Lamb - Valdimar Jóhannsson (2021)
Verfasst: Do 20. Jun 2024, 08:16
Originaltitel: Dýrið
Produktionsland: Island, Schweden, Polen 2021
Regie: Valdimar Jóhannsson
Cast: Noomi Rapace, Hilmir Snær Guðnason, Björn Hlynur Haraldsson, Ingvar Eggert Sigurðsson
Einer der wenigen Filme, die ich in letzter Zeit gesehen habe, ist die in Island gedrehte Produktion LAMB, von der ich mich vage erinnere, dass sich bei Erscheinen ein kleiner Netz-Hype um sie bildete, und die mir kürzlich ins Gedächtnis kam, weil sie irgendwer unter dem Etikett des "Folk Horror" subsumiert hatte. Spoiler: Mit Folk Horror hat der Film, meiner Meinung nach, höchstens marginale Berührungspunkte, stattdessen entfaltet sich vor unseren Augen etwas, das man vielleicht als Arthouse-Variation des Themas eines meiner Lieblingsfilme, nämlich Thierry Zénos VASE DE NOCES, bezeichnen könnte: Es geht um die Mensch/Tier-Differenz, es geht um Leidenschaft und Liebe zwischen Menschen, die weit abseits anderer Menschen leben, es geht um die Ordnung einer Miniaturgesellschaft, die brüchig werden kann, sobald die kleinste ihrer Stellschrauben minimal ihre Position verändert.
Rein inhaltlich erzählt der Film vom unverhofften Kindersegen, der über ein Schäferpaar, Maria und Ingvar, im entlegensten Winkel des Inselstaats hereinbricht - denn eines Tages gebiert eines ihrer Tiere ein Hybridwesen aus Schaf und Menschenbaby: Der Kopf und ein Arm sind animalisch, der Rest humanoid. Die beiden nehmen sich des Geschöpfs an, adoptieren es, sprich, entziehen es dem Muttertier, das wiederum regelmäßig vorm Häuschen des Paares steht, und blökend nach seinem Jungen verlangt - solange zumindest, bis Maria es kaltblütig erschießt. Fortan wächst das Lämmchen wie ein Mensch bei seinen Zieheltern auf, trägt Kinderkleidung, hilft bei den Verrichtungen auf der Farm, äußert jedoch nie ein Wort. Das Familienkonstrukt gerät ins Wanken, als eines Tages Ingvars zeitlebens mit dem Gesetz auf Kriegsfuß stehender Bruder Pétur vor der Tür steht, und um Asyl bittet, denn er hat keinen anderen Platz, wo er hinkönnte. Das Gastrecht wird ihm gewährt - auch wenn Pétur dem Lamm mindestens mit Skepsis gegenübersteht und auch wenn schnell deutlich wird, dass ihn mit Maria mehr verbindet als bloße verwandtschaftliche Bande...
Inszenatorisch birgt LAMB über weite Strecken wenige Überraschungen. Regisseur Jóhansson hat die Schulbank offenbar genau in jener Bildungseinrichtung gedrückt, die den Stil von Regisseuren wie Robert Bresson zum Modell für jedwedes Filmemachen erkoren hat: Lange Einstellungen ohne Dialogen; betörende Landschaftsbilder; eine Story mit vielen Ellipsen, deren Leerstellen wir als Zuschauende selbst mit Inhalt füllen müssen; ein außerordentlich langsamer, fast träger Erzählflow; schließlich stark interpretationswürdige Einbrüche von Metaphysischem und Übernatürlichem. Hat man sich erstmal damit abgefunden, dass LAMB sich anfühlt und ausschaut wie zahlreiche Arthouse-Filme der letzten Jahre, erwartet einen aber doch ein weitgehend interessantes Werk, das mich vor allem in seinen ersten beiden Dritteln überzeugt hat - wenn es im Finale dann plötzlich arg phantastisch und arg blutig wird, habe ich das indes, ehrlich gesagt, dann doch als jähen Stilbruch empfunden, den es zumindest für mich nicht hätte geben müssen; immerhin mündet LAMB aber in einen WTF-Moment, mit dem ich wohl nicht mal gerechnet hätte, wenn ich gut in Mathe gewesen wäre. Kurzum: Sitzfleisch benötigt es, gerade in der ersten halben Stunde, die sich doch sehr viel Zeit lässt, das Feld abzustecken, in dem sich der Konflikt entfalten wird, dafür belohnt einen LAMB indes mit einer reichlich unkonventionellen Handlung, mit hübscher isländischer Natur, und mit einem (hauchzarten) Genre-Appeal.
Showstealer bei alldem, was der Film sonst verhandelt, ist aber sicherlich die Titelfigur. Ich meine, puh, wann gab es zuletzt im Kino eine putzigere Kinderfigur! Dieses halb-menschliche Lämmchen möchte man ja einfach nur knuddeln und herzen - und sollte ich einmal selbst Nachwuchs haben, möge er doch bitte genauso aussehen...