Es gibt wohl zwei unterschiedliche Lesarten, denen man den spanischen Thriller SECUESTRADOS aussetzen kann, und die zu zwei völlig unterschiedlichen Bewertungsergebnissen führen.
1. Die Kinematographie von SECUESTRADOS ist superb. Wenn ich mich nicht verzählt habe, wird in diesem Film einzig und allein zwölfmal geschnitten – sofern man jedenfalls von seiner technischen Seite spricht und nicht von den Torturen, denen die dreiköpfige Familie ausgesetzt ist, die im Verlauf seiner Handlung in die wenig sanften Hände dreier maskierter osteuropäischer Gangster gerät. Gleich die zweite jener zwölf Szenen ist eine, bei der ich mir vor Verwunderung die Augen gerieben habe. Mit dem Inhalt hat das nichts zu tun, der ist banal wie er nur sein kann, wenn ein offenbar gutbetuchter Familienvater von der Arbeit ins frischbezogene Eigenheim zurückkehrt, das nicht nur voller Handwerker ist, die mit Renovierungstätigkeiten beschäftigt sind, sondern auch einer Gattin und Tochter, die sich darüber in die Haare kriegen, ob die immerhin bereits Achtzehnjährige zu später Stunde mit ihrem Freund ausgehen darf oder gezwungen werden soll, mit den Eltern einen langweiligen Familienabend zu verbringen. Was an der Szene mich indes so sehr begeistert hat, ist, dass sie, gefilmt von der den gesamten Film tragenden Handkamera, innerhalb von acht, neun Minuten keinen einzigen Schnitt aufweist – und das sind eben nicht nur acht, neun Minuten, die relativ statisch in ein, zwei Räumen absolviert werden, vielmehr befindet die Kamera sich in ständiger Bewegung, sitzt anfangs neben dem Familienvater auf dem Beifahrersitz, führt uns dann im geräumigen Landhaus herum, wo andauernd Statisten durchs Bild wuseln, die aus allen Ecken und Zimmern kommen, bleibt hier und dort etwas länger kleben, beispielweise bei dem Streitgespräch zwischen Mutter und Tochter, zeichnet sich aber vor allem dadurch aus, dass sie einen scheinbar schrankenlosen Handlungsspielraum besitzt. Offenkundig ist, dass gerade eine solche Szene wohlüberlegt und wohlkoordiniert sein möchte. Ungemein rhythmisch sind die einzelnen Bewegungsabläufe in ihr aufeinander abgestimmt, treffen Menschen, Dinge scheinbar zufällig aufeinander, ohne den Zuschauer überdeutlich darauf zu stoßen, dass sie von langer Hand geplant sein dürften. Ich erwähne gerade diese Eröffnungsszene, weil sie die ist, in der der Film mit den meisten Schauspielern operiert. Später, wenn das Ganze mehr zu einem Kammerspiel heruntergekocht wird, sind die Handkameraführungen zwar weiterhin recht beeindruckend, jedoch nie mehr so langanhaltend, nie mehr einer solcher Fülle an Möglichkeiten ausgesetzt, sabotiert zu werden. Erfreulich ist, dass SECUESTRADOS sein so glänzend eingeführtes Stilmittel bis zum Ende beibehält. Sicherlich mag der eine oder andere Schnitt, in bester Hitchcock- oder Noe-Manier, an der einen oder anderen finsteren Stelle versteckt sein, die minutenlangen Einstellungen eine vorsätzlich erweckte Illusion darstellen, wirklich aufgefallen ist mir jedoch in keinem Moment, dass ich da Taschenspielertricks auf den Leim gehe. Vielmehr wirkt SECUESTRADOS mit seinen zwölf Szenen ungemein organisch, wie aus einem Guss, vermittelt seine Geschichte quasi in Echtzeit. Wenn man Godard glauben mag, der einmal eine seiner Filmfiguren hat sagen lassen, dass jeder Filmschnitt eine Lüge sei, so handelt es sich bei SECUESTRADOS unter diesem Gesichtspunkt um einen überaus ehrlichen Film - insoweit man natürlich bei einer Fiktion überhaupt von Wahrheitsgehalt sprechen kann. Wenn seine Darsteller wimmern und schreien, dann tun sie das nicht in verkürzten Fragmenten, sondern über weite Strecken, und wenn eine Figur vom obersten Stockwerk in die Tiefgarage des Hauses geführt wird, dann begleiten wir dabei jeden ihrer Schritte, und wenn über einen kürzeren Zeitraum zwischen zwei entscheidenden Ereignissen nichts Spannendes, Dramatisches oder für die Handlung Relevantes geschieht, dann nehmen wir wie selbstverständlich daran teil. Zweimal greift SECUESTRADOS außerdem auf ein weiteres Stilmittel zurück, das zwar auf den ersten Blick reichlich artifiziell wirkt, in Wirklichkeit aber den dokumentarischen Anstrich des Films noch um die eine oder andere Schicht ergänzt. In den Momenten, die ich meine, wird das Bild in zwei Hälften gespalten, worauf links eine andere Szene sich entrollt als rechts, beide jedoch, obwohl räumlich getrennt, im Zeitgefüge des Films im gleichen Augenblick stattfinden. Besonders eindrucksvoll habe ich das kurz vor dem Finale empfunden. Während rechts die Tochter des Hauses sich gegen einen Angreifer relativ erfolgreich zur Wehr setzt, entschließt sich links der Familienvater ebenfalls zum Widerstand und lenkt sein Auto, in dem ihn ein anderer Kidnapper zur nächsten Bank entführt hat, auf dass er dort für ihn sein Konto plündere, bewusst in parkende Fahrzeuge. Exakt in der gleichen Sekunde kulminieren beide Handlungen, sodass der Zuschauer sich zwangsläufig dafür entscheiden muss, ob er dem dramatischen Höhepunkt auf der einen oder dem auf der anderen Seite beiwohnen möchte, dem Autocrash oder der Scherenattacke, mit der das Töchterchen ihrem Vergewaltiger ein Auge stiehlt. Wenn dann beide Hälften des split-screens sich wieder zu einem einzigen vereinen, ist das ebenso kunstvoll inszeniert. Von beiden Richtungen laufen Tochter und Vater dem sie sowie die Bilder trennenden Querbalken in der Mitte der Leinwand entgegen, und dann, kurz bevor sie sich in die Arme fallen, verschwindet er wie von Zauberhand und lässt die beiden Handlung miteinander verschmelzen. Ich kann es nur noch einmal betonen: optisch mag der Film nicht mit dem Oeuvre Gaspar Noes mithalten können und so kühn wie in ENTER THE VOID oder IRREVERSIBLE sind seine Kamerafahrten und –einstellungen lange nicht, dennoch hat mich SECUESTRADOS vor allem an die Handschrift eben jenes Filmemachers erinnert. Noch einmal muss ich betonen: den Aufwand, den es gekostet haben mag, all diese langen Einstellungen zu realisieren, möchte ich mir gar nicht vorstellen, und noch einmal muss ich es begrüßen, wie wohltuend anachronistisch ein solcher Film in Zeiten von über dem Zuschauer niedergehenden Schnittgewitter doch wirkt.
2. Inhaltlich ist SECUESTRADOS jedoch ebenfalls ein Anachronismus, sprich: sein Drehbuch hätte genauso auch in den 80ern oder 70ern verfasst werden können, mit deren Familiendrangsalierthrillern ihn mehr eint als ihm guttut. Angefangen davon, als Identifikationsfiguren für das Publikum eine Allerweltfamilie ohne Alleinstellungsmerkmal zu wählen, über die Darstellung der Räuberbande, deren alle drei Mitglieder längst bekannten Stereotypen entsprechen – wir hätten namentlich beisammen den kühl-rational agierenden Kopf des Unternehmens, einen vorwiegend von seinen sexuellen und gewalttätigen Gelüsten geleiteten Untergebenen, der jegliche Hemmungen fallenlässt, sobald der Chef nicht mehr in Sichtweite ist sowie das recht gutaussehende Nesthäckchen, das den Eindruck erweckt, eher ungewollt in die Sache hineingeraten sein und darum bemüht ist, das schlimmste Leid der Opfer zu verhindern oder wenigstens zu mildern -, bis hin zu dem ordinär-pekuniären Motiv, das als Triebfeder im Getriebe des gesamten Dramas steckt, steht SECUESTRADOS in einer Traditionslinie, der er rein substanziell nichts Neues hinzuzufügen vermag. Gerne kann man dem Film damit einen realistischen Anspruch unterschieben, der selbstgenügsam auf Effekthascherei, eine weltbewegende Botschaft, ein opulentes Storygerüst verzichtet, andererseits könnte man ihn genauso gut für fehlende Innovation und verschenktes Potential geißeln, wie ich das nun hiermit tue, und mich beklage, dass er seiner derart exzellenten technischen Seite letztlich einen Inhalt gegenüberstellt, dessen Agenda mir dann doch wieder viel zu leicht zu durchschauen ist. SECUESTRADOS möchte schockieren, Angst einjagen, entsetzen als Selbstzweck, und wie so oft funktioniert das bei mir allein deshalb nicht, weil ich von Anfang an merke, was der Film mit mir vorhat. Wo Michael Haneke in FUNNY GAMES ein, durchaus kritikwürdiges, moralisches Anliegen verfolgt und wo Gaspar Noe in IRREVERSIBLE durch die Umkehrung der Chronologie einen beinahe schon philosophischen Subtext generiert, der sich um Zufall, Schicksal und die menschliche Zeit an sich rankt, da kommt SECUESTRADOS nicht darüber hinaus, mich mit der Nase auf etwas zu stoßen, das ich sowieso längst weiß: dass Menschen in Extremsituationen oder auch einfach nur aus Lust und Laune in der Lage sind, zu reißenden Bestien zu werden. Gerade das Finale und der für mein Empfinden völlig zusammenhanglose Prolog zeigen klar, dass der Film nirgendwo richtig beginnt und vor allem nirgendwo richtig hinführt. Das Ende hat mich demnach auch nicht vor Schrecken sprachlos zurückgelassen, sondern eher das Gefühl vermittelt, den Verantwortlichen sei auf den letzten Drehbuchseiten nichts Besseres eingefallen, worin sie ihren Film denn hätten münden lassen sollen. Realistisch, um das Argument erneut aufzugreifen, mag das sein, denn, wie wir wissen, mündet die Realität ja ebenfalls in nichts, das sinnvoller oder sinnloser ist als der Tod, andererseits torpediert SECUESTRADOS einen solchen Ansatz schon allein damit, dass er seine Gewaltszenen äußerst unrealistisch, vielmehr schauzweckhaft auswalzt. Nein, SECUESTRADOS ist, aller ästhetischen Finessen zum Trotz, konzipiert für ein Publikum, dem es ausreicht, von einem Film Gewalt und Terror in Reinform vorgesetzt zu bekommen, und es dabei bewenden lässt. Dass ich mich damit nicht zufriedengebe, ist mein persönliches Problem.