More – Mehr, immer mehr
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Deutschland / Frankreich / Luxemburg 1969
Regie: Barbet Schroeder
Michel Chanderli, Heinz Engelmann, Mimsy Farmer, Klaus Grünberg, Georges Montant, Louise Wink
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OFDB
Stefan Brückner hat das Mathestudium abgeschlossen, und nun brennt er darauf zu brennen. Leben will er, etwas er-leben, und sollte er dabei verbrennen, dann ist das halt eben so. Er trampt aus dem bürgerlichen Lübeck nach Paris, wo er Charlie kennenlernt. Charlie hält sich mit Glücksspiel und krummen Sachen über Wasser, und über Charlie lernt Stefan Estelle kennen. Die kommt aus New York und ist brandgefährlich. Sagt Charlie, aber warum Estelle so gefährlich ist, das verschweigt er. Klar, das macht neugierig, und Stefan legt es darauf an, Estelle kennenzulernen. Man versteht sich, man raucht was, man landet im Bett, aber am nächsten Tag fliegt Estelle nach Ibiza, zu Ernesto Wolf, während Stefan zugesagt hat noch bei einem Einbruch mitzumachen.
Nach dem Bruch fliegt Stefan ebenfalls nach Ibiza. Er lernt Ernesto kennen, der mit seinen Freunden Messer mit Hakenkreuzverzierung auf eine Zielscheibe wirft, und irgendwann findet er auch Estelle wieder. Gemeinsam flüchtet man aus der Überwachung von Ernesto und auf die andere Seite der Insel, auf die einsame Seite. Dort findet man im Haus eines Freundes das Paradies: Den ganzen lieben langen Tag nur ficken, Dope rauchen und das Leben genießen. Irgendwann kommt Cathy vorbei, Estelles Freundin, und Stefan muss lernen, dass Estelle die ganze Zeit Heroin dabei hat, und sich ab und zu auch einen Schuss gesetzt hat. Sie überredet Stefan, das ebenfalls mal zu probieren. Das gewollte Ende des Paradieses, die freiwillige Zerstörung aller Träume …
MORE wurde im Mai 1969 in Cannes präsentiert, also ist er vermutlich im Winter 1968/69 über gedreht worden. Das war die Zeit nach den großen weltweiten Jugendunruhen des Jahres 1968, und noch vor dem sogenannten, auch damals bereits so aufgefassten, Höhepunkt der Hippie-Bewegung, dem Festival in Woodstock im August 1969. Die Ereignisse in Altamont im Dezember 1969, als die Hells Angels während eines Rolling Stones-Konzerts einen Besucher erstachen, lagen noch genauso in der Zukunft wie der Bombenanschlag auf der Piazza Fontana in Mailand (ebenfalls im Dezember) und die Manson-Morde im August des selben Jahres. Das Ende der Unschuld lag also noch in den Nebeln der Zeit verborgen, und doch ist die Einschätzung Barbet Schroeders über die kommenden Jahre bemerkenswert hellsichtig und fast erschreckend prophetisch. Das Ende der Hippies, der Sieg der Gewalt, der Rückzug ins Private und die Flucht in die Drogen, bis dann irgendwann Ende der 70er-Jahre die einstigen Ideen und Träume alle in einer verschmutzten Nadel staken.
Estelle bringt es, während sie an einer Wasserpfeife nuckelt, irgendwann mal auf den Punkt: Leute, die Heroin nehmen, wollen dem Leben entfliehen. Leute, die das hier rauchen oder Acid nehmen, wollen ihr Lebensgefühl steigern. Hippies verachten Heroin. Junkies verachten diese kleinen Narren, die glauben, sie hätten die Welt entdeckt. Sie haben so gut wie nichts miteinander zu tun. Sie leben in anderen Welten. Und doch nimmt Stefan, der Heroin hasst, und alles tut damit Estelle davon runterkommt, trotzdem nimmt er irgendwann seinen ersten Schuss. Der erste ist gigantisch, der zweite war beschissen. Also macht er den dritten zum zweiten … Eine Entwicklung, die in der Realität auch immer wieder zu beobachten ist, und die bis hin zu Filmen wie NON CONTATE SU DI NOI und natürlich CHRISTIANE F. – WIR KINDER VOM BAHNHOF ZOO immer wieder genau so gezeigt wird: Uns kann doch nichts passieren, wir können jederzeit aufhören …
Aber zu dem Zeitpunkt, zu dem der Film spielt, ist die Welt der Aussteiger noch ein wenig in Ordnung. Ibiza als Traumziel der Gesellschaftsverweigerer und Idealisten wird als eine Art Blaue Blume für Kiffer dargestellt, wo rauschhafte Partys gefeiert werden, und wo Altnazis in friedlicher Koexistenz mit feiernden Langhaarigen leben können. War das wirklich so? In MORE ist Ernesto Wolf eine klare Bedrohung für die friedliche Atmosphäre, er wirkt wie ein Redneck in EASY RIDER als stille Bedrohung, aber gleichzeitig versorgt er die Insel auch mit (harten) Drogen. Klar, auch frühere SS-Männer müssen sich ihr Leben finanzieren, und das Netzwerk, das Wolf dafür über die Insel gespannt hat, wird in einigen Szenen kurz und schmerzhaft skizziert. Selbst im Paradies gibt es also die Schlange, die den Apfel in Form von Rauschgift an die Nichtsahnenden weitergibt, und damit den Auszug aus dem vermeintlichen Garten Eden provoziert.
Und so zeigt MORE einen traurig-realistischen Blick auf eine untergegangene Zeit, auf ihre Träume und Wünsche genauso wie auf ihr Scheitern, wobei dieser Aspekt spannenderweise tatsächlich ein hellseherischer Ausblick ist. Das Besitzergreifende Stefans, der es nicht aushält nicht zu wissen was Estelle gestern Abend getan hat, ist für dieses Scheitern letzten Endes genauso ursächlich wie die Unehrlichkeit Estelles; das lustig-abgedrehte Miteinander aus FEAR AND LOATHING IN LAS VERGAS wird mit MORE dahin geschickt wo es hin gehört, nämlich in das Reich der komödiantischen Fabelwelt, und wird ersetzt durch eine bittere Realität. Dass nämlich der Untergang der Ideale immer und bei jeder Idee darin begründet ist, dass verschiedene Menschen verschiedene Vorstellungen von Idealen haben, und im Zusammenspiel dieser Verschiedenartigkeiten die Hölle implizit keimt. Dazu kommt dann noch etwas, was man Wirklichkeit nennt: Stefan geht allmählich vor die Hunde, auf Ibiza ist es im Winter bitterkalt, und die Arbeit in der Bar, um die Schulden bei Ernesto abzuzahlen, das ist ein Alltag, der selbst die schönsten und romantischsten Wunschvorstellungen irgendwann zum Scheitern bringt. Und daraus folgernd die Drogen in die Kanüle und in den Arm …
Was überhaupt nicht zum Scheitern verurteilt ist, das ist die filmische Seite von MORE. Die schauspielerischen Leistungen sind einzigartig, vor allem Mimsy Farmer als Estelle spielt mit vollem körperlichen und psychischem Einsatz die Frau, die sich von sich selbst entfremdet hat und diese Leere nur noch mit Drogen und Lügen zu füllen weiß. Der im Herzen spießbürgerliche Stefan wird von Klaus Grünberg genauso erstklassig skizziert wie die leise Bedrohung durch den früheren Nazi Ernesto Wolf von Heinz Engelmann angedeutet wird. Dazu der wundervolle und perfekt passende Soundtrack von Pink Floyd und eine sehr schöne und unauffällige Kamera, die sich darin gefällt, mit leichten Strichen Stimmungen einzufangen und Atmosphäre aufzubauen, gleich ob am Montmarte in Paris oder am Strand von Ibiza. Filmisch ist MORE mehr als sehenswert, und inhaltlich ebenfalls. Ein Film, der dringend seiner Wiederentdeckung harrt.
7/10