Abgeschnitten
Deutschland 2018
Regie: Christian Alvart
Moritz Bleibtreu, Jasna Fritzi Bauer, Lars Eidinger, Fahri Yardim, Enno Hesse, Christian Kuchenbuch, Urs Jucker,
Barbara Prakopenka, Stephanie Amarell, Dirk Nocker, Niels-Bruno Schmidt, Klara Höfels
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OFDB
Beim Obduzieren einer Leiche findet der Rechtsmediziner Professor Dr. Herzfeld im Kopf des Toten einen Zettel. Darauf steht der Name seiner (also Herzfelds) Tochter und eine Telefonnummer. An der anderen Seite dieser Nummer meldet sich die junge Linda, die auf Helgoland an einem sturmumtosten Strand vor einer Leiche steht, deren Handy soeben geklingelt hat. Und weil Herzfeld so ein netter Kerl ist, der wegen seiner heute früh verschwundenen Tochter gerade so richtig am Rad dreht und weil Linda sowieso nichts besseres zu tun hat, karrt sie die Leiche ins örtliche Krankenhaus (das wegen dieses erwähnten Sturms komplett verlassen ist) und obduziert über Fernanleitung den Körper. Und findet im Hals ein Überraschungsei mit einem Foto, derweil Herzfeld, immer mit dem Handy am Ohr, wie ein Irrer versucht nach Helgoland zu kommen. Durch den Schneesturm, der ganz Norddeutschland lahmlegt, ist dies allerdings auch nicht ganz einfach, vor allem wenn man nebenbei eine Schnitzeljagd nach der eigenen Tochter machen muss, die offensichtlich in den Händen eines psychopathischen Triebtäters ist.
Mein Leben lang habe ich gerne Thriller und Krimis gelesen, und ja, die Grenzen zwischen diesen Genres sind durchlässig und verwischen gerne. Aber in den letzten etwa 20 Jahren hat diese Leidenschaft ein wenig nachgelassen. Der Grund sind die immergleichen Handlungsabläufe, die ungefähr so klingen:
Polizistin P jagt in den eisigen Weiten Skandinaviens einen verrückten Serienmörder, und jeder näher sie ihm kommt, desto klarer wird, dass sie in einer Beziehung zu diesem Mörder steht, und in den Fall tiefer und persönlicher verwickelt ist als sie denkt. Oder auch: Detective D sieht sich einer Serie grausam verübter Morde im Hinterland von Wyoming gegenüber. Kann es sein, dass seine Tochter T in den Fall verstrickt ist? Als T verschwindet muss D in einem Rennen gegen die Zeit versuchen, einen erbarmungslosen Killer zu stoppen und das Leben seiner Tochter und seiner Familie zu retten.
Bla bla bla …
Die Morde werden immer grausamer und blutrünstiger, und werden auch immer ausgiebiger geschildert. Möglicherweise ein Zeichen unserer Zeit, aber mich schreckt so etwas eher ab. Dazu kommen immer stereotypere Charaktere, die rund um die ausgefeilten Morde gruppiert werden, und eine immer komplizierter und abstruser werdende Dramaturgie, die in der Wirklichkeit so kaum jemals funktionieren könnte.
ABGESCHNITTEN bleibt diesem Baukastenprinzip treu: Ein Gerichtsmediziner, der im Kopf eines grausam zugerichteten Toten einen Zettel findet. Darauf der Name seiner eigenen Tochter und eine Telefonnummer. Ein junges Mädchen, das vor ihrem brutalen Ex nach Helgoland flüchte, und gerade zufällig vor der Leiche mit dem Handy steht. Ja klar, ist ja voll aus dem Leben gegriffen, ey. Genauso wie die anderen Hinweise, die Herzfeld so nach und nach an den unmöglichsten Orten findet, und die er innerhalb von Minuten zu brauchbaren Spuren umdeuten kann. Jeder normale Mensch bräuchte für die Kombination solcher abgedrehten Ideen Stunden, wenn nicht Tage, aber Herzfeld kramt kurz in seinem klugen Köpfchen und *pling* bewegt er sich in dem ihm völlig unbekannten Haus wie in seinem eigenen Badezimmer.
Aber trotzdem, ABGESCHNITTEN ist spannend. Verdammt spannend! Und gottseidank lässt Christian Alvart dem Zuschauer überhaupt keine Zeit, die Idiotie der Geschichte und die damit einhergehenden Löcher im Handlungsablauf zu überdenken. Der Film drückt praktisch von Anfang an auf das Gaspedal als gäbe es kein Morgen, und macht damit alles absolut richtig. Die Stimmung ist hochgradig düster und erinnert an eine Mischung aus SAW (dem ersten), HUNTING GROUND (dem von Jorge Grau von 1983) sowie einer Prise Alex Cross, und die grotesken Szenen rund um die Fernobduktion werden nach und nach immer skurriler und bekommen zunehmend eine Stimmung, die mich oft an Christopher Smiths CREEP erinnert hat. Alvart schafft es, ein Kammerspiel mit vier Personen mit zwei weiteren und unsichtbaren Präsenzen anzureichern, und damit eine permanente Bedrohung zu etablieren, die ernsthaft unter die Haut geht. Ist da noch jemand in dem leeren Krankenhaus? Und falls ja, wer? Lindas Ex? Der Mörder? Alvart legt geschickt ein paar falsche Spuren und erzeugt damit Hochspannung pur.
Ebenfalls pure Spannung und unbedingt erwähnenswert ist Lars Eidinger als Psychopath Jan, der findet, dass junge Mädchen keusch zu sein haben, und dem notfalls mit einem Messer nachhelfen möchte. Und glaubt mir, dies ist noch der harmlose Teil! Viel habe ich bislang von Eidinger noch nicht gesehen, aber seine Performance in ABGESCHNITTEN ist überragend und brennt sich tief in die Erinnerung ein. Zusammen mit der Todesursache seiner Richterin …
Wie gesagt darf man über ABGESCHNITTEN nicht nachdenken. Man sollte sich einfach in diese grandiose Stimmung aus Grauen und Schmerz fallen lassen und wird hinterher überrascht feststellen, dass solche Filme doch normalerweise eigentlich nur aus den USA kommen. Trotz der vielen generischen Elemente der Handlung, trotz des zum Teil grauenhaften Genuschels der Darsteller, und trotz der vielen Widersprüche im Ablauf, ist der Film einfach ein sauspannender und toll gemachter Thriller für einen perfekten Fernsehabend, der den Zuschauer bei den Eiern packt und nicht mehr loslässt.
7/10