La Cicatrice intérieure - Philippe Garrel
Verfasst: Mi 11. Sep 2013, 13:20
Originaltitel: La Cicatrice intérieure
Regie: Philippe Garrel
Herstellungsland: Frankreich 1972
Darsteller: Nico, Philippe Garrel, Ari Boulogne, Pierre Clémenti, Balthazar Clémenti, Jean-Pierre Kalfon, Daniel Pommereulle
In den letzten Woche habe ich eine private Retrospektive des 1948 geborenen und seit den späten 60ern filmisch in Erscheinung tretenden französischen Regisseurs Philippe Garrel abgehalten, deren Sinn und Zweck es war, mir alle seiner mir zugänglichen Werke in kürzester Zeit zu Gemüte zu führen. Nun, nachdem ich mich bis auf vier, fünf Einträge komplett durch seine Filmographie gearbeitet habe, sind es sechs Hauptwerke, die ich aus dieser herauspicken würde, weil sie mich intellektuell, ästhetisch oder emotional - im besten Fall alles drei zusammen - in außergewöhnlicher Weise gepackt haben.
Neben dem komplett ohne Ton und in kontrastreichen Schwarzweiß gedrehten, am ehesten womöglich noch an ERASERHEAD erinnernden, jedoch, so meine ich, tausendmal beklemmenderen und verstörenderen LE RÉVÉLATEUR, den Garrel mit knapp zwanzig Jahren quasi ohne Budget mit Laiendarstellern und Taschenlampen als Lichtquellen inszenierte, LE LIT DE LA VIERGE von 1969, in dem Pierre Clémenti in einem archaisch-anachronistisch anmutenden Orient an seiner Rolle als moderner Messias scheitert, BERCEAU DE CRISTAL von 1976, einem non-narrativen, tief-depressiven (Liebes?-)Gedicht an seine damalige Lebensgefährtin und Muse Nico, dem von mir bereits mit einer Kurzbesprechung auf dieser Seite gewürdigten filmischen Alptraum L'ENFANT SECRET von 1982 sowie dem Spätwerk LES AMANTS RÉGULIERS, einer zärtlich-behutsamen Hommage an Garrels eigene Gernation der sogenannten 68er, ist es vor allem LA CICATRICE INTÉRIEURE, offenbar 1970 in quer über den Erdball verteilten Locations gedreht, jedoch erst 1972 der Öffenlichkeit zugänglich gemacht, der mich nach jeder Sichtung immer wieder mit offenem, sprachlosem Mund und einer Blume dasitzen lässt, die mir mitten in der Brust vergraben wurde.
LA CICATRICE INTÉRIEURE ist kein Spielfilm, sondern eine Abfolge von Tableaux, die keine Geschichte erzählen, sondern Stimmungen vermitteln wollen. Am ehesten könnte man sich noch mit der Bezeichnung "Seelenlandschaften" helfen, um einigermaßen in Worte zu kleiden, was eigentlich außerhalb von ihnen steht. Mit einfachsten Mitteln, wenigen Schnitten, schlichten Kamerafahrten, fängt Garrel seine Darsteller, allen voran Nico selbst, von deren Meisterwerk DESERTSHORE fast sämtliche im Film zu hörende Songs stammen, in atemberaubenden Naturkulissen ein, die von trostlosen Wüsten über brausende Küsten bis hin zu glimmenden Vulkankratern reichen. Gesprochen wird wenig, meist deklamiert Nico auf Deutsch oder Englisch Songtexte, Gedichte oder existenzialistische Litaneien. Garrel selbst, in extrem engen Hosen, stößt sie von sich, folgt ihr. Nicos Sohn Ari führt ein Pferd durch die Einöde. Pierre Clémenti, splitterfasernackt, entsteigt dem Ozean und begibt sich auf die Suche nach dem Feuer. Linear und kohärent scheint hier nichts zu sein, Versatzstücke aus dem Mythenschatz der Menschheit kreisen um lange, stumme Einstellungen, in denen Garrel seinem Publikum Gelegenheit gibt, jeden Zentimeter der von ihm eingefangenen Landschaften zu bestaunen. Komplett in Farbe gedreht, was für einen Regisseur, dessen Welt sich hauptsächlich in Schwarzweiß abspielt, schon mal ungewöhnlich ist, und durchgängig mit Ton ausgestattet, für den jungen Garrel ebenfalls keine Verständlichkeit, ist LA CICATRICE INTÉRIEURE wohl der Film, den ich jedem Interessierten noch am ehesten als Einstiegsdroge empfehlen würde. Sicher, Konventionen werden weder in der Laufzeit, die nicht mal eine Stunde erreicht, noch in der elegischen, langsamen Bildsprache gepflegt, ein Vor- und Abspann existiert nicht (tatsächlich sollte Garrel diese Selbstverständlichkeit erst 1983 in seinem Übergangswerk von Avantgarde- zu Spielfilm, LIBERTÉ, LA NUIT, einführen) und minutenlang zuzusehen wie Nico durch menschenleere Dünen spaziert, wird wahrscheinlich den wenigsten lohnend erscheinen, nichtsdestotrotz ist LA CICATRICE INTÉRIEURE zum einen von entrückender Schönheit und setzt außerdem der Verzweiflung, der Hoffnungslosigkeit, die Garrels Oeuvre noch bis in die 90er Jahre durchzieht, bevor er sich im nächsten Jahrzehnt allmählich immer mehr dem Mainstream annäherte - schön zu sehen in seinem letzten Film UN ÉTÉ BRULANT, der zwar trotz allem noch eindeutig den Arthouse-Stempel trägt, aber schon den eines Arthouse, das man gepflegt und ohne innere Schäden bei einer Flasche Rotwein konsumieren kann -, einen Funken Hoffnung entgegen, den Garrel vor allem in den folgenden zehn bis fünfzehn Jahren so gut wie gar nicht mehr durchscheinen lassen wird. Wer zudem mit mir der Meinung ist, dass die visionäre Musik, die Nico in den späten 60ern, frühen 70ern auf drei monumentale Alben pressen ließ, sträflicher- und ungerechtweise der allgemeinen Vergessenheit anheimfiel, kann mit LA CICATRICE INTÉRIEURE wohl so etwas Ähnliches wie ein überlanges Musikvideo erleben, das die Atmosphäre vor allem ihrer DESERTSHORE-LP kongenial in Bilder umzusetzen weiß.
Regie: Philippe Garrel
Herstellungsland: Frankreich 1972
Darsteller: Nico, Philippe Garrel, Ari Boulogne, Pierre Clémenti, Balthazar Clémenti, Jean-Pierre Kalfon, Daniel Pommereulle
In den letzten Woche habe ich eine private Retrospektive des 1948 geborenen und seit den späten 60ern filmisch in Erscheinung tretenden französischen Regisseurs Philippe Garrel abgehalten, deren Sinn und Zweck es war, mir alle seiner mir zugänglichen Werke in kürzester Zeit zu Gemüte zu führen. Nun, nachdem ich mich bis auf vier, fünf Einträge komplett durch seine Filmographie gearbeitet habe, sind es sechs Hauptwerke, die ich aus dieser herauspicken würde, weil sie mich intellektuell, ästhetisch oder emotional - im besten Fall alles drei zusammen - in außergewöhnlicher Weise gepackt haben.
Neben dem komplett ohne Ton und in kontrastreichen Schwarzweiß gedrehten, am ehesten womöglich noch an ERASERHEAD erinnernden, jedoch, so meine ich, tausendmal beklemmenderen und verstörenderen LE RÉVÉLATEUR, den Garrel mit knapp zwanzig Jahren quasi ohne Budget mit Laiendarstellern und Taschenlampen als Lichtquellen inszenierte, LE LIT DE LA VIERGE von 1969, in dem Pierre Clémenti in einem archaisch-anachronistisch anmutenden Orient an seiner Rolle als moderner Messias scheitert, BERCEAU DE CRISTAL von 1976, einem non-narrativen, tief-depressiven (Liebes?-)Gedicht an seine damalige Lebensgefährtin und Muse Nico, dem von mir bereits mit einer Kurzbesprechung auf dieser Seite gewürdigten filmischen Alptraum L'ENFANT SECRET von 1982 sowie dem Spätwerk LES AMANTS RÉGULIERS, einer zärtlich-behutsamen Hommage an Garrels eigene Gernation der sogenannten 68er, ist es vor allem LA CICATRICE INTÉRIEURE, offenbar 1970 in quer über den Erdball verteilten Locations gedreht, jedoch erst 1972 der Öffenlichkeit zugänglich gemacht, der mich nach jeder Sichtung immer wieder mit offenem, sprachlosem Mund und einer Blume dasitzen lässt, die mir mitten in der Brust vergraben wurde.
LA CICATRICE INTÉRIEURE ist kein Spielfilm, sondern eine Abfolge von Tableaux, die keine Geschichte erzählen, sondern Stimmungen vermitteln wollen. Am ehesten könnte man sich noch mit der Bezeichnung "Seelenlandschaften" helfen, um einigermaßen in Worte zu kleiden, was eigentlich außerhalb von ihnen steht. Mit einfachsten Mitteln, wenigen Schnitten, schlichten Kamerafahrten, fängt Garrel seine Darsteller, allen voran Nico selbst, von deren Meisterwerk DESERTSHORE fast sämtliche im Film zu hörende Songs stammen, in atemberaubenden Naturkulissen ein, die von trostlosen Wüsten über brausende Küsten bis hin zu glimmenden Vulkankratern reichen. Gesprochen wird wenig, meist deklamiert Nico auf Deutsch oder Englisch Songtexte, Gedichte oder existenzialistische Litaneien. Garrel selbst, in extrem engen Hosen, stößt sie von sich, folgt ihr. Nicos Sohn Ari führt ein Pferd durch die Einöde. Pierre Clémenti, splitterfasernackt, entsteigt dem Ozean und begibt sich auf die Suche nach dem Feuer. Linear und kohärent scheint hier nichts zu sein, Versatzstücke aus dem Mythenschatz der Menschheit kreisen um lange, stumme Einstellungen, in denen Garrel seinem Publikum Gelegenheit gibt, jeden Zentimeter der von ihm eingefangenen Landschaften zu bestaunen. Komplett in Farbe gedreht, was für einen Regisseur, dessen Welt sich hauptsächlich in Schwarzweiß abspielt, schon mal ungewöhnlich ist, und durchgängig mit Ton ausgestattet, für den jungen Garrel ebenfalls keine Verständlichkeit, ist LA CICATRICE INTÉRIEURE wohl der Film, den ich jedem Interessierten noch am ehesten als Einstiegsdroge empfehlen würde. Sicher, Konventionen werden weder in der Laufzeit, die nicht mal eine Stunde erreicht, noch in der elegischen, langsamen Bildsprache gepflegt, ein Vor- und Abspann existiert nicht (tatsächlich sollte Garrel diese Selbstverständlichkeit erst 1983 in seinem Übergangswerk von Avantgarde- zu Spielfilm, LIBERTÉ, LA NUIT, einführen) und minutenlang zuzusehen wie Nico durch menschenleere Dünen spaziert, wird wahrscheinlich den wenigsten lohnend erscheinen, nichtsdestotrotz ist LA CICATRICE INTÉRIEURE zum einen von entrückender Schönheit und setzt außerdem der Verzweiflung, der Hoffnungslosigkeit, die Garrels Oeuvre noch bis in die 90er Jahre durchzieht, bevor er sich im nächsten Jahrzehnt allmählich immer mehr dem Mainstream annäherte - schön zu sehen in seinem letzten Film UN ÉTÉ BRULANT, der zwar trotz allem noch eindeutig den Arthouse-Stempel trägt, aber schon den eines Arthouse, das man gepflegt und ohne innere Schäden bei einer Flasche Rotwein konsumieren kann -, einen Funken Hoffnung entgegen, den Garrel vor allem in den folgenden zehn bis fünfzehn Jahren so gut wie gar nicht mehr durchscheinen lassen wird. Wer zudem mit mir der Meinung ist, dass die visionäre Musik, die Nico in den späten 60ern, frühen 70ern auf drei monumentale Alben pressen ließ, sträflicher- und ungerechtweise der allgemeinen Vergessenheit anheimfiel, kann mit LA CICATRICE INTÉRIEURE wohl so etwas Ähnliches wie ein überlanges Musikvideo erleben, das die Atmosphäre vor allem ihrer DESERTSHORE-LP kongenial in Bilder umzusetzen weiß.