#1 - Stalker
Filmdaten:
OT: Stalker
Regie: Andrei Tarkovsky
Land: UDSSR/Deutschland
Jahr: 1979
Darsteller: Aleksandr Kaidanovsky, Anatoli Solonitsyn, Nikolai Grinko, Alissa Freindlich, Natascha Abramowa - und ein schwarzer Schäferhund
Buchvorlage: 'Picknick am Wegesrand' von Arkadi und Boris Strugatzki
Interessierte seien davor gewarnt, die dt. DVD von Icestorm zu kaufen, die hat keinen O-Ton und keine gute Bildqualität. Die oben zu sehende von Artificial Eye hat hingegen O-Ton, dt. Untertitel und eine sehr gute Bildqualität, ist also absolut empfehlenswert, bei dem derzeitigen Kurs sowieso.
Handlung:
Eine verwahrloste und größtenteils zerstörte Stadt in einem "kleinen Land". Sie ist Zeuge einer scheinbar gescheiterten Zivilisation, die an einem Endpunkt angekommen ist. Nahe der Stadt befindet sich der Grenzzaun zur mysteriösen "Zone". Dieser von der Staatsgewalt hermetisch abgeriegelte Bereich war vor vielen Jahren Schauplatz einer Katastrophe, die die dort lebenden Menschen vernichtet haben soll. Die Wissenschaftler sind sich jedoch uneins, was genau dieses Unglück hervorgerufen hat. Vielleicht ein eingeschlagener Meteorit, ein Angriff von Außerirdischen? Die vor Jahren in die Zone entsandten Kundschafter kamen nicht zurück, und aus Furcht vor dem unbekannten Mysterium wurde die Zone abgeriegelt. In der Bevölkerung geht jedoch das Gerücht um, dass in der Zone ein Raum zu finden sei, in der sich der geheimste und innigste Wunsch eines jeden Menschen erfülle.
Unter der Führung des Stalkers, eines feinfühligen und ortskundigen Fährtenlesers, wagen der Schriftsteller und der Wissenschaftler eine Reise zu diesem sagenumwobenen Raum. Die drei Reisenden können durch die militärische Absperrung brechen und bestreiten den Weg durch die sehr meditativ wirkende Landschaft der Zone. Stetig warnt der Stalker vor einem komplexen System tödlicher Fallen, die er zu erkennen und zu umgehen weiß. Je näher die Protagonisten dem Raum kommen, desto offensichtlicher werden ihre eigentlichen Beweggründe und desto tiefer führt die Reise in ihre eigene Innenwelt....
Quelle: OFDB
Meine Kritik:
(Spoilerwarnung!)
Dieser Film gibt keine Antworten - im Gegenteil. Er lässt den Zuschauer fragend zurück, weil es ungemein schwer fällt, trotz der äußerst dialoglastigen, ja philosophischen Szenen, das Gesehene einzuordnen und zur Gänze zu verstehen.
Aber gerade die Filme, die anregen, die hinterfragen, sind die anspruchvollsten und vor allem wichtigsten Werke, da man sie nicht konsumieren kann, sondern durch die man gefordert wird und vor allem aufgefordert wird, sich mit anderen Sichtweisen, Meinungen und Ideologien - und mit sich selbst auseinanderzusetzen. Popcorn-Kino, das unbestritten seine Daseinsberechtigung hat, bei dem man entspannen und sich ablenken kann, gibt es heutzutage zuhauf, schnelle Schnitte, Hektik, Style - alles schön und gut, aber letztendlich doch unbefriedigend und, geben wir es doch zu, dumm.
Der Film funktioniert auf mehreren Ebenen, da er auch als vordergründige Zivilisationskritik interpretiert werden kann. Da der Film wohl letztendlich der Auslöser dafür war, dass Tarkovsky die UDSSR verlassen musste, beweist, dass auch das Regime sein Werk als Kritik verstanden hat. Dies aber als wesentliche Aussage zu verstehen, wird diesem kaum gerecht und zeugt von der eindimensionalen Denkweise solch totalitärer Regime. Es wäre aber viel zu einfach, die durchaus vorhandene Zivilisationskritik als einzige Aussage des Films zu verstehen.
Schon den Film einem bestimmten Genre zuzuordnen, fällt schwer. Oft ist in Beschreibungen "Science Fiction" zu lesen, was es m. E. nun gar nicht trifft. Das Gezeigte ist zwar fiktiv, aber gleichzeitig auch so zeitlos, dass das eher technische Si-Fi Genre nun kaum passen will, zumal so etwas wie Action gar nicht stattfindet.
Dieser Film ist gänzlich anders. Lange Einstellungen, ruhige Bilder, eloquente Dialoge, Bildkompositionen, die mehr sagen, als so mancher Film in der gesamten Laufzeit.
Am ehesten ist der Film als mystisches Endzeitdrama zu bezeichnen. Ein Drama, das auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt ist, denn die Zone kann man auch als unser "Ich", unser Inneres begreifen, das stetig und unruhig zwischen Realität und Glaube, Hoffnung und Ängsten, Rationalität und Emotionen hin- und hergerissen wird, das aber immer geneigt ist, Glück zu finden und vor allem eine Antwort auf das "Warum". Welches Warum? Das sieht bei jedem anders aus, "warum lebe ich", "warum habe ich keinen Erfolg", "warum bin ich unglücklich"....
Die drei Protagonisten, den Stalker, den Schrifsteller und den Wissenschaftler, kann man stellvertretend für das, was uns Menschen im Wesentlichen ausmacht, sehen: den Wissenschaftler, der rationale und analysierende Part als unseren Intellekt (Geist); den Schriftsteller, der kreative und philosophische Part als unseren 'Bauch'; und den Stalker, der emotionale und empathische Part als unser Herz.
Nur wenn diese drei im Einklang sind und handeln, werden sie ihr Ziel in der Zone erreichen, den Raum, der den größten Wunsch eines Jeden erfüllen kann. Dass sie zwar ihr Ziel erreichen, aber keiner der drei den Raum betritt, ist letztendlich das Resultat des Ungleichgewichts und des Selbstzerstörischen dieser drei - und somit unseres Ichs. Fast nie werden Geist, Bauch und Herz im Einklang stehen, streben sie doch so sehr in unterschiedliche Richtungen, ist das, was als Erfüllung und Glück gesehen wird, so gegensätzlich und im stetigen Wandel. Wie heißt es so schön, wir stehen uns selbst oft im Weg!
So steht die Rückkehr auch für das Scheitern. Das Rationale, das bereit ist, alles für ein höheres Ziel zu opfern (=der Wissenschaftler, der den Raum sprengen möchte, um ihn vor dem Bösen zu schützen), auch das (individuelle) Glück. Das Kreative in uns, dass zwar schöpferisch sein kann, aber auch leicht ins Nihilistische abdriftet und alles als sinnlos ansieht, wie der gescheiterte Schriftsteller. Unsere Emotionen, die zu Liebe führen können, aber auch zu Rückzug und falschem Individualismus, wie der Stalker, der lieber seine Familie zurücklässt, um anderen zu helfen und in die Zone zu gehen, weil er sich dort frei fühlt, dabei aber seine Einsamkeit verdrängt.
Etwas vordergründiger kann man diese drei auch stellvertretend für die entsprechenden Strömungen bzw. Ideologien sehen.
Dies wird im Kontext des Scheiterns unserer Zivilisation präsentiert, die die Natur geißelt und die Menschen ziellos umherirren lässt, ihnen aber keien Antworten geben kann. Die Natur, das Leben schlechthin, hat nur in der Zone ein Refugium gefunden, die im Gegensatz zur restlichen, verkommenen Welt in Farbe gezeigt wird. Auch auf dieser Ebene funktioniert dieses Werk hervorragend.
Und obwohl am Ende des Films klar wird, dass keine Fragen beantwortet werden, ist man gewiss, dass man ganz großes Kino genießen durfte. Nur das Popcorn wäre unpassend gewesen...
10/10