Lux Æterna - Gaspar Noé (2019)
Verfasst: Fr 7. Mai 2021, 15:23
Originaltitel: Lux Æterna
Produktionsland: Frankreich 2019
Regie: Gaspar Noé
Darsteller: Charlotte Gainsbourg, Béatrice Dalle, Abbey Lee, Karl Glusman, Tom Kan, Mica Argañaraz, Clara Deshayes
Ein paar unzusammenhängende Notizen zu Gaspar Noés aktuellstem Streich LUX AETERNA aus dem Jahre 2019:
1) LUX AETERNA vorangestellt ist ein Zitat aus der Feder des russischen Romanciers Fjodor Dostojewskij. „Ihr seid alle gesunde Menschen, aber ihr ahnt nicht, was für ein Glück jenes Glück ist, das wir Epileptiker in der Sekunde vor dem Anfall empfinden. Ich weiß nicht, ob diese Glückseligkeit Sekunden oder Stunden oder Monate währt, aber glauben Sie mir aufs Wort, alle Freuden, die das Leben geben kann, würde ich dafür nicht eintauschen.“ Offenbar soll dieses Bonmot aus der Feder von jemandem, der selbst unter Epilepsie litt und sich nicht scheute, seine Romane mit Figuren zu bevölkern, die ebenfalls körperliche Grenzzustände erfahren, (weswegen es auch nicht wundert, dass Dostojewskij einer der erklärten Lieblingsschriftsteller Andrzej Zulawski gewesen ist, den er gleich zweimal verfilmt hat), eine konventionelle Warntafel ersetzen, wie man sie aus früheren Filmen Noés kennt: Zuschauer, die epilepsiekrank sind oder auch "nur" zartbesaitet, mögen den Kinosaal schleunigst verlassen! Untermalt ist das Zitat von einem grün-rot-blau pulsierendem Flackerlicht, das jedoch nur einen schwachen Eindruck dessen vermittelt, was LUX AETERNA gerade in seinem Finale an audiovisuellen Exzessen entfachten wird. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass gegen die Achterbahnfahrt der letzten zehn Minuten von LUX AETERNA selbst Noés Vorgängerfilm CLIMAX beinahe wirkt, als sei er von jemandem wie Robert Bresson inszeniert worden. Es ist tatsächlich noch nie vorgekommen, dass ich einen Noé-Film aus Gründen der Überforderung zwischenzeitlich pausieren musste – und, wohlgemerkt, in Ermangelung eines offenen Kinosaals hatte ich den Streifen gestern auf dem heimischen Laptop gestreamt: Wenn ich selbst in dieser Konstellation nicht mal mehr den Abspann goutieren konnte, wie mag der Film dann erst bei seiner Premiere in Cannes auf das Publikum gewirkt haben? In der Trivia-Sektion der IMDB kann man lesen: „Paramedics were waiting outside of the premier at Cannes Film Festival, in preparation that audience members would become sick or faint during the screening.” Ausnahmsweise halte ich diese Information mal nicht für einen William-Castle-Marketing-Stunt, sondern für bare Münze. Möglicherweise noch nie ist Noé seiner Vision eines Kinos der Überreizung, der Entwaffnung aller Sinne, der Lähmung des Zuschauerkörpers angesichts permanenter Bombardements auf Ton- und Bildebene derart nahegekommen wie im Schlussakt von LUX AETERNA. Ist das überhaupt noch klassisches Kino, und nicht doch eher eine Droge, eine Waffe?
2) Andererseits hat sich Noé auch noch nie derart vor dem klassischen Kino verneigt wie in LUX AETERNA. Auch früher hat es Referenzen in seinen Film gegeben, sicher: Gerne und oft zitiert Noé sich selbst, entwickelt Figuren über mehrere Filme hinweg wie den namenlosen Schlachter, der sein komplettes Frühwerk begleitet. In der wundervollen Eröffnungsszene von CLIMAX platziert er seinen persönlichen Kanon an Büchern und Filmen um einen Fernsehschirm herum: Georges Bataille, Andrzej Zulawski, Cioran, einen Hund aus Andalusien, SUSPIRIA. Argentos Hexenfilm ist als Hintergrundfolie auch in LUX AETERNA präsent, (und nicht zuletzt erinnern die rot-grün-blau pulsierenden Lichter zu Beginn an einen kleinen Ausflug in die Freiburger Tanzakademie.) Aber für LUX AETERNA greift Noé doch noch viel tiefer in die Filmgeschichte zurück – und auch sehr viel konkreter: Der Film beginnt nämlich mit Szenen aus anderen Filmen, ein Diptychon zum Themenkomplex „Die Hexe im Kino“, bestehend aus Benjamin Christensens HÄXAN, sodann Carl Theodor Dreyers DIES IRAE. Im Verlauf der gerade mal etwas mehr als fünfzig Minuten Laufzeit strukturieren Zitate berühmter Regisseure den Film, die mittels stilisierter, mittelalterlich anmutenden Texttafeln eingeblendet werden: Erneut Dreyer, der etwas über die Mise en Scene der berühmten Scheiterhaufenszene in DIES IRAE aus dem Nähkästchen plaudert; Godard, der sich übers kommerzielle Filmemachen mokiert; Fassbinder, Bergman. Wobei Noé mit all diesen Regiekünstlern auf derart vertrautem Fuß steht, dass er Godard einfach nur „Jean-Luc“ nennt und Fassbinder als „Rainer“ duzt. Ganz offenkundig spielt das Finale auch auf Otto Premingers JOAN OF ARC an, dessen Finale wiederum Hauptdarstellerin Jean Seberg mit lebenslangen Brandnarben entließ. Augenzwinkernde Selbstzitate gibt es natürlich ebenso: Am schönsten ist der Auftritt von Karl Glusman, der Noés alter ego in LOVE gespielt hat, und in LUX AETERNA Charlotte Gainsbourg ein Skript namens DANGER andrehen möchte, bei dem es sich wenig verklausuliert um das Drehbuch zu ENTER THE VOID handelt. Ein Novum indes: Noé entdeckt im großen Stil den Splitscreen. Da sind wir dann fast schon bei Warhol-Experimenten: CHELSEA GIRLS wird zu WITCHCRAFT GIRLS. Stellt euch einfach mal vor ihr habt die Turbulenzen von CLIMAX, seht diese aber gleich doppelt, weil gefilmt von zwei unabhängig voneinander agierenden Kamerateams.
3) LUX AETERNA ist außerdem Noés erster wirklicher Meta-Film. Sicher, wenn ein Regisseur derart Form und Inhalt in Kongruenz zueinander bringt wie Noé es seit Anbeginn seiner Karriere in den späten 80ern, frühen 90ern tut, dass das eine gar nicht getrennt vom andern betrachtet werden kann, dann ist freilich jeder einzelne Film auch stets in seinem Subtext eine Reflexion über die eigene Beschaffenheit. Aber LUX AETERNA geht noch einen Schritt weiter: Wir befinden uns an einem Filmset. In Echtzeit verfolgen wir mit, wie eine bizarre Hexenverbrennungsszene in den Kasten gebracht werden soll: Models posieren in Markenklamotten auf Scheiterhäufen, die wirken, als habe Yves Saint-Laurent sie designt. Regie im Film-im-Film führt die Schauspielerin Béatrice Dalle, deren erste Regiearbeit der Streifen sein soll. Für die weibliche Hauptrolle hat sie Charlotte Gainsbourg verpflichtet. Zu Beginn plaudern die Beiden ungezwungen miteinander, wartend darauf, dass die erste Klappe fällt. Schnell aber wird klar: Dalle ist nicht nur komplett auf Drugs, sondern vergisst sich auch gerne mal, wird dem Team gegenüber handgreiflich, bellt Kommandos. Kein Wunder, dass die übrigen Crewmitglieder, allen voran einer der Produzenten und der DOP, insgeheim längst an Dalles Stuhl sägen: Die erstbeste Entgleisung soll dazu herhalten, sie aus dem Projekt rauskicken zu können, ohne dass man empfindliche Vertragsstrafen zu befürchten hat. Eine wahre Hexenjagd beginnt, vor und hinter der Kamera – und selbst im Off, denn Charlotte erfährt im Telefongespräch mit ihrer kleinen Tochter, diese sei in der Schule Opfer eines tätlichen Übergriffs mehrerer Mitschüler geworden, die offenbar versucht hätten, ihr ein Kreuz in den Intimbereich zu ritzen. Die Amme soll die Hexenprobe übernehmen, die Kleine nackt ausziehen, nach dem Mal suchen, Charlotte informieren, ob das Kind wirklich unversehrt ist. Inzwischen wird das Set zum Hexenkessel – quasi CLIMAX hoch 2 – und, ja, selbst Zulawskis Portrait einer völlig aus den Ufern in die Armen von Hysterie, Exzess, politischen Attentaten hineingleitenden Filmproduktion in LA FEMME PUBLIQUE macht sich demgegenüber aus wie ein Waisenknabe.
4) Es würde mich nicht wundern, wenn Noé zur Vorbereitung von LUX AETERNA das Buch „Die Hexe“ des französischen Historikers aus dem 19. Jahrhundert Jules Michelet gelesen hätte. Dort modelliert der Autor die verfemte Hexenfigur als Rebellin gegen Ordnung, Staat, christliche Moral, der er seine ganze Sympathie schenkt. Explizit hebt sich Michelets Lesart von der gängigen misogynen Hexen-Interpretation ab, nach der die wundertätige Frau mit dem Satan im Bunde sei, um das göttliche Weltgebäude aus den Fugen zu sprengen. Bei Michelet atmet jede Zeile etwas von Befreiung, Emanzipation, Selbstbestimmtheit – und das göttliche Weltgebäude wird zum Kerker, in dem man gar nicht laut genug mit seinen Ketten rasseln kann. In LUX AETERNA vermischt Noé beide Lesarten auf frappante Weise miteinander, was den Film, einmal mehr, offen für die unterschiedlichsten Lesarten macht: Möchte Noé seinen eigenen Beitrag zur #metoo-Debatte leisten und das Kino als Hort zeichnen, wo das Patriarchat noch fröhliche Urstände feiert? Hält sich Noé an den Transgressionstheoretiker Bataille und erzählt davon, dass das Kino eins der wenigen Refugien ist, wo wir über den Weg der Selbstveräußerung noch zu irgendeiner Form der Transzendenz gelangen können, sei es als passiver Betrachter oder aktiver Akteur? Ist LUX AETERNA eine feministische Kampfschrift oder eher eine Rekapitulation gynophober Feindbilder? Ein weiterer Text fällt mir ein, je länger ich über den Film nachdenke: Ein zeitlebens unveröffentlichter Essay Antonin Artauds aus den 20ern, in dem das Enfant Terrible der Pariser Kunstavantgarde den Verbindungen zwischen „Hexerei und Kino“ nachspürt: Am Ende von LUX AETERNA begegnen wir, wenn wir uns nicht von den Flashlights blenden lassen, zudem einer sinnfälligen Überblendung – das Malteserkreuz der Kamera, das christliche Kreuz, der weibliche Uterus. Es würde mich nicht wundern, wenn Noé sich zur Vorbereitung von LUX AETERNA auch noch einmal genau Lars von Triers ANTICHRIST angeschaut hätte, und Charlotte Gainsbourg vielleicht auch deshalb in der Hauptrolle besetzt hat. Das sind aber momentan nur flüchtige Gedankenblitze, noch völlig überlagert von den Blitzen, die der Film mir gestern in die entzündeten Augen hineingeschleudert hat.
Mich hat LUX AETERNA jedenfalls ergriffen wie ein (flugsalbeninduzierter) Windstoß, der mich kurzerhand aus dem heimischen Schlafzimmer auf den Blocksberg versetzt hat - und damit untermauert, dass Gaspar Noé einer derjenigen zeitgenössischen Filmemacher ist, die in unmittelbarer Nachbarschaft meines Herzens operieren...