bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

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Beast You!

„Das ist ja widerwärtig!“

David DeCoteau („Nightmare Sisters“), US-amerikanischer Direct-to-Video-Fließbandfilmer für Charles Bands „Full Moon“-US-Produktionsschmiede, drehte als eine seiner ersten Arbeiten diese einen wesentlich cooleren Originaltitel („Sorority Babes in the Slimeball Bowl-O-Rama“) aufweisende „Teen-Trash-Horror-Sex-Kegelkomödie“ (Zitat: SchleFaZ), die im Jahre 1988 auf eine pubertierende Zuschauerschaft losgelassen wurde.

„Du wirst nackte Mädchen sehen!“

Das Studententrio Jimmie (Hal Havins, „Night of the Demons“), Keith (John Stuart Wildman, „Terror Night“) und Calvin (Andras Jones, „Nightmare on Elm Street 4“) bespannt die Verbindungseinweihungszeremonie der Tri-Delta-Studentinnenschaft – und wird von dieser prompt dabei erwischt. Zur Strafe sollen sie nachts in eine Bowlingbahn einbrechen und dort eine Trophäe stehlen. Die heißen Studentinnen folgen ihnen heimlich dorthin, um den drei Voyeuren einen gehörigen Schrecken einzujagen. Doch der zu beschaffende Pokal beheimatet einen quatschenden Gummi-Gargoyle-Dschinn namens Imp, der, nun aus seinem Gefängnis befreit, jedem einen Wunsch erfüllt – mit unvorhergesehen Folgen für die Wünschenden. Als die Sache gefährlich wird, tut man sich mit der Einbrecherin Spider (Linnea Quigley, „Return of the Living Dead“) zusammen, um Imp zu bekämpfen…

„Was machen wir hier bloß?“

„Beast You!“ punktet direkt mit einem coolen Synthiestück, das den Vorspann untermalt und die Vorhut für die folgende Klischeeparade bildet: Das männliche Studententrio ist ein Loserhaufen, der Horrorfilme schaut und Penthouse „liest“. DeCoteau legte die Figuren als überzeichnete Karikaturen an, entsprechend albern geht es zu. Dass sie die Tri-Delta-Zeremonie beobachten wollen, kann man ihnen indes kaum verdenken, denn das bizarre Ritual hat S/M-Anleihen, wenn Leiterin Babs (Robin Stille, „The Slumber Party Massacre“) den Anwärterinnen Taffy (Brinke Stevens, „Nur Tote überleben“) und Lisa (Michelle Bauer, „Lady Avenger“) die nackten Hintern versohlt. Bei der anschließenden Nackedei-Parade im Badezimmer werden Calvin & Co. jedoch im „Porky’s“-Stil erwischt. Der Hausmeister der Bowlingbahn wird versehentlich eingeschlossen; umso mehr Zeit hat die vulgären Straßenjargon sprechenden (und damit offenbar einen Kontrast zur versammelten Studierendenschaft bilden sollenden) Spider zum Plündern.

„Ganz unchristliche Scheiße!“

Trotz recht viel nackter Haut in „Beast You!“ bleibt die auch hier sexy zurechtgemachte Scream Queen Linnea Quigley den gesamten Film über bekleidet. Dennoch ist der Film bis hierhin eine typisch debile, spaßige Teeniekomödie und zudem 80s as fuck, wenn auch in Sachen Handlung zusammengeklaubt aus anderen Produktionen. Mit Imp kommt jedoch die Phantastik ins Spiel, wenngleich angesichts des Gummiviehs noch kein rechter Horror aufkommen will – und schon gar nicht, wenn er Wünsche nach Gold, Abschlussköniginwerden oder Sex mit Lisa erfüllt. Aber er kann auch anders und verwandelt den einen oder anderen Anwesenden in Dämonen, verriegelt fieserweise auch noch das Gebäude. Das ganze Glück war nur von kurzer Dauer, nur Keith hat noch immer Sex mit Lisa. Um genau zu sein ist man weiterhin mit dem Vorspiel beschäftigt – während um sie herum fleißig dämonisiert und dezimiert wird. Onkel Impi führt nach Art eines zynisches Moderators durchs Geschehen. Doch der Hausmeister weiß über ihn Bescheid und Outlaw Spider erweist sich als äußerst wehrhaft.

All das geht mit viel vulgärem Gequatsche einher, ist meist gut ausgeleuchtet und hübsch bunt. Hin und wieder wird es aber doch recht dunkel und leider bleibt „Beast You!“ auch komplett unblutig. Es gibt einen Brennender-Dämon-Stunt und ein paar CGI-Blitze, ansonsten setzt der Schnitt meist just dann ein, wenn es grafisch explizit werden könnte. Dafür reichte das Budget dann anscheinend nicht. Die Kamera ist mitunter recht statisch und beschränkt sich auf simple Schuss-Gegenschuss-Abfolgen, versteht sich ansonsten aber passabel auf die Mise en Scène. Eigentliche Heldin des Reigens ist Spider, alle anderen sind eher unsympathisch und verhalten sich strunzdämlich. Dass DeCoteau mit ihr einer Zielgruppe, die sich tendenziell mit den drei untervögelten Jungs identifizieren dürfte, eine starke Frauenfigur vorsetzt, ist ein gelungener Coup. Andererseits ist „Beast You!“ mangels Identifikationsfiguren nun keine Ausgeburt an Spannung und sein krawalliger Humor nicht sonderlich lustig. Dass die beiden Drehorte satte 800 Kilometer auseinander liegen, ist ein ebensolches Kuriosum wie die späte Fortsetzung aus dem Jahre 2022, bei der Brinke Stevens die Regie gleich selbst übernahm.

„Beast You!“ ist kurzweiliger ‘80er-Trash-Schund, wie ich ihn mir in richtiger Dosierung ab und zu gut drücken kann. Mein großes Herz für Jahrzehnt und Genre zückt daher voller Unvernunft 5,5 bis 6 von 10 Popoklatschern.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Diese Sendung ist kein Spiel – Die unheimliche Welt des Eduard Zimmermann

„Die Kriminalität wächst!“

Dokumentarfilmerin Regina Schilling war insbesondere mit ihrem Film „Kulenkampffs Schuhe“ aus dem Jahre 2018 positiv aufgefallen, als sie im Stile eines Essay-Films die Fernsehunterhaltungsshows des Nachkriegsdeutschlands aufgriff und mit den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs und ihrer eigenen Familie in Bezug setzte. 2022 folgte „Ivor Levit. No Fear“ über den Starpianisten Igor Levit, bevor sie sich 2023 mit einer weiteren deutschen Fernsehinstitution auseinandersetzte: „Aktenzeichen XY … ungelöst“, Eduard Zimmermanns „Baby“, das offenbar weltweit erste True-Crime-Format überhaupt.

„Ging es ihm wirklich nur darum, Verbrechen aufzuklären?“

Erneut lässt Schilling die Schauspielerin Maria Schrader in die Rolle der Voice-over-Erzählerin schlüpfen, die dabei Schillings Identität annimmt. Die ersten Bilder sind Ausschnitte des „XY“-Debüts aus dem Jahre 1967, einer Zeit immens hoher Einschaltquoten für abendlich ausgestrahlte und auch nur halbwegs interessante oder unterhaltsame Sendungen – und somit einem entsprechenden Einfluss auf die Gesellschaft. Bei Schilling habe die Sendung im Kindheitsalter Angst ausgelöst. Schon zu Beginn fällt auf, wie akribisch die gewählten „XY“-Ausschnitte mit dem Erzähltext korrespondieren. In die Postproduktion floss viel Sorgfalt, sie arbeitet mit O-Ton-Überblendungen und collagenhaften Bildzusammenschnitten. Und Schilling lässt wissen, was 1967 neben dieser neuen Sendung sonst noch so alles in Deutschland los war, zeigt gar einen Ausschnitt aus einer Rede der Nazipartei NPD.

„Die Welt, die Eduard Zimmermann inszeniert, ist einfach.“

Zimmermann zeigte sich vor der Kamera besorgt über die zunehmend nationalistische bis faschistische Stimmung im Land, für die er die – von Schilling nicht angezweifelte und offenbar seinerzeit reale – gestiegene Kriminalität mitverantwortlich machte. Jedoch unterstellt sie ihm ein einfaches Gut/Böse-Schema und das Schüren von Angst. Sie wirft Fragen nach der Faszination, die von „XY“ ausging, auf und dröselt anschließend Zimmermanns Biographie auf – ein vor seiner Fernsehkarriere (vor „XY“ hatte er „Vorsicht Falle!“ moderiert) sehr bewegtes Leben inklusive Knast- und Gewalterfahrungen.

„Wir Kinder träumten nachts davon.“

Wie wir wissen, änderte sich relativ kurz nach dem „XY“-Sendestart der Zeitgeist und damit in größeren Teilen auch die Gesellschaft, mit ihr das Fernsehen. Willy Brandt wurde Kanzler und löste endlich den CDU-Mief ab. Schilling zeigt Ausschnitte aus einer „XY“-kritischen Sendung im Ersten, in denen Zimmermann sich gegen Vorwürfe des Denunziantentums verteidigen muss – und er aufgrund seiner Empörung darüber, dass ihm überhaupt kritische Fragen gestellt werden, kein besonders souveränes Bild abgibt. Aber „XY“ und Zimmermann überstanden auch die sozialliberale Ära, griffen die gesellschaftlichen Veränderungen in der Sendung auf. Die Weise, auf die Schilling dies dokumentiert, weist einen ablehnenden Unterton auf. Immer wieder hat sie fallenlassen, dass sie bereits im zarten Kindesalter die Sendung sah (obwohl diese sich, mit einer von Schilling dann auch aufgegriffenen Ausnahme, an ein erwachsenes Publikum richtete), und gibt nun unverblümt „XY“ die Schuld daran, im Fernsehen mit Gewalt gegen Kinder und Frauen konfrontiert worden zu sein. Spätestens ab diesem Punkt wird der Film irgendwie… schräg.

Schilling findet beim Durcharbeiten des „XY“-Archivmaterials zumindest eine Situation, in der Zimmermann offenbar nachweisbar Falsches erzählt. Damit stellt sie seine Glaubwürdigkeit infrage und schlussfolgert, Frauen habe Angst gemacht werden sollen, damit sie zu Hause bleiben, bei Ehemann, Heim und Herd. Auf etwaige Hintergründe zu Zimmermanns Falschmeldung geht sie jedoch nicht ein. Sie scheint damit den Beweis gefunden zu haben, den sie brauchte. Ob sich seither Zimmermanns nicht der Wahrheit entsprechende Aussagen häuften oder es bei einem Einzelfall blieb – und wenn letzteres, wie dieser zustande kam, ob also überhaupt eine böse Absicht zu unterstellen wäre –, scheint sie nicht mehr zu interessieren. Schillings Interpretation wirkt daher ein bisschen weit hergeholt. Ihr fällt auf, dass Sexualstraftäter fast ausschließlich männlich sind – so weit, so bekannt – und fragt: „Haben wir nicht ein grundsätzliches Problem?“ – Wollte sie darauf hinaus? Natürlich haben wir das. Aber wäre „XY“ der richtige Ort, das richtige Format gewesen, dies aufzuarbeiten? „Zu Hause sind wir auch nicht sicher“, stellt Schilling angesichts der Tatsache fest, dass der überwiegende Teil an Gewaltverbrechen gegen Frauen im persönlichen Umfeld zu Hause verübt wird, und rekapituliert den Fall Petra Kelly. Aber deshalb sollte nicht öffentlich nach Vergewaltigern, Totschlägern und Mördern gefahndet werden? Bei Taten in den eigenen vier Wänden steht der Täter ja (glücklicherweise) meist fest.

Es fällt schwer, Schilling zu folgen. Sie möchte auf eine Unverhältnismäßigkeit in der Darstellung hinaus, bemängelt, dass die Täter(innen) bei „XY“ meist eindimensionale Figuren ohne Hintergrundgeschichte bleiben (wie sollte das bei unbekannten Personen, nach denen die Polizei mithilfe der Sendung fahndet, aber auch anders möglich sein, ohne zu spekulieren oder hinzuzudichten?) und schließt mit einer offenen Frage zum pädagogischen Nutzen von Angst.

Angst ist Schillings Topos hier. Sie habe als Kind „XY“ gesehen und sei dadurch verängstigt worden, obwohl es sich, wie bereits angemerkt, um keine Kindersendung handelte. Auch ich habe sie dennoch im Kindesalter gesehen und kann nachempfinden, was sie meint. Auch mir haben die nachgespielten Verbrechen Angst gemacht, wenngleich sie mich nicht – wie möglicherweise Schilling – traumatisiert haben. Eine fundamentale Kritik am True-Crime-Format mit seinen dramaturgisch aufbereiteten Nachstellungen realer Taten geht im Versuch unter, Zimmermann mittels Suggestivfragen eine frauenfeindliche Agenda anzudichten. Ihre Empörung über Gewalttaten gegen Frauen und deren Ausschlachtung für dieses Fernsehformat ist in Teilen nachvollziehbar, jedoch stark verkürzt und scheint mir nicht richtig durchdacht. Dass diese Untaten geschahen (und geschehen) ist schrecklich, aber nicht Zimmermann anzulasten. Ebenso schrecklich ist es, dass so etwas nun mal sowohl zu Hause als auch in der Öffentlichkeit geschieht. Letzteres zu marginalisieren, um Frauen keine Angst zu machen, halte nicht nur ich für falsch, wie zahlreiche feministische Publikationen und Diskurse, die sich genau damit beschäftigen, belegen.

Es gab (und gibt) in der restaurierten BRD und ihren Repressionsorganen kritisch gegenüberstehenden, aus dem anarchistischen und linken Spektrum stammenden Kreisen eine allgemeine Abneigung gegen die Zusammenarbeit mit der Polizei, gegen öffentliche Fahndungen und Denunziantentum – und dafür viele gute Gründe, die hier zu erörtern den Rahmen sprengen würde. Auch dies ist aber spätestens dann ebenfalls nicht wirklich zu Ende gedacht, wenn es tatsächlich darum geht, Mörder und Vergewaltiger dingfest zu machen. Ob diese Haltung auch Schillings Perspektive auf das Phänomen „XY“ prägte und sie versuchte, dafür eine argumentativen Unterbau zu schaffen, ist Spekulation.

Auf die verschiedenen Möglichkeiten der Rezeption dieses Formats geht sie leider gar erst nicht ein: Sich verunsichern und für Law & Order begeistern zu lassen, ist derer nur eine. Andere Zuschauerinnen und Zuschauer genießen schlicht den Thrill der nachgespielten Szenen, wieder andere machen sich über das Laienschauspiel lustig und konsumieren „XY“ wie ein Trash-Format eines Privatsenders. Manch ältere Episode wirkt, gerade aus heutiger Sicht, sicherlich piefig, angestaubt oder unfreiwillig komisch. Die „XY“-Rezeption, so mein Eindruck, wurde auf unterschiedliche Weise im Laufe der Jahre Jahrzehnte kultiviert.

Ähnlich wie mit „Kulenkampffs Schuhe“ hätte Schilling eine von ihren Kindheitserfahrungen vorm heimischen Fernseher ausgehende, interessante Dokumentation gelingen können, die ihren persönlichen Werdegang mit der Entwicklung des Verbrechens, der Repression und des Fernsehens in der BRD in Bezug setzt. Und bestimmt hätten sich valide Kritikpunkte an „XY“ und Zimmermann gefunden, hätte man den Infotainment-Charakter eines solchen Formats kritisch diskutieren, sicherlich auch Fragen nach Kollateralschäden stellen und die Auswirkungen auf Zeitgeist und Gesellschaft untersuchen können. Mit „Diese Sendung ist kein Spiel – Die unheimliche Welt des Eduard Zimmermann“ hat sich Schilling meines Erachtens aber verrannt bzw. ist sie übers Ziel hinausgeschossen, indem sie ein Symptom zu zerpflücken versucht und es dabei mit den Ursachen verwechselt.
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Applejuice

„Diese Kreatur scheint harmlos.“

US-Regisseur Michael Lehmanns („Heathers”, „Hudson Hawk”) zweiter abendfüllender Spielfilm heißt eigentlich „Meet The Applegates“, wurde in Deutschland in Anlehnung an Tim Burtons „Beetlejuice“ aber kurzerhand „Applejuice“ getauft. Die Horrorkomödie aus dem Jahre 1990 verbindet ein Kreaturenspektakel mit satirischen Elementen.

„Das ist ein Atomkraftwerk und kein Bordell!“

Der Raubbau des Menschen am Regenwald bedroht die Existenz der Cocorada-Käfer, einer bisher unbekannten Spezies mit ganz besonderen Fähigkeiten: Sie kann sich in Menschen verwandeln. Diese Eigenschaft wollen die Käfer nutzen, um der Menschheit den Garaus zu machen. Fünf von ihnen werden in die USA entsandt, um dort einen Super-GAU in einem Atomkraftwerk auszulösen. Als Familie Applegate getarnt, eine typische amerikanische Durchschnittsfamilie, beziehen sie ein Haus in einem Vorort von Ohio. Familienvater Richard P. Applegate (Ed Begley Jr., „Straßen in Flammen“) tritt einen Job im Atomkraftwerk an, Mutter Jane (Stockard Channing, „Grease“) betätigt sich als Hausfrau, die Kinder im Teenager-Alter Johnny (Robert Jayne, „Im Land der Raketen-Würmer“) und Sally (Camille Cooper, „Shocker“) werden in die Schule geschickt und Familien„hund“ Spot darf natürlich auch nicht fehlen. Doch die zahlreichen Verführungen der US-Gesellschaft drohen, den Plan zu durchkreuzen…

„Sexbesessene Käfer!“

Texttafeln zu Beginn informieren über die Käfer, bevor es im im Dschungel spielenden Prolog mit einem Riesenkäferangriff in Point-of-View-Perspektive direkt in die vollen geht. Ein paar einfach gemachte, nichtsdestotrotz gelungene Mutationsspezialeffekte und schicke Käferkostüme sorgen im weiteren Verlauf für Schauwerte, Augenschmaus Camille Cooper in ihrer Rolle als Sally ebenfalls, und Hündchen Spot ist auch ein ganz Süßer. Ein spaßiger, leichter Ekelfaktor durchzieht den Film dennoch, ohne dass es Regisseur Lehmann damit übertreiben würde. Einer der Käfer tritt zunächst als Mann in Frauenkleidern in Erscheinung, hat anscheinend irgendetwas falsch verstanden. Und zwei powerlockige Heavy-Metal-Zwillinge sind wandelnde Klischees.

„Applejuice“ entwickelt sich sodann rasch zu einer hübsch bunten satirischen Parodie auf den konsumistischen US-Way-of-Life, der sich insbesondere in Jane widerspiegelt, die dem Kaufrausch verfällt, finanziell über ihre Verhältnisse lebt und schließlich kriminell wird. Ihr Mann lässt sich im Büro von seiner Sekretärin (Savannah Smith Boucher, „Long Riders“) verführen, wird gefeuert und anschließend von ihr erpresst. Töchterchen Sallys Sexualpartner landet als Kokon im Schrank, schwanger wird sie trotzdem von ihm. Und Sohnemann Johnny wird drogenabhängig. Natürlich eskaliert die Situation irgendwann…

…jedoch nicht, ohne dass Lehmann das Finale noch mit einer ökologischen Aussage versehen würde. Zur Kritik an hemmungslosem Konsum und der Zerstörung von Mutter Erde gesellt sich in „Applejuice“ eine generelle Verballhornung des Menschen innerhalb westlich geprägter Zivilisationen – jedoch stets derart ironisierend und herrlich bescheuert dargereicht, dass einem Horrorkomödien-geeichten Publikum das Lachen nur selten im Halse steckenbleiben dürfte. Das bedeutet aber auch, dass Lehmann gern noch ein paar Pfund hätte draufpacken dürfen, um aus seinem Film mehr als einen letztlich dann doch eher harmlosen, trashigen Spaß, der immerhin etwas zu sagen hat, zu machen. Ein spielfreudiges Ensemble und die ansprechende, kreative Umsetzung sorgen davon unabhängig für viel Kurzweil!
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Zeit der Unschuld

„Ich versteh' den Sinn deiner Worte nicht.“

Nachdem er „Kap der Angst“ abgedreht hatte, begab sich US-Ausnahmeregisseur Martin Scorsese im Jahre 1992 auf für ihn ungewohntes Terrain: die Verfilmung des Romans „Zeit der Unschuld“ aus der Feder der Schriftstellerin Edith Wharton. Das im Jahre 1993 veröffentlichte Resultat ist ein in den 1870er Jahren spielendes Historien-/Liebesdrama – und, und das ist wiederum typisch Scorsese: ein New-York-Film.

Die New Yorker Oberschicht im ausgehenden 19. Jahrhundert: Der junge und bereits wohlbeleumundete Anwalt Newland Archer (Daniel Day-Lewis, „Der letzte Mohikaner“) aus gutem Hause hat sich mit dem Adelsspross May Welland (Winona Ryder, „Meerjungfrauen küssen besser“) verlobt, was für Archer einen weiteren gesellschaftlichen Aufstieg bedeutet. Doch als Mays Cousine, Gräfin Ellen Olenska (Michelle Pfeiffer, „Batmans Rückkehr“) ihren polnischen Grafen verlässt und aus Europa anreist, bekommt die feine Gesellschaft erste Risse: Ein solches Verhalten ziemt sich nicht und auch davon unabhängig ist Olenska anders als der übrige Adel, dessen Kodizes sie ablehnt. Archer offeriert ihr seine anwaltlichen Dienste bei der Durchführung ihrer Scheidung und erliegt bald der Faszination für diese ungewöhnliche Frau, die nicht so recht in die High Society passen will. Doch obwohl er sich in sie verliebt, beharrt er auf der Eheschließung mit May. Verzweifelt kämpft er gegen seine Gefühle für Ellen Olenska an…

Das klingt nach einer pompösen Liebesschmonzette für Klatschzeitungsleser(innen) oder Telenovela-Gucker(innen), und tatsächlich hätte ich mir „Zeit der Unschuld“ wohl niemals angesehen, hätte nicht Martin Scorsese Regie geführt. Letzteres ändert leider nichts daran, dass ich kaum Zugang zu diesem elitären Standesdünkel fand und mir ob des permanent gestelzten Gelabers sogar das Zuhören schwerfiel. Es dauerte, bis sich mir erschloss, dass Archer zwischen zwei Frauen steht. „Wenn ich dich lieben soll, muss ich dich aufgeben“, heißt es hier, eine wahrlich komplizierte Beziehungskiste in einer mir völlig fremden Welt also. Ächz.

Alles beginnt mit einer Oper, es folgt ein Ball, Protz, Prahl und Pomp, klassische Musik von der Tonspur ohne Pause. Eine Voice-over-Erzählerin quasselt unablässig und stellt alle Figuren vor, um dem Film auch anschließend erhalten zu bleiben. Sie hat etwas von einer den Inhalt leicht ironisierenden Vorleserin. „Zeit der Unschuld“ vermittelt tiefe Einblicke in stocksteife aristokratische Etikette, einen wahnhaften Drang nach Konvention und überholte Moral, ist dabei sehr dialoglastig und leider auch langweilig – vermutlich, weil er es mit dem Realismus übertreibt: Wo Figuren in Scorseses Filmen sonst kein Blatt vor den Mund nehmen, gar zu Cholerik und brutaler Gewalt neigen, muss hier alles hinter der Etikette zurückstecken, sind selbst private Dialoge unheimlich zurückhaltend und im- denn expressionistisch. Das ist selbstredend Ausdruck einer ganz bestimmten Form von Unterdrückung, die der Film aufs Korn nimmt. Meine wesentlich bessere Hälfte merkte an, das habe viel von Tolstois „Anna Karenina“ – und wer wäre ich unbelesener Klotz, ihr zu widersprechen? Mit ein paar saftigen Flüchen, Fausthieben oder Explosionen wäre das alles nur ungleich interessanter…

Was „Zeit der Unschuld“ dennoch, hat man sich erst einmal irgendwie auf ihn eingegroovt, sehenswert macht: Die Handlung stellt letztlich zwei interessante Frauentypen gegenüber – und den Mann als überraschend naiv dar. Damit relativiert sich auch das längere Zeit zelebrierte Herumgehacke auf May, die ich im wahren Leben vermutlich mit „Ey, die ist doch voll nett!“ verteidigen würde. Zudem ist „Zeit der Unschuld“ nicht nur ein Ensemble-, sondern auch ein Ausstattungsfilm. Ob einen das in diesem speziellen Falle erreicht, sei dahingestellt, anerkennen muss man es aber – und Freundinnen und Freunde einer detailgetreuen Nachstellung des adligen Oberschicht-New-Yorks der 1870er (e.V.) dürften ihre helle Freude hieran haben.

Vermutlich sollte der Film genauso werden, wie er geworden ist und ist dafür wirklich gut, aber für Vadder sein‘ Sohn ist das eher nix – Scorsese hin, Winona her…
Apropos: Scorsese widmete den Film seinem während der Postproduktion verstorbenen Vater.
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Santa & Co. – Wer rettet Weihnachten?

„Warum haben sie dich grün angezogen? Arbeitest du für‘n Bioladen?“

Für die Fantasy-Familienkomödie „Santa & Co. – Wer rettet Weihnachten?“ aus dem Jahre 2017 fungierte der Franzose Alain Chabat („Auf den Spuren des Marsupilami“) als Autor, Regisseur, Hauptdarsteller und sogar Koproduzent in Personalunion. Der französisch-belgisch koproduzierte Film ergänzt die saisonale Gattung des Weihnachtsfilms um einen erfrischenden Beitrag. Ob die Handlung wie behauptet auf einer wahren Geschichte beruht, sei jedoch dahingestellt…

„Haben Sie mich beobachtet?!“ – „Klar, als du klein warst!“ – „Ist ja ekelhaft!“

Inmitten der Vorbereitungen aufs Weihnachtsfest wird plötzlich einer der Wichtel, die unter ihrem Chef Santa Claus (Alain Chabat) so eifrig Geschenke herstellen, krank – und mit ihm alle weiteren 91.999 Wichtel. Santa und seine Frau Wanda (Audrey Tautou, „Die fabelhafte Welt der Amélie“) finden heraus, dass die Wichtel offenbar Vitamin C benötigen, um wieder gesund zu werden. Also reist Santa mit seinem Rentierschlitten zur Erde, um 92.000 Vitamintabletten zu beschaffen. Als er in ein Unwetter gerät, strandet er in Paris. Als Santa dort eine Apotheke aufsucht, kommt es zu Problemen und er wird prompt verhaftet. Auf der Polizeiwache lernt er jedoch den Anwalt Thomas (Pio Marmaï, „C’est la vie – So sind wir, so ist das Leben“) kennen. Zusammen mit seiner Frau Amélie (Golshifteh Farahani, „Paterson“) und seinen Zwillingen Maëlle (Tara Lugassy) und Mathis (Simon Aouizerate, „Mein neues bestes Stück“) versucht dieser, Santa zu unterstützen– was zunächst einmal bedeutet, ihm dabei zu helfen, sich im für ihn so fremden Paris zurechtzufinden…

„Er riecht nach Plätzchen!“

Da sitzt er nun also, der Dicke, an dessen Existenz so viele Erwachsene zweifeln, zusammen mit seiner Wanda am Kamin und liest Wunschzettel. Wanda ist ein wenig aufgebracht, würde zu gern einmal mit ihm nach Paris. Zunächst läuft jedoch noch alles nach Plan: Auf seinem Snowboard besucht Santa die Wichtel in der Weihnachtswerkstatt, wo er die Effizienz durch Massenproduktion steigern will. Wie dort gearbeitet wird, wurde sehr kreativ und in bunten, detailverliebten Kulissen umgesetzt. Nach dem plötzlichen Totalausfall seiner Wichtel auf die Erde zu müssen, behagt Santa nicht so recht, aber er hat keine andere Wahl. Entsprechend emotional fällt der Abschied von Wanda aus.

„Ich kapier' einfach nicht, wie euer Land funktioniert.“ – „Es funktioniert nicht, das ist ja das Problem.“

In Paris irritiert Santa zunächst, auf Menschen in Weihnachtsmannkostümen zu treffen. Diese wiederum irritiert, dass sein Kostüm grün statt rot-weiß ist – ein Running Gag, der sich durch den Film zieht und mit Seitenhieben auf Coca-Cola einhergeht. Dass Santa mittels eines gewürfelten Paschs aus dem Gefängnis entkommt, ist wiederum eine etwas alberne Anspielung auf das Brettspiel Monopoly. So leicht hat er’s aber beileibe nicht immer; in Culture-Clash-Manier begegnet er dem Treiben in Paris und dem Leben der Menschen mit Unverständnis und erntet dasselbe, wird gar zusammengeschlagen, als man ihn für einen Perversling hält. Wirtschaft und Markt muss man ihm erst einmal erklären und mit Kindern kennt er sich kein bisschen aus, ist als Babysitter daher auch eher so semi… Da kann man sich aus lauter Frust auch schon mal in der Kneipe betrinken.

Diese Art von Situationskomik, angereichert mit einigem Dialogwitz, etwas animierter Tricktechnik (die CGI-Rentiere sehen sehr realistisch aus) und kräftig bunten Farben unterhält der Film gut und ist frech (und unweihnachtlich/unkitschig) genug, um auch ältere Familienmitglieder bei der Zuckerstange zu halten, tritt dramaturgisch aber zuweilen etwas auf der Stelle. Daher setzt das Drehbuch noch einen drauf und lässt Thomas‘ kleinkriminellen Bruder Jay (Johann Dionnet, „Hippokrates und ich“) Santas Kiepe für eine Zaubershow stehlen. Als er darin ein Kind verschwinden lässt, taucht es nicht wieder auf… Und für die 92.000 Wichtel sind noch immer nicht genügend Vitamintabletten gefunden worden! Also werden wir Zeugen einer visualisierten Schreckensvision, wie sich die Welt veränderte, lieferte er keine Geschenke mehr, als ihn eine Sinnkrise ereilt. Daraufhin verliert er gar seine Kräfte. Diese Zuspitzungen der Ereignisse führen zu einem turbulenten Finale, an dessen Ende sich herausstellt, dass Santa die Lösung des Problems auch wesentlich einfacher hätte haben können.

„Santa & Co. – Wer rettet Weihnachten?“ ist ein recht gelungenes modernes, urbanes und dabei sehr europäisches Weihnachtsmärchen, das eine willkommene Abwechslung zu schmalztriefenden Familienweihnachtsfilmen darstellt. Die schauspielerischen Rollenauslegungen sind nicht so karikierend überzogen wie in anderen Komödien und der Humor ist oft angenehm aus dem Leben gegriffen, weist sogar gesellschafts- und systemsatirische Züge auf. Eine Logiklücke allerdings bleibt bis zum Schluss klaffend: Weshalb wissen keine Eltern, dass der Weihnachtsmann die Geschenke bringt? Das müssten sie doch bemerken…?

[oder anders ausgedrückt:]
Schnee-Aufkommen: 2/10
Scare-Faktor: 3/10
Humor: 7/10
Vitamin-C-Tabletten: 1/92.000
Weihnachtsfeeling: 7/10
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Magische Momente: Pauls Weihnachtswunsch

Der Engel und das Arschlochkind

„Ich will meine Familie zurückhaben! Ich will, dass alles so wird wie früher!“

Für seine Weihnachtsfernsehfilmreihe „Magische Momente“ produzierte das ZDF die im Jahre 2018 erstausgestrahlte Fantasy-Familienkomödie „Pauls Weihnachtswunsch“, die von Regisseurin Vivian Naefe („Die wilden Hühner“) inszeniert wurde.

„Ich will kein Geschwisterchen, ich will nach Hause!“

Paul (Jeremy Miliker, „Die beste aller Welten“) ist neun Jahre jung – und frustriert: Seine Eltern Maya (Petra Schmidt-Schaller, „Stereo“) und Matz (Matthias Koeberlin, „Die Toten vom Bodensee“) haben sich getrennt, vier Wochen vor Weihnachten zieht er mit seiner Mutter um und soll nun zusammen mit deren neuem Freund Julius (Axel Stein, „Feuer, Eis & Dosenbier“) und dessen Teenie-Tochter Lily (Nele Trebs, „Dark“) eine Patchwork-Familie in einer Berliner Wohnung bilden. Zu allem Überfluss erwartet seine Mutter auch noch ein Kind von Julius. Doch womit Paul nicht gerechnet hat: Der riesige Holzengel, den seine Mutter, eine Künstlerin, modelliert hat und dem ein Flügel fehlt, verleiht ihm magische Kräfte! Er kann nun durch massive Wände gehen, was er, erst einmal vertraut mit seinen neuen Fähigkeiten, dazu nutzt, um seine Familie mittels Streichen in den Wahnsinn zu treiben sowie Maya und Julius auseinanderzubringen…

„Hat dich der wilde Watz gebissen?!“

Naefe eröffnet ihren Film mit dem Umzug; Paul kommentiert die Ereignisse aus dem Off im Präteritum. Eine Rückblende setzt zwölf Monate vorher ein und zeigt, wie Maya und Julius sich kennenlernen, Pauls Eltern sich trennen, die Gütertrennung voll- und schließlich auseinanderziehen. Zurück in der Gegenwart verabschiedet sich Paul von seinem Vater. Nun sind es vier Wochen vor Weihnachten und Paul passt das alles gar nicht. Der Missmut des Jungen ist nachvollziehbar, wenngleich Maya und Julius keine Unmenschen sind und viel Geduld mit ihm haben. Dadurch kristallisiert sich heraus, dass Autorin Silke Zertz hier nicht die altbekannte Geschichte von der sich in ihrem neuen Liebhaber irrenden Mutter aufwärmt, die kein Gespür für die Sorgen und Nöte ihres Nachwuchses hat, von diesem nach einer Zuspitzung der Ereignisse, in deren Zuge sich „der Neue“ als Wolf im Schafspelz entpuppt, aber wieder auf den rechten Weg gebracht wird. Im Gegenteil: Die Trennung seiner Eltern ist nachvollziehbar und Julius ein sympathischer Mann, der sicherlich auch einen guten Stiefpapa abgäbe, wenn man ihn nur ließe. Damit zeigt sich „Pauls Weihnachtswunsch“ in der Realität verwurzelt.

Alles andere als realitätsnah hingegen ist – natürlich – das phantastische Element des Films, das Paul, noch nichts davon ahnend, zunächst einmal durch die Zimmerwand auf die Markise des Ladengeschäfts unter seiner Wohnung plumpsen lässt. Pfusch am Bau? Nein, eine Superkraft, mithilfe derer er Weihnachtsgeschenke entdeckt und seine „Bonusschwester“ Lily ausspioniert. Bei der älteren Nachbarin Elfriede (Annekathrin Bürger, „Polizeiruf 110: Das Duell“) springt er versehentlich in die Badewanne. Als habe sie so etwas kommen sehen, badete die schamerfüllte Dame im Badeanzug… Schnell findet Paul fragwürdigen Spaß daran, seinen Mitmenschen Streiche zu spielen, die immer böser werden, wobei sein Hauptopfer „Bonusschwester“ Lily ist. Er manipuliert seine Klassenarbeit und vertraut sich als einzigem dem Spätiverkäufer Kofi (Jerry Hoffmann, „Heil“) an.

Der Lausebengel sorgt überall für Zwietracht und Chaos und entpuppt sich als ein waschechtes Arschlochkind, dem man richtiggehend wünscht, dass es endlich entlarvt wird. Viele Tränen fließen und die Beziehung zwischen Maya und Julius kriselt. Nachdem Paul auch noch beim Stehlen erwischt wurde, gibt er seiner Mutter gegenüber endlich alles zu. Nun soll der Engel weggeschafft werden, was Paul zu verhindert versucht. Doch als Maya sein kleines Geschwisterchen gebiert, kann er seine Superkraft endlich einmal sinnvoll einsetzen. Dies bringt alle ganz im Geiste der Weihnacht zusammen und man feiert das Fest und die Geburt gemeinsam, woraufhin Paul seine besondere Fähigkeit wieder verliert.

Dieses Happy End, das Paul wieder aus dem Off kommentiert, will nicht so ganz passen, hat man doch das Gefühl, dass dadurch mitnichten alles wieder gut sein und man zur Tagesordnung übergehen könne – zu viel Unheil hat der Rotzlöffel dafür angerichtet, von Jeremy Miliker zudem in einer befremdlich egoistisch und empathielos anmutenden Nonchalance gespielt. Vielleicht ist „Pauls Weihnachtswunsch“ in seiner Aggressivität für Scheidungskinder erbauend; für alle um Harmonie bemühten Patchwork-Eltern- und -Geschwisterteile jedoch dürfte Naefes Film nicht so recht funktionieren.

Punkten kann „Pauls Weihnachtswunsch“ indes mit den schauspielerischen Leistungen quasi aller, die um Paul herum agieren, mit der grundsätzlich reizvollen Idee, einmal sprichwörtlich (nicht nur) mit dem Kopf durch die Wand zu können, und damit, dass er auch seine erwachsenen Figuren ernstnimmt, statt sie zu naiven oder einfältigen Karikaturen zu degradieren.
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Magische Momente: Ein himmlisch fauler Engel

„Ist hier Fahnenappell, oder was?!“

Nach „Pauls Weihnachtswunsch“ aus dem Jahre 2018 wurde die ZDF-Weihnachtsfernsehfilmreihe „Magische Momente“ ein Jahr später mit der Fantasy-Kinderkomödie „Ein himmlisch fauler Engel“ fortgesetzt. Das Drehbuch verfasste wieder Silke Zertz, doch die Regie übernahm diesmal Christoph Schnee („Kückückskind“). Der in Tschechien gedrehte Film wurde auch tschechisch koproduziert.

„Ich krieg' meine Ansagen von ganz oben, du Klugscheißer!“

Engel Adelheid alias Addi 2 (Katharina Thalbach, „Sonnenallee“) muss sich erst noch seine Flügel verdienen. Dafür muss sie zunächst einmal gute Taten auf Erden vollbringen und Weihnachtsdienst ableisten – konkret jenen, aus der nie lachenden elfjährigen Marie (Cloé Heinrich, „jerks.“) wieder ein fröhliches Mädchen zu machen. So begibt es sich, dass sie die Halbwaise – ihre Mutter starb einen tragischen Unfalltod – auf der Bahnfahrt zu ihrer Großmutter begleitet, die Marie über die Weihnachtstage besuchen möchte. Doch was nach einer recht entspannten Fahrt für die ziemlich unmotivierte Addi 2 klingt, entwickelt sich zu einer chaotischen Odyssee, an der irgendwann auch Addi 2 Freude entwickelt, die aber auch für Konfusionen im Himmelsreich aufgrund verwandtschaftlicher Verhältnisse sorgt…

„Klug und faul – das sind die Besten!“

Zu Beginn spielt der Film in eben jenem Himmelsreich und liefert eine eigenwillige Auslegung des dortigen Zusammenlebens und dessen Organisation. Die Engel werden zur Lagebesprechung zusammengetrommelt. Die freche, faule, renitente, sich den Regeln dort droben nur widerwillig unterordnende Addi 2 ärgert derweil spielende Kinder, indem sie es über ihnen regnen lässt. Nun bekommt sie die mürrische Marie zugewiesen, die „für ihr Alter zu alt“ sei. Auf Erden inszeniert der Regisseur mit dem passenden Nachnamen für einen Weihnachtsfilm neben Trubel beim Weihnachtsbaumverkauf eine aufgeheizte Stimmung, innerhalb derer generell wenig Raum für gegenseitige Rücksichtnahme und Menschlichkeit ist, womit er sozialkritische Akzente setzt. Marie schmeißt zu Hause den Haushalt und behandelt ihren Vater (Maxim Mehmet, „Männerherzen“), als sei sie seine Mutter. Dieser ist Polizist, hat an Weihnachten Dienst und engagiert Addi 2 als Kinderbetreuerin – natürlich ohne zu wissen, dass es sich bei ihr um einen Engel handelt.

Nach diesem durchaus stimmigen Einstieg nimmt das Unglück seinen Lauf, leider sowohl inhaltlich-dramaturgisch als auch qualitativ. Marie wird als zwar depressiv verstimmtes, dafür aber unheimlich diszipliniertes und pflichtbewusstes Mädchen konnotiert, dem Addi 2 als das genaue Gegenteil gegenübergestellt wird. Dieser komödiantisch unterhalten sollende Kontrast wird mit der Brechstange generiert, wenn Addi 2 bereits vor Antritt der Bahnfahrt die Fahrkarten verliert und sich während der Reise nicht etwa unangepasst oder rebellisch, sondern schlicht asozial verhält. Diverse erfahrenere Engel, u.a. Klaus 33 (Volker Michalowski, „Inglorious Basterds“) und Emma 7 (Jeanne Goursaud, „Klassentreffen 1.0“), beobachten die Mission und greifen helfend ein, dennoch werden Marie und Addi 2 auf dem ersten Zwischenhalt ohne Gepäck zurückgelassen und muss Addi 2 ein Auto knacken (!), um den Zug wieder einzuholen. Mit ihrem Verhalten macht Addi 2 ihrem Schützling mehr Angst als alles andere, bringt aber immerhin andere Kinder zum Lachen – allein, das Vergnügen will sich nicht so recht auf mich als Zuschauer übertragen. Als der Zug dann auch noch unterwetterbedingt steckenbleibt, wird Emma 7 auf die Erde hinuntergeschickt, um die Situation zu retten, weil Marie verständlicherweise einfach nur noch wegwill.

Themen wie Tod und Vergänglichkeit sind hier allgegenwärtig, trotz Einstufung (und Selbsteinschätzung) als Komödie ist der Film auf eine typisch deutsche Weise schwermütig und überhaupt nicht lustig. Emma 7 entpuppt sich schließlich als Maries verstorbene Mutter, eine moralinsaure Rückblende zeigt ihren Tod. Der Film wird nun hochgradig sentimental und viel zu gefühlsduselig, und der nächste Halt heißt Kitsch: Im steckengebliebenen Zug entwickelt sich eine spontane Weihnachtsfeier inklusive „Morgen Kinder wird’s was geben“-Gesangseinlage aller Fahrgäste. Diese abrupten Stil- und Stimmungswechsel des Films zehren an den Nerven. Und wenn am Schluss einfach die Zeit zurückgedreht wird, ist man fast geneigt, sich dasselbe zu wünschen, um sich gegen eine Sichtung entscheiden zu können. Größtes Pfund des Films sollte eigentlich die verdiente Schauspielerin Katharina Thalbach sein, doch ist ihre Rolle als gegen die üblichen Klischees gebürsteter Engel einfach nur unangenehm. Bei allem Respekt vor den Verdiensten dieser Darstellerin: Als Großstädter kann ich über ihre Rolle allein schon deshalb nicht lachen, weil sie mich an obdachlose Alkis erinnert, die in der S-Bahn auf dem Weg zur Maloche oder zurück zu nerven beginnen (was herzloser klingt, als es gemeint ist).

Zugegeben: Ich zähle nun auch nicht zwingend zur Zielgruppe dieses Films. Wenn seine Geschichte Kindern viel zu früh verstorbener Eltern hilft, erreicht er viel. Aber tut er das? Oder wirkt er im Gegenteil gar retraumatisierend? Keine Ahnung. Um auch ein paar positive Worte über „Ein himmlisch fauler Engel“ zu verlieren: Die kleine Cloé, die ich bereits aus „jerks.“ kannte, spielt großartig. Hörenswert sind zudem Teile des Soundtracks, der „I’m a Believer“ von den Monkees sowohl im Original als auch in einer moderneren Coverversion aufweist; und Joey Ramones coole „What a Wonderful World“-Coverversion im Epilog beweist Geschmack und stimmt dann doch irgendwie versöhnlich.

Die „Magische Momente“-Reihe wurde bereits nach diesem zweiten Beitrag eingestellt.
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Christmas Bloody Christmas

„Weihnachten ist eben scheiße!“

US-Regisseur Joe Begos („Bliss”) legte dem Genrepublikum im Jahre 2022 einen Tech-noir-Slasher unter den Weihnachtsbaum, der Weihnachtshorror in der Tradition von „Black Christmas“ und „Stille Nacht, Horror Nacht“ mit Science-Fiction-Dystopien der Marke „Terminator“ und „RoboCop“ im Low-Budget-Retrogewand miteinander verbindet: „Christmas Bloody Christmas“.

„Die Welt da draußen ist groß...“

Tori (Riley Dandy, „City of Gold“) betreibt mit ihrem Angestellten Robbie (Sam Delich, „Der Spinnenkopf“) einen Plattenladen in einer US-amerikanischen Kleinstadt, ist wie Robbie alleinstehend und kann dem Weihnachtsfest so gar nichts abgewinnen. Ihr Tinder-Date mit einem echten Sperminator lässt sie kurzerhand sausen und beschließt, lieber zusammen mit Robbie den lauen Heiligabend – es fällt Schnee bei eher milden Temperaturen – bei Alkohol und Gesprächen über Filme und Musik rumzubringen. Dem macht jedoch bald der amoklaufende Weihnachtsmann-Roboter „Robosanta+“ (Abraham Benrubi, „The Finest Hours“) aus dem örtlichen Spielzeugladen einen Strich durch die Rechnung: Eine technische Fehlfunktion erinnert ihn daran, ursprünglich einmal eine fürs Verteidigungsministerium entwickelte, militärische Killermaschine zu sein. Seine blutige Spur zieht sich durch das beschauliche Örtchen…

„Knallen Sie ihm den verdammten Kopf weg!“

Begos leitet seinen Film mit einer TV-Programmvorschau und Werbespots ein, darunter ein den „Robosanta+“ bewerbender Clip. Toris stylischer Plattenladen hat noch geöffnet, mit Robbie quatscht sie sehr offen über Sex – bis der Plan für einen gemeinsamen Abend steht, von dem Robbie sich etwas mehr verspricht, denn er ist in Tori verschossen. Sie glauben, es gebe nur ganz wenige gute Weihnachtslieder, kennen also meine Weihnachts-Playlist nicht (aber das nur am Rande). Den imposanten, vom bulligen Abraham Benrubi verkörperten „Robosanta+“ sieht man in voller Pracht erstmals im Spielzeugladen, der von Freunden der beiden betrieben wird. Die ersten alkoholischen Getränke werden konsumiert und zu zweit geht’s weiter in die Kneipe, wo man über Musik und Weihnachtsfilme schwadroniert. Begos nimmt sich Zeit für die Exposition, auf den kommenden Horror deutet erst eine in den Nachrichten verlautbarte Rückrufaktion bezüglich des Roboters hin. Während dieser sich im Spielzeugladen in schöner Point-of-View-Perspektive in Bewegung setzt, betritt ein frustrierter Typ kurz vor Schließung die Kneipe. Wer kann das wohl sein? Ach, der Sheriff.

Das Kneipen- und Angetrunkenengequatsche wird sehr realistisch wiedergegeben, das Dialogbuch verzichtet auf zusätzliche Karikierungen. Derweil findet der „Robosanta+“ ganz den Genreregeln folgend seine ersten Opfer im kopulierenden Pärchen im Spielzeugladen. Robbie fährt mit Tori zu ihr nach Hause, wo man fröhlich weitertrinkt und die Themen Filme, Musik und Filmmusik vertieft, bis man endlich miteinander herummacht – was in Sachen Fan-Service schon mal die halbe Miete ist. Welcher Genrefreund träumt schließlich nicht von einem Job im Plattenladen mit einer coolen, attraktiven Chefin, mit der man erst wunderbar über pop- und subkulturelle Nerdthemen quatschen und sie anschließend flachlegen kann? Doch auch im weiteren Verlauf bleibt Begos der Struktur seines Films verpflichtet und zeigt die parallel stattfinden Untaten des wütenden „Robosanta+“, der mittlerweile ins Nachbarhaus eingedrungen ist und dort axtschwingend Köpfe platzen lässt. Leise rieselt der Schnee, laut splattert der Santa.

Weshalb Robbie und Tori ihr Tête-à-Tête beenden, nachdem er sie per Cunilingus zum Höhepunkt gebracht hat, verstehe wer will; aber viel Zeit für eine Fortsetzung wäre ohnehin nicht geblieben, denn nun bekommen die beiden Wind davon, was vor sich geht – und dass der Militär-Santa auch vor kleinen Kindern keinen Halt macht. Tori weckt ihre Schwester Liddy (Kansas Bowling, „Once Upon a Time in... Hollywood“) und deren Mann, doch nur Robbie und sie können entkommen – zunächst zumindest. Der unkaputtbare Killerrobo zieht weiter Scheitel mit der Axt und zerteilt Fratzen, lässt sich dabei auch von der Polizei nicht aufhalten. Aufgrund seines überaus menschlichen Äußeren weiß noch niemand, dass es sich bei ihm um eine Maschine handelt, was ihm zum Vorteil gereicht. Er verhält sich wie ein typischer Slasher-Antagonist und die Bullen eben wie so oft: wie ignorante Idioten, als sie Tori kein Wort glauben und sie festnehmen. Erwartungsgemäß avanciert sie dennoch zum Final Girl in einem wahrlich nervenaufreibenden Finale.

Obwohl „Christmas Bloody Christmas“ in der Gegenwart spielt, versuchte Begos sich an dem Spagat, ihn mit den Tugenden des ‘80er-Genrekinos zu inszenieren: Die wirklich guten Spezial- und Make-up-Effekte sind offenbar allesamt echte Handarbeit, der Soundtrack stammt aus dem Synthesizer (wenn nicht gerade Metalsongs laufen oder sonstwie verzerrte E-Gitarren quietschen) und sehr (vielleicht gar etwas zu) viel weihnachtlich rot-grünes Neonlicht sorgt für die tolle visuelle Ästhetik des Films. Dramaturgisch übereilt er nichts, sondern arbeitet mit wohliger Suspense und sympathischen Figuren, um schließlich das Tempo immer weiter anzuziehen, es mit dramatisierenden Zeitlupen zu konterkarieren, ein klassisches Finale zu zelebrieren und sich gegen Ende sogar in Sachen Creature- bzw. Robot Design noch etwas einfallen zu lassen, bei alldem aber trotzdem unterhalb der 90-Minuten-Marke zu bleiben. Nerdige Details wie ein paar im Laden herumstehende VHS-Kassetten oder ein „Spookies“-Plakat wärmen das Herz zusätzlich, Hommagen an Vorbilder wie „Terminator“ bereiten cinephile Freude. Zugegeben, das muss man nicht mögen und wirkt bisweilen etwas überstilisiert, gleichwohl: mir gefällt’s. Der profunde Austausch Toris und Robbies zu Themen wie Horror, Hardrock/Metal und Filme dürfte vor allem all jene erfreuen, die sich ebenfalls für diese kulturellen Aspekte interessieren. Andere könnten damit aber ein Problem haben, vor allem dann, wenn sie nur Bahnhof verstehen.

Meine Kritikpunkte sind jedoch andere und betreffen den „Robosanta+“, diese Mischung aus T-800, dem RoboCop und dem menschlichen Weihnachtshasser aus „Stille Nacht, Horror Nacht“. Dass er sogar Autofahren kann, ist innerhalb eines in der Gegenwart und nicht etwa in der Zukunft spielenden Films dann doch etwas zu viel des Guten. Wünschenswert wäre hier ein Pro- oder Epilog gewesen, der die Hintergründe dieser Killermaschine ein wenig erläutert und ihr Verhalten damit etwas plausibler erscheinen lässt. Und daraus, dass doch eigentlich noch wesentlich mehr seiner Sorte herumlaufen müssten, macht Begos leider gar nichts, womit er das Potential dieser Art von Bedrohung nicht voll ausschöpft. Dennoch: Schwer sympathische, inszenatorisch und technisch gute saisonale Unterhaltung für Genrefans!
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Deadly Games

„Alle Kinder glauben an Magie. Sie hören erst auf, daran zu glauben, wenn sie erwachsen sind. Außer denen, die vor Enttäuschung über die Wirklichkeit nichts mehr von ihr erwarten.“

Frankreich, das Land der Revolutionen: Die Nouvelle Vague war eine, bis es sich deren Vertreter in der französischen Filmlandschaft bequem eingerichtet hatten. Die nächste war dann der Genrefilm nach US-Vorbild, der sich gegen sie richtete: Zurück in die Studiokulissen! Einer der Pioniere dieser Bewegung ist der französische Filmemacher René Manzor, der nach seinem ersten abendfüllenden Spielfilm „Reise in die Unendlichkeit“ aus dem Jahre 1986 die Weihnachtshorror-/-action-Thriller-Melange „Deadly Games“ realisierte. Erste Festival-Aufführungen datieren aufs Jahr 1989, seinen Kinostart hatte der Film 1990.

„Versuch nicht, den Weihnachtsmann zu sehen. Er verwandelt sich sonst in ein Ungeheuer!“

Thomas (Alain Musy, „Reise in die Unendlichkeit“), ein aufgewecktes neunjähriges Kind und Halbwaise, lebt mit seinem Großvater (Louis Ducreux, „Ein Sonntag auf dem Lande“) und seiner Mutter (Brigitte Fossey, „La Boum – Die Fete“) in einem modern ausgestatteten, imposanten Schloss. An Spielzeug und Technik mangelt es dem verspielten, aber auch in EDV und sogar Kfz-Mechanik begabten und bastelfreudigen Jüngling nicht, denn seine Mutter sorgt als Chefin eines großen Kaufhauses für einen stattlichen Wohlstand. Obwohl Thomas ein hochintelligenter Junge ist, glaubt er noch an den Weihnachtsmann und will allen Zweiflern gegenüber den hieb- und stichfesten Beweis für dessen Existenz erbringen: Er hat die Wohnung mit Videoüberwachungstechnik ausgestattet, mittels derer er die Ankunft Santas festhalten will. In der Nähe des Kamins, durch den er ihn erwartet, versteckt er sich unter einem Tisch. Und tatsächlich: Ein Mann im Weihnachtsmannkostüm (Patrick Floersheim, „Frantic“) steigt durch den Kamin in die Villa ein, bringt jedoch zu Thomas‘ Entsetzen als erstes den Familienhund um – und hat es im Anschluss auf Thomas und seinen Opa abgesehen. Es handelt sich nämlich mitnichten um den gemütlichen Dicken vom Nordpol, sondern um einen Psychopathen, den Thomas‘ Mutter kurz zuvor als Kaufhaus-Weihnachtsmann entlassen hat. Und während diese noch Überstunden im Büro schiebt, kämpft Thomas ums Überleben…

„Es ist meine Schuld, Mama...“

Das Zitat vom Beginn dieser Rezension stammt vom Kinderpsychologen Bruno Bettelheim und eröffnet den Film in Form einer Texttafel. Denjenigen, der später zum Killer on the loose im Santa-Kostüm werden wird, sehen wir zunächst durch eine Schneeballschlacht von Kindern flanieren, die ihn zu seiner Enttäuschung nicht mitspielen lassen. Mit diesem Verweis auf dessen Infantilität will Manzor offenbar andeuten, dass es sich um einen zurückgebliebenen Sonderling handelt. Optisch ähnelt er Stadtstreichern und Tippelbrüdern. Der völlige Kontrast zu dessen Leben, in das wir lediglich einen winzig kleinen Einblick gewährt bekommen haben, ist dann Thomas‘ Tagesbeginn: Der einen damals schwer angesagten Vokuhila-Haarschnitt tragende Junge steht aus seinem aufgemotzten Bett auf, geht erst einmal trainieren, als befände ich er sich in einem „Karate Kid“-Film, und verkleidet sich als schwerbewaffneter Söldner, um in der Wohnung Krieg mit seinem Hund „JR“ zu spielen. Seinen Opa, zu dem er ein überaus herzliches Verhältnis pflegt, weckt er in dieser Montur zum Frühstück. Manzor inszeniert diese Figureneinführung nach allen Regeln der modernen, sich an ein jugendliches Publikum richtenden Filmkunst – beeindruckend.

Thomas‘ Mutter will auf den letzten Drücker Weihnachtsmänner für ihr Kaufhaus engagieren und geht daher recht wahllos vor – was ihrer Familie zum Verhängnis werden soll. Thomas‘ Kumpel Pilou (Stéphane Legros, „Mes meilleurs copains“) glaubt im Gegensatz zu ihm nicht mehr an den Weihnachtsmann. Per Minitel, der französischen BTX-Variante, kommuniziert Thomas durch Zufall mit seinem späteren Peiniger, offenbar gab es Frankreich seinerzeit öffentliche Minitel-Säulen. Nachdem dieser von Thomas‘ Mutter engagiert wurde, gerät er mit einem frechen Kind aneinander und wird prompt wieder entlassen, woraufhin er auf blutige Rache sinnt. Diese völlige Überreaktion ist man als Zuschauer(in) hinzunehmen gezwungen, denn tiefere Einblicke in die Psyche dieses Mannes, der bisher noch kein Wort gesagt hat, werden einem nicht gewährt. Er wird mir nichts, dir nichts zum eiskalten Killer, als er den Auslieferer der Weihnachtsgeschenke für Thomas und seine Familie tötet, sich dessen Weihnachtsmannkostüm überzieht und am Abend in die Villa eindringt. „Deadly Games“ gerät damit zu einem Home-Invasion-Thriller, der den Invasor wunderbar bedrohlich inszeniert und zu einer Art entmenschlichter Bedrohung wie aus einem Horrorfilm stilisiert.

Die Stimmung des Films ist nun ins Düstere gekippt; die bei Dunkelheit spielenden Szenen erhalten einen leichten Blaufilter, der Kälte suggeriert. Der Killer darf jetzt auch zumindest ein paar wenige Worte sprechen – und der technikaffine Thomas macht sich wieder als Söldner zurecht, avanciert zum Fallensteller und Granatenbastler in MacGyver-Manier. Diese entsprechend actionlastige zweite Hälfte setzt viel auf Spannung, arbeitet mit dramatisierenden Zeitlupen und einer – bereits im Auftakt angedeuteten – furiosen dynamischen Kameraarbeit, die zu kreativen Perspektiven neigt. Diese befinden sich häufig unter dem Horizont oder sogar nur knapp überm Fußboden, um die Sichtweise Thomas‘ zu suggerieren. Manzor und sein Team arbeiteten hierfür u.a. mit einem Steadicam-System. Dass es der Killer-Santa nicht leicht mit Thomas und dem Senior hat, liegt aber nicht nur in deren Wehrhaftigkeit begründet, sondern auch in der abgefahrenen Location, die von außen wie ein Märchenschloss aussieht und im inneren über labyrinthische Gänge und sogar einen geheimen Raum verfügt, in dem haufenweise Spielzeug Thomas‘ Vaters und sogar dessen Vaters gelagert wird – eine Art generationsübergreifendes Spielzeugmuseum im Look einer Rumpelkammer als eine von mehreren kuriosen Ideen, die das Drehbuch parat hat. Als schwerere Geschütze aufgefahren werden, wird in die Handlung ein eigens für den Film geschriebenes, von Bonnie Tyler gesungenes Weihnachtslied implementiert, das dann im Abspann noch einmal erklingt (und zu dem im Zuge der Dreharbeiten auch ein Videoclip erstellt wurde). Unabhängig davon ist Thomas am Ende völlig paralysiert.

Dass Thomas irgendwie alles kann, ist natürlich völlig unrealistisch und könnte vermuten lassen, „Deadly Games“ sei für eine gleichaltrige Zielgruppe konzipiert worden, die sich selbst einmal überhöht gezeichnet sehen möchte. Für Neunjährige ist dieser Film trotz Thomas‘ Vorbildfunktion jedoch eher nichts, so sehr er den Jungen auch in den Mittelpunkt stellt und auf Spielzeug und anderes, was Gleichaltrigen eben so alles Spaß macht, rekurriert. Der Spannungs- und der Härtegrad sind hoch, Thomas geht es kräftig ans Leder und Trauer, Verzweiflung, Panik und Todesangst sind die transportierten Emotionen. Inspiriert wurde Regisseur und Autor Manzor augenscheinlich stark vom US-Kino Spielbergs und Konsorten, „Deadly Games“ wirkt sehr amerikanisch. Schade ist es, dass der Killer so gut wie keine Hintergrundgeschichte erhält, sondern eher im Stile eines Michael Myers eingeführt wird – wenn auch nicht konsequent; doch die bruchstückhaften Informationen, die man über ihn erhält, reichen nicht zu einer wirklichen Charakterisierung. Die Gelegenheit, anhand der Gegenüberstellung eines trotz des Tods seines Vaters hochprivilegierten Kinds und eines unterprivilegierten älteren Mannes etwas Sozialkritik einfließen zu lassen, lässt Manzor ungenutzt verstreichen.

Thomas-Darsteller Alain Musy ist Manzors eigener Sohn und spielt seine Rolle überragend sowie mit einer Leidenschaft, die beinahe beängstigend ist – insbesondere hinsichtlich dessen, was ihm hier abverlangt wurde. „Deadly Games“ sieht häufig sehr artifiziell aus, was ihm aber einen coolen End-‘80er-Look verleiht. Die Detailverliebtheit der Inszenierung ist bemerkenswert, so wird beispielsweise die Sehschwäche des Großvaters visualisiert, finden sich aber auch Ehrerbietungen an andere Filme. „Deadly Games“ nimmt viel von „Kevin – Allein zu Haus“ vorweg, war offenbar eine große Inspiration für jenen ungleich erfolgreicheren Mainstream-Hit. Als Fan von Weihnachts-Thrill und ‘ 80er-Ästhetik versende ich meinen Kritikpunkten zum Trotz 7,5 von 10 BTX-Nachrichten, denn „Deadly Games“ genießt zurecht in Kennerkreisen Kultstatus!
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Um mich noch vor Jahresende auch endlich mal ausführlicher zum Skandalfilm des diesjährigen Forentreffens zu äußern:

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Annie Belle – Zur Liebe geboren

Nudisten und Buddhisten

„Was machen Sie so, Michael?“ – „Ach, so dies und das – aber das mach' ich international!“

Einer der leider letzten Filme des italienischen Regisseurs Massimo Dallamano („Venus im Pelz“, „Der Tod trägt schwarzes Leder“) ist das italienisch-britisch koproduzierte Coming-of-Age-Erotikdrama „Annie Belle – Zur Liebe geboren“ aus dem Jahre 1976, in dessen Mittelpunkt – der Titel lässt es erahnen – die Erotik-Aktrice Annie Belle steht und bei dem es sich um einen ihrer wenigen Filme handelt, dem auch ein deutscher Kinostart vergönnt war.

„Glaubst du etwa, dass ein richtiger Vater das für dich tun würde, was ich für dich tue?!“

Die junge, hübsche Annie (Annie Belle, „Laura“) ist als Mädchen von zu Hause weggelaufen und beim ungleich älteren, vermögenden Geschäftsmann Michael (Charles Fawcett, „Der Vampir von Notre Dame“) gelandet, der ihr ein Obdach bietet und sie umsorgt, sie aber auch missbraucht, seit sie 13 ist und sich als ihr Vater ausgibt. Als er sie auf eine Geschäftsreise nach Hongkong mitnimmt, lernen sie im Flieger Linda (Felicity Devonshire, „Rosemaries Liebesreport in 3 Dimensionen“) kennen, die Teil des internationalen Jetsets ist, der es sich in Hongkong bei Sex und dekadenten Partys gutgehen lässt. Vor Ort wird Annie bewusst, dass sie nicht wie bisher mit Michael weitermachen kann und möchte. Sie emanzipiert sich von ihm und kommt, als er wegen Devisenschmuggels verhaftet wird, bei Linda und ihrem Mann Angelo (Ciro Ippolito, „Vieni, vieni amore mio“) unter. Annie verliebt sich in den Antiquitätenhändler und Galeristen Philip (Al Cliver, „Black Emmanuelle, White Emmanuelle“), wird vergewaltigt und benutzt, sogar verkauft und verspielt, erlebt aber auch ihr eigentliches sexuelles Erwachen in der britischen Kronkolonie, das sie zu einer Sinnsuche und damit zu sich selbst führt…

„Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte ich mich richtig wohl. Ich konnte machen, was ich wollte. Ich war frei.“

Um einen möglichst detaillierten Eindruck dieses Films zu vermitteln, werde ich seine Handlung im Rahmen dieser Besprechung inklusive ihres Ausgangs rekapitulieren. Auch, wenn es sich um keinen klassischen Spannungsfilm handelt: Wer sich von der Handlung überraschen lassen möchte, sollte diese Rezension besser nicht bereits im Vorfeld lesen.

Kurios mutet es zunächst einmal an, dass Annie Belles Figur heißt wie sie, man also fälschlicherweise daraus schließen könnte, sie spiele sich selbst. Der Auftakt ist komödiantischer Natur: Ihr vermeintlicher Vater Michael holt sie aus einem Klosterinternat ab. Zu diesem Zeitpunkt hat sie noch langes, brünettes Haar. Während der gemeinsamen Autofahrt zieht sie sich auf der Rückbank Strümpfe an und obenherum um, was ein Rennradfahrer auf der Nebenspur verzückt beobachtet und umso kräftiger in die Pedale tritt. Stets dabei: Annies Stoffpuppe. Auf diese leider recht plumpe Weise versucht einem der Film zu vermitteln, dass Annie bereits über ausreichend weibliche Reize verfügt, um auf Andere anziehend zu wirken, sie sich dessen aber nicht bewusst ist und noch lieber mit Puppen als mit Männern oder Frauen spielt.

„Ihr Männer seid alle Schweine!“

In der Skifreizeit, die sie zusammen mit Michael aufsucht, lässt sie sich ihre charakteristische, fesche blonde Kurzhaarfrisur schneiden, die auch in anderen Filmen Belles Markenzeichen ist. Erst jetzt fallen erste Andeutungen, dass Michael gar nicht ihr Vater ist: Er nimmt sie nur unter der Bedingung nach Hongkong mit, dass sie ihn Daddy nennt. Am dortigen Flughafen werden sie von Lindas Mann Angelo erwartet, beide entwickeln sogleich ein starkes Interesse an Annie. Michael versucht noch, Annie von ihnen zu isolieren, was ein erfolgloses Unterfangen bleibt. Auf dem Hotelzimmer wird endgültig klar, dass sie nicht Vater und Tochter sind und Michael sie seit jeher missbraucht. Das will sie nun nicht mehr und beendet zu seiner Verzweiflung die Beziehung, die sie zueinander haben. Dies mündet jedoch in einer angedeuteten sexuellen Handlung, während er sie zu bleiben anfleht, was einerseits Sexualität und Leid miteinander vermengt (wie es sich als eines der Motive durch den Film ziehen wird), andererseits aber auch einen unangenehm schmierigen Schlusspunkt hinter diese Sequenz setzt.

„Willst du dir nicht lieber was anziehen?“

Da es im weiteren Verlaufe immer wieder heißen wird, sie sei noch Jungfrau, und sie sich auch selbst als eine empfindet, wäre die einfachste mögliche Erklärung, dass sich Michaels Missbrauch auf Oralverkehr beschränkte, aber die psychologisch interessantere mithin, dass sie Sex mit Michael nie als solchen empfunden hat und ihn psychisch aus Selbstschutz gegen freiwillig eingegangene sexuelle Erfahrungen abgrenzt. Ganz aufgeklärt wird dies nicht. Als sie in geselliger Runde mit Linda und Angelo behauptet, noch Jungfrau zu sein, werden diese jedenfalls noch hellhöriger, als sie es ohnehin schon sind. Gemeinsam besuchen sie eine Kunstausstellung Philips, der Phallusskulpturen ausstellt. Auch auf dieser Ausstellung sind keine Einheimischen zu sehen, sondern ausschließlich westliche Geschäftsleute und Tourist(inn)en. Annie kommt sich mit Philip näher, während die Frauen darum wetten, welcher ihrer Kerle sie wohl entjungfern werde. Nicht nur die eigene Partnerschaft, sondern auch die sexuelle Initiation eines Mädchens gerät zum Zeitvertreib gelangweilter Mitglieder der Oberschicht.

Nach Michaels Verhaftung, während der Fahrt zu Linda und Angelo, erspäht Annie erstmals eine Gruppe glatzköpfiger Buddhistinnen und Buddhisten – und damit zum ersten Mal so etwas wie einheimische Kultur. Linda zeigt ihr anschließend einen Hongkonger Markt, „das echte Hongkong“, wie sie betont. Der Film verweist damit noch einmal eindrücklich auf die Diskrepanz zwischen Touri- und ostasiatisch geprägtem Hongkong. Ein Stück weit scheint Dallamano nun aber in narrative Schwierigkeiten zu geraten, denn urplötzlich lässt er Annie auch als Off-Kommentatorin fungieren. Zurück im herrschaftlichen Anwesen, vögelt Linda mit ihrem Reitlehrer Harry (Tim Street), der zugleich Anwalt sei, im Pferdestall, während Annie in einer Parallelmontage genüsslich ein Eis schleckt. Aus dem einen Eis werden viele, was humoristisch zeigen soll, wie ausdauernd es die beiden miteinander trieben. Auf einer Feier der High Society trägt Linda ein durchsichtiges Oberteil und nichts darunter. Hier in Hongkong lässt man sich gehen, läuft bei jeder sich bietenden Gelegenheit nackt herum und ist dauergeil. Auf dieser Feier wird Annie vergewaltigt und weiß zunächst nicht, von wem. Sie wehrt sich erst, lässt es dann aber über sich ergehen, irgendwann scheint es ihr sogar zu gefallen – eine überaus problematische Szene, wenngleich sie nicht zu 100 Prozent eindeutig ist. Sollte sie tatsächlich aussagen wollen, dass Annie hier „zu ihrem Glück gezwungen“ wurde, ist sie eine üble Relativierung von sexueller Gewalt, wenngleich für die damalige Zeit leider nicht singulär, sondern ein beliebtes Narrativ.

Linda ist schockiert und kümmert sich um Annie, die anderen machen sich über sie lustig. Als Angelo sich für eine Woche nach Tokio verabschiedet, erkennt Annie ihn anhand seines Fingerrings als ihren Vergewaltiger. Lindas und Annies Nacktbaden im Pool sorgt für ein wenig Erotik, bevor Annie es auf Philips Ausstellung mit ihm im „Bett der Seufzer“ treibt. Komödiantischer Kniff der Szene: Die Ausstellung ist besucht. Linda jedoch reagiert darauf extrem eifersüchtig, denn sie glaubt, sich in Annie verliebt zu haben, scheint sie aber vielmehr wie ein Spielzeug besitzen zu wollen. Der aus Tokio zurückgekehrte Angelo redet Linda gut zu, steigt mit ihr ins Bett und trifft sich anschließend mit Philips Frau Susan (Patrizia Banti), um herauszufinden, wo Philip und Annie stecken. Pikant daran ist, dass er anscheinend schon länger eine Affäre zu Susan unterhält und sie, während er Sex mit ihr hat, erpresst, damit sie mit dem Aufenthaltsort der beiden herausrückt. Diese besuchen gerade einen buddhistischen Tempel und vögeln dort. Sämtliche Illusionen, dass Annie falschen Freunden entkommen ist und in Philip jemanden gefunden hat, dem sie vertrauen kann, sind dahin, als Angelo sie dort ausfindig macht und Annie von Philip für 60.000 Dollar freikauft. Annie ist daraufhin mit den Nerven am Ende und kommt zurück in den Schoß Angelos und Lindas. In einer unfassbar kitschigen Szene laufen Linda und Annie, nur in weiße Gewänder gehüllt, am Strand im Sonnenuntergang in Zeitlupe auf sich zu und tanzen Ringelreihen – Ihr Ernst, Signore Dallamano?

Eine erotisch inszenierte Lesbenszene mit Gefüßel im Pool wird dagegen leider recht schnell abgeblendet. George (Ted Thomas, „Schizophren“) und Harry beobachten Linda und Annie bei einer Ausfahrt mit dem Boot, Freizügigkeit und Voyeurismus zählen hier zum guten Ton. Die tierliebe Annie schleppt ein Hündchen an, doch Angelo ist dagegen und lässt es heimlich verschwinden. Annie vögelt nun mit Angelo und Linda, doch beim Frühstück am nächsten Morgen werden die Gedanken Lindas und Annies aus dem Off ausformuliert: Linda entwickelt dann doch eine leichte Eifersucht auf Annie, Annie wiederum scheint aus Rache beizeiten abhauen zu wollen. Dass sie sich den beiden sexuell hingibt, scheint mit Sympathie also nicht das Geringste zu tun haben. Und erneut sieht sie die eine glatzköpfige Buddhistin (Ines Pellegrini, „Erotische Geschichten aus 1001 Nacht“) vorbeiziehen.

Später besucht sie Michael im Gefängnis. Er soll abgeschoben werden. Sie eröffnet ihm, nicht mehr mit ihm mitgehen zu wollen und keine Jungfrau mehr zu sein, was er letztlich akzeptiert. Eine Überfallszene auf Annie mit Rettung durch einen Martial-Arts-Kämpfer entpuppt sich als Filmdreh, auf dem sie sich in Chen (Yao Lin Chen, „Der Mann mit dem goldenen Colt“), einen der einheimischen Schauspieler, verguckt und mit ihm durchbrennt. Er vögelt sie auf seinem Motorrad und nimmt sie zum Essen zu seiner Familie mit. Dallamano wollte nun offenbar auf Teufel komm raus ein wenig ausgiebiger das „echte“ Hongkong zeigen: Wie in Mondofilmen erzeugt die Kamera distanz- und respektlose Großaufnahmen der Asiat(inn)en beim Essen mit Stäbchen. Annie und ihr Freund besuchen eine einheimische Mischung aus Kasino, Striplokal und Bordell, wo sie ohne es zu ahnen ihren Körper verwettet, verliert und daher mit einem schmierigen, breit grinsenden Einheimischen Sex haben muss. Angesichts dessen erigierten Glieds in der Unterhose flieht sie nackt auf dem Rücksitz Chens Motorrads (hatte da jemand „Ich – Ein Groupie“ gesehen?). Die Polizei braust hinterher, bis sie Chen und Annie einholt und sich im Brunnen dabei selbst nassmacht. Was vermutlich als komödiantische Sequenz zur Auflockerung intendiert war, gerät leider zu den Einheimischen gegenüber despektierlichem, befremdlichem Klamauk.

Am nächsten Tag fährt Annie mit den Buddhist(inn)en beim Fischen mit und verbringt darüber hinaus einige Zeit mit Buddhistin Sarah, die ihr zuvor immer wieder ins Auge gefallen war. Sarah erteilt Annie weise Ratschläge und zieht sich ebenfalls aus – wie quasi alle Frauen U40 in diesem Film. Daraufhin nimmt sich Annie Geld von Angelo und Linda als Bezahlung, stellt damit infrage, dass der Sex mit ihnen wirklich ihr ureigener Wunsch war und erkennt, sich vielmehr prostituiert zu haben. Am Flughafen treffen Annie, Angelo, Linda und Michael noch einmal aufeinander, doch dieser „Showdown“ verpufft, indem Michael sie verabschiedet und freigibt, während Angelo und Linda sie zwar nur zähneknirschend, aber nun einmal ebenfalls ziehen lassen. Auf große Dramen verzichtete Dallamano am Ende.

Was eigentlich mit Annies Eltern war, erachtete man anscheinend als derart uninteressant, dass es nur kurz angerissen wurde: krank und süchtig seien sie gewesen. Dass eine sich im Erwachsenwerden begriffene junge Frau selbst dann ihrem Elternhaus derart gleichgültig gegenübersteht, wenn sie realisiert hat, von ihrem Sugar Daddy jahrelang missbraucht worden zu sein, ist eine diesem Film ebenso exklusive Eigenart wie der generelle Umgang Annies mit all den Schattenseiten des Lebens, die scheinbar ohne allzu große Mühen als Erfahrungen abgehakt werden, um sich ins nächste Abenteuer zu stürzen. Vielleicht ist es das, was Dallamano und Co-Autor Marcello Coscia für die Unbekümmertheit der Jugend hielten. Eine Vergewaltigung wird einen doch nicht gleich aus der Bahn werfen! Unablässig dudelt das leider immer gleiche Hauptthema des Films, komponiert von Fabio Frizzi & Co., immerhin in unterschiedlichen Instrumentierungen. Dass Dallamano einen leichtfüßigen Film drehen wollte, ist offensichtlich, dafür hat er sich aber zu schwere Themen ausgesucht. Dass er die menschliche Sexualität nicht unumwunden positiv darstellt, sondern seine Protagonistin zu sich selbst finden lässt, indem sie ihr zumindest zeitweilig entsagt und sie aus ihrem übersexualisiertem Umfeld entfliehen lässt, bei den Sexszenen (mit Ausnahme der Vergewaltigung) aber dennoch um eine anregend erotische Darstellung bemüht ist und auch viele Nacktszenen eher selbstzweckhaft sind, macht aus „Annie Belle – Zur Liebe geboren“ einen Sexploitation-Film mit allen Widersprüchlichkeiten, die mit diesem Genre einhergehen.

Natürlich ist Annie Belle eine Augenweide und natürlich trägt all die nackte Haut für ein dafür empfängliches Publikum entscheidend zum Unterhaltungsfaktor dieses Films bei. Unterm Strich scheint sich Dallamano mit seiner so eigenwilligen wie unausgegorenen Mischung aus Missbrauchs- und Coming-of-age/Selbstfindungs-/Emanzipationsdrama, Exotik, Erotik, Komödie und Kritik an einem trügerischen Freiheitsgefühl sowie westlicher Dekadenz kolonialistischen Ursprungs inmitten Südostasiens aber übernommen und daran verhoben zu haben; zu plump und kitschig ist er oft, zu inkonsequent in seinen dramatischen Ausprägungen, zu zurückhaltend in seinen kathartischen Momenten und zu behäbig in seiner Dramaturgie. Dass er verglichen damit, was speziell in Deutschland in den 1970ern im Erotik- und Sexploitation-Bereich so verbrochen wurde, dennoch in einer anderen Liga spielt, möchte ich aber betonen, und wer mit dem von (der zum Drehzeitpunkt 19-jährigen) Annie Belle verkörperten Frauentyp etwas anfangen und beim ‘70er-Erotikkonsum einige Augen zudrücken kann, kann mit diesem Film vielleicht trotz allem eine gute Zeit haben. Immerhin greift er auf, was aus der sexuellen Revolution und der zunächst von den Hippies adaptierten „freien Liebe“ eben auch geworden war: Ein von Missbrauch und Machtdemonstrationen durchzogenes, fragwürdiges Vergnügen für das Patriarchat und Menschen in privilegierten Positionen.

Trivium: Es heißt, Al Cliver sei während der Dreharbeiten mit Annie Belle auch real zusammengekommen, wenn auch anscheinend nur für kurze Zeit.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)
Diese Filme sind züchisch krank!
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