzkritik zu Malasommas Fassung im Gedächtnis hat:

Im frühen 19. Jahrhundert ereignet sich im süditalienischen Sorrent ein brutaler Raubmord: Die Marchesa di Rionero wird von einem Halunken, der es offenbar auf ihre Juwelen abgesehen hatte, rücksichtslos die Treppe ihres Palais hinab in den Tod gestürzt. Einzige Zeugin des Vorfalls ist die kleine Tochter der Toten, die aufgrund des Bildes, das ihre sterbende Mutter abgibt, ihr Augenlicht verliert, und somit nicht herangezogen werden kann, um festzustellen, ob tatsächlich der renommierte Mediziner Dottore Andrea Pisani, den die alarmierte Polizei kurz nach der Tat im herrschaftlichen Garten der Rioneros dingfestmacht, der ruchlose Raubmörder ist. Nun, Pisani ist tatsächlich unschuldig, weigert sich aber, seine Anwesenheit auf dem Grundstück des Marchese di Rionero plausibel zu erklären, da er gemeinsam mit dem Hausherrn und etlichen weiteren angesehenen Bürgern der besseren Gesellschaft Sorrents an einem konspirativen revolutionären Treffen teilgenommen hat: Würde er dies ausplaudern, müsste er all seine politischen Verbündeten ans Messer liefern. Deshalb schweigt Pisani ebenso wie der Marchese di Rionero, der weiß, dass der Dottore nie und nimmer Mörder seiner Frau sein kann, weil er zum Zeitpunkt deren Todes mit ihm über Möglichkeiten zum Sturz der Monarchie debattiert hat. Letztlich wird Pisani hingerichtet, sein entehrter Sohn Oliverio setzt sich ins US-Exil ab, und der wahre Mörder der Marchesa, Carlo Basileo, seines Zeichens Neffe eines verbrecherischen Notars, bleibt ungeschoren und unenttarnt.

Zehn Jahre gehen ins Land, bevor Oliviero in seine Heimatstadt zurückkehrt. Inzwischen hat sich der junge Mann internationales Renommee als Spezialist für Augenkrankheiten erworben. Natürlich verkehrt er bald freundschaftlich bei den Rioneros und bietet sich an, der inzwischen ebenfalls zur Frau herangereiften Beatrice aus der Blindheit herauszuhelfen zu versuchen. Ein Dorn im Auge ist dieses Ansinnen indes Carlo, und zwar aus gleich zweierlei Gründen: Zum einen muss er fürchten, von Beatrice als Mörder ihrer Mutter entlarvt zu werden, sobald ihr Blick auf ihn fällt; zum andern hat er sich inzwischen an das Mädchen herangeschlichen, firmiert als Verlobter, plant, sich durch eine Heirat das Vermögen der Rioneros auf ganz legale Weise unter den Nagel zu reißen. Als Beatrice und Oliviero schließlich auch noch beginnen, amouröse Bande zueinander zu knüpfen, hecken Carlo und sein nicht minder bösartiger Onkel das nächste Mordkomplett aus…

Wäre LA CIECA DI SORRENTO zeitgleich in Frankreich entstanden, hätte der Film als ideale Zielscheibe für die Polemik der Cahiers-du-Cinéma-Kritiker und späteren Nouvelle-Vague-Regisseure wie Godard, Rivette und Truffaut herhalten können: Ein Kostümfilm, ästhetisch und inszenatorisch steif wie ein hochgestellter Mantelkragen, sich ausruhend auf den Lorbeeren, die Bewegtbildübersetzung eines arrivierten Klassikers der italienischen Literatur zu sein, ansonsten aber nahezu ohne jedes Gespür für aufregende Bilder, für die Wunder, die man mit einer ausgefeilten Montage vollbringen kann, für jedwedes Unterfangen, das Kino wenigstens ein bisschen von seinen theatralischen Wurzeln zu lösen, und, wenn auch in kleinem Rahmen, aus seinen starren Konventionen herauszusprengen. Gerade im Vergleich mit der 1934er Fassung der gleichen Geschichte, (die, wie gesagt, auch rein inhaltlich in einigen entscheidenden Punkten von Gentilomos Fassung abweicht), offenbart sich, wie sehr LA CIECA DI SORRENTO nach Bühnenstaub schmeckt: Zeichnete Malasomma seinen Stoff – bei allen melodramatischen Obertönen – in durchaus expressivem Schwarzweiß, ähnelt Gentilomos Version aalglattem Porzellan, dessen einziger Sprung von dem (wie so oft) überragenden Paul Müller herrührt, dessen sinistre Fratze ich gar nicht genug loben kann. Ansonsten sind die Akteure farblos, die Geschichte entwickelt sich fad und vorhersehbar, und für jemanden wie mich, der bereits mit der 1934er Variante auf vertrautem Fuß steht, gibt es tatsächlich nichts, was die Sichtung dieser gutbetuchten Schlaftablette gelohnt hätte.