Blau ist eine warme Farbe - Abdellatif Kechiche (2013)
Verfasst: Fr 24. Jan 2014, 18:39
Originaltitel: La Vie d'Adèle
Herstellungsland: Frankreich 2013
Regie: Abdellatif Kechiche
Darsteller: Adèle Exarchopolous, Léa Seydoux, Aurélien Recoing, Alma Jodorowsky, Catherine Salée
Eine Laufzeit von drei Stunden. Französische Produktion. Minimalistische Story, in der für das Gros des „normalen“ Kinopublikums im Grunde nicht viel passiert und die sich nahezu ausschließlich um die emotionalen Verwirrungen ihrer (weiblichen) Protagonisten rankt. Eine realistische Ästhetik, mit der nichts beschönigt oder dramaturgisch verzerrt werden soll. All diese Schlagworte sind mit Fug und Recht auf LA VIE D’ADÈLE anwendbar, und reichen schon aus, ihn in eben jenen Gefilden zu verorten, in der solche Regisseure wie Eric Rohmer sich nach den Sturmwehen der Nouvelle Vague ein sicheres Plätzchen bereiteten, von dem aus sie mit wohlwollendem Blick die leidenschaftlichen und amourösen Verwicklungen des Menschheitsgeschlechts in immer neuen handlungsarmen, aber dialogreichen Szenarien auszuloten versuchten. Ein typischer Arthouse-Film also, einer von den Filmen, über die sich ein Kurzgeschichtenmentor, dem ich vor Jahren begegnen durfte, abfällig äußerte, weil in denen ja nur gedacht und geredet, jedoch niemals wirklich agiert werden würde. Ein typischer Film, sage ich, der sich einem Naturalismus verpflichtet, wie er im heutigen Kino mit der Lupe gesucht werden kann, indem er jegliche Genre-Korsette oder sonstige Glattpolierungen ins Feuer schmeißt, und so tut, als sei das, was er da abbildet, die Wirklichkeit, die Kamera eine einzige Dokumentarmaschine, die Personen, die Gefühle echt, keine illusorische Trennwand zwischen uns und ihnen. Zumindest auf den ersten Blick scheint das jedenfalls so, wenn LA VIE D’ADÈLE schlicht und banal damit beginnt, dass ein junges Mädchen in seiner pubertären Phase vor die große Aufgabe der Meisterung der erwachenden Sexualität gestellt wird, und alsbald nicht unbedingt mit Glücksgefühlen feststellen muss, dass es offenbar mehr zum eigenen als zum anderen Geschlecht hin tendiert. Das ist heute keine große Sache mehr, dem tunesisch-stämmigen Regisseur Abdellatif Kechiche, der zwar schon ein Jahrzehnt im Filmgeschäft tätig ist, von dem ich dennoch bislang nie etwas gehört habe, trotzdem nicht nur ein Spielfilm wert, nein, gleich ein regelrechtes Epos muss es sein, aufgeteilt in zwei auf diachroner Ebene voneinander getrennte Kapitel, fast schon wie einer dieser großen, gefühlsbetonten, ausschweifenden Romane, für die die Titelheldin unablässig schwärmt - vor allem LA VIE DE MARIANNE des Frühaufklärers Marivaux, den sie im Französischunterricht lesen muss, hat es ihr angetan -, nur mit dem Unterschied, dass Kechiches Bildsprache keine schwülstige, pathetische, dramatische ist, stattdessen gibt er seinem Film den nüchternen Look einer nahezu reinen Reportage, die nicht kommentiert, lediglich bebildert, und es dem Rezipienten überlässt, aus diesen Bildern später seine eigenen Schlüsse und Kommentare zu extrahieren.
Mich ließ dieser künstlerische Ansatz – man könnte ihn beinahe schon anti-modernistisch nennen, eine Ohrfeige für ein Mainstream-Publikum, für das es schon eine Provokation darstellt, wenn ein Film allein, was seine Länge betrifft, aus festgezurrtem Zaumzeug ausbricht – an zwei Filme denken, die, zumindest in meiner subjektiven Geschichte des Films, beide auf ihre eigene Weise Schlusspunkte der Nouvelle Vague bedeuteten: zum einen LA MAMAN ET LA PUTAIN, in dem Jean Eustache 217 Minuten fast ausnahmslos darauf verwendet, Jean-Pierre Léaud, der wohl wie kein anderer Schauspieler allein schon in seiner Person die Nouvelle Vague verkörpert, auf der Jagd nach Bettgefährtinnen in der Pariser Metropole zu zeigen, zum andern Jacques Roziers mit 150 Minuten etwas kompakter geratenen DU CÔTÉ D’OROUÊT, dessen Plot sich in dem einen Satz zusammenfassen lässt, dass er drei Freundinnen bei ihrem Sommerurlaub am Stand folgt. Diese zwei Filme, zufälligerweise oder nicht beide im Jahre 1973 erschienen, lassen sich für mich, neben ästhetischer Differenzen, die allein dadurch bestehen, dass Eustache seine Bilder in bestechendem Schwarzweiß präsentiert und Rozier sich sonnendurchtränkter Farben bedient, sind für mich Brüder im Geiste darin, dass sie das Grundkonzept der Nouvelle Vague, nämlich dem Kino seine Freiheit zurückzugeben, d.h. es aus den Studios herauszuziehen und der Wirklichkeit mit all ihren Anforderungen zu überantworten, bis ins Extrem steigern. Von Genre-Zitaten, wie sie bei dem frühen Godard oder Truffaut noch vorherrschten, beispielweise ist weder bei LA MAMAN ET LA PUTAIN noch bei DU CÔTE D’OROUÊT noch etwas zu spüren, selbst das Vorhandensein eines Drehbuchs lässt sich bei den vielen improvisiert wirkenden Alltagsszenen nicht unbedingt voraussetzen, stattdessen wirken beide Filme wie Dokumentationen, die ihre Figuren derart ernstnehmen, dass sie sie, scheint es, am liebsten von den Leinwand zerren und in die sogenannte Realität integrieren würden. Interessant ist freilich, dass sowohl Eustache wie Rozier eine Nouvelle-Vague-Vergangenheit haben, und somit sicherlich wussten, was sie da taten, als sie zugleich Requiem der Bewegung wie Geburt von etwas Neuem anstimmten. LA VIE D’ADÉLE sehe ich nun in seinem Innersten mit eben diesen beiden großartigen Werken verwandt. Alles, was ich oben aufgezählt habe, trifft nämlich auf ihn genauso gut zu wie auf Eustaches und Roziers epische Inszenierungen der Alltagswelt. Die Geste ist eine großangelegte, ausholende, das, was sie zu beschreiben sucht, ein ganz gewöhnliches Leben, wie es jeder von uns sein eigen nennt.
Ohne zu viel verraten zu wollen: der Titel von LA VIE D’ADÉLE ist Programm – der internationale Verleihtitel, bei dem man offenbar auf Biegen und Brechen sich bemüht hat, die Haarfarbe der von Léa Seydoux verkörperten Femme Fatale mit ins Spiel zu bringen, indes ziemlicher Unfug: Adéle verliebt sich in die um einige Jahre ältere Kunststudentin Emma, bekennt sich zu ihrer lesbischen Sexualität, zieht mit ihr zusammen und leidet letztlich unter der Entfremdung, die sich mit der Zeit zwischen die Liebenden einschleicht, als Emma mehr und mehr zur gefeierten Malerin wird und Adele sich mehr und mehr in der Rolle eines Hausmütterchens sieht, dem es nicht gelingt, in die abgehobene Kunstwelt der Geliebten vorzustoßen. Selbst wenn die Handlung immer wieder von teilweise minutenlangen Sexszenen unterbrochen wird, geraten diese nie zum Selbstzweck. Etwa vierzig Dekaden nach Pasolini und Borowczyk sollten zwei nackte Frauenkörper, die intim miteinander sind, finde ich, sowieso niemandem mehr rote Ohren bescheren oder gar einen Skandal provozieren, die Art und Weise wie Kechiche die Körperlichkeit des Paares in ihren sonstigen Alltag einbaut lädt zudem auch gar nicht dazu ein, da irgendetwas Pornographisches hinein- oder herauszulesen, vielmehr zeigt er Sex als das, was er normalerweise ist: keine besondere Attraktion, sondern eine physische Kommunikationsform, die gleichberechtigt und gleichbedeutend zwischen anderen steht. Wer sich also LA VIE D’ADÉLE unter der Prämisse eines künstlerischen Semi-Pornos nähert, wird wohl grenzenlos enttäuscht werden, da neben ausufernden Sexszenen eben auch ausufernde Dialogszenen stehen, oder Szenen, in denen Adéle und Emma schweigend ihre Liebe genießen, Szenen, in denen Adéle in ihren Job als Grundschullehrerin hineinwächst, Szenen, die wie Momentaufnahmen in einem Photoalbum wirken, das nach keinem übergeordneten Prinzip zusammengewürfelt worden ist: in manchen Augenblicken hat eben jemand auf den Auslöser einer Kamera gedrückt, in anderen nicht. Gerade die erste Hälfte des Films ist dabei wohltuend in ihrer zurückge-nommenen Schilderung des sexuellen Erwachens der Protagonisten, nicht zuletzt dank der applauswürdigen Leistung von Hauptdarstellerin Adèle Exarchopolous. Schnörkellos, sachlich, die Emotionen subtil unter die Bilder mischend beschreibt Kechiche hier das unsichere Tasten seiner Heldin nach einer eigenen sexuellen Identität.
Dennoch brechen auch hier schon Probleme in die homogene Ästhetik des Films ein, mit denen er später, vor allem in der zweiten Hälfte, meiner Meinung nach, noch vermehrt zu kämpfen hat. Dass Kechiche auf atemberaubende Bildkompositionen verzichtet, dass er sich einer spannenden Erzählweise verweigert, dass er seinen Film derart ausschließlich um seine Hauptfigur herum zentriert, dass noch die nächsten Nebenfiguren und Nebenschauplätze im Vergleich ziemlich blass erscheinen, das alles soll meine Kritik nicht sein, da es im dem Film zugrundeliegenden Konzept Sinn und Legitimationen erfährt. Was mich indes davon abhält, LA VIE D’ADÈLE als Meisterwerk zu bejubeln, als Wiederbelebung eines filmischen Spirits, der seit Jahrzehnten brachgelegen und seiner Reinkarnation geharrt hat, das sind inszenatorische Mängel, in denen Kechiche seinen Naturalismus dann doch nicht bis zur allerletzten Konsequenz durchführt. Zwei Beispiele sollen hierfür dienen.
Einmal die Szenen relativ zu Beginn des Films, als Adèle sich in den Schulhofpausen mit ihrer Freundinnenclique zunächst über die Jungs ihrer Klasse auslässt bis sie irgendwann, von ihnen dabei beobachtet, wie sie mit Emma um die Häuser zog, sich mit den Vorwürfen, eine Lesbe zu sein, konfrontiert sieht. Adèle ist stets inmitten einer ganzen Gruppe von Mädchen zu sehen, die sie im Halbkreis umringen. Es scheinen mindestens fünf Personen zu sein, wenn nicht sogar noch mehr. Kechiche nun inszeniert diese Szenen so, dass auf ein Close-Up von Adèle permanent das ein und desselben anderen Mädchens folgt. Obwohl suggeriert wird, dass Adèle sich mit mehreren Schulkameradinnen gleichzeitig unterhält, sind die Gesichter der übrigen so gut wie nie in Großaufnahme zu sehen, und wenn, dann scheinen sie mit anderem beschäftigt zu sein, tuscheln, grinsen, greifen jedenfalls nie aktiv in den Dialog ein, den Adèle letztlich allein mit dem oben erwähnten, ich nenne es einmal: Hauptmädchen führt. Stumm ist der Rest der Clique indes nicht. Es scheint eindeutig, dass es sich hier nicht um eine Unterredung unter vier Augen handelt. Um Adèle und ihre Freundin herum werden Kommentare eingeworfen, wird laut gelacht, wird gemurmelt. Bei genauerem Hinhören sind das aber, falls überhaupt, bloße Phrasen, die in keiner gesteigerten Beziehung zu dem stehen, was Adèle gerade von sich gegeben hat. Die Mädchen sind nicht, was immerhin ein witziger Kunstgriff gewesen wäre, so etwas wie ein griechischer Chor, sondern eher eine Riege von Schnatterenten, die von Kechiche zwar unbedingt mit ins Bild gerückt werden müssen, dort aber im Grunde nichts zu suchen haben, da sie zu der Unterhaltung, an der sie zumindest physisch Teil haben, rein gar nichts beitragen. Dadurch bekommen diese Szenen etwas Künstliches und einen ein bisschen trivialen Beigeschmack, der mehr an eine x-beliebige Teenager-Schmonzette oder Daily Soap erinnert, der es primär gar nicht erst darum geht, einen wie auch immer gearteten Realismus einzulösen. Mein zweites Beispiel wären die Gespräche, die Emma vor allem in der zweiten Filmhälfte mit ihren Kommilitoninnen und Freunden führt. Hier scheint mir Kechiche dann doch etwas zu tief ins Glas der ausgelutschten Klischees geblickt zu haben. Da meine eigene bessere Hälfte nichts anderes ist als eben ausgerechnet eine Studentin der Freien und Schönen Künste, so kann ich versichern: nein, diese Leute unterhalten sich nicht den ganzen Tag darüber, welches Adjektiv nun genau die Ästhetik Egon Schieles am treffendsten beschreibt, und sitzen auch nicht jede Nacht abgehoben Champagner schlürfend in irgendwelchen Galerien, um so zu tun, als würden sie die Kunst an den Wänden bestaunen, wo sie doch am liebsten gerne selbst bestaunt werden wollen. Die Sätze, die Emma und ihre Freunde da äußern, sind außerdem, wenigstens für meine Ohren, oftmals eine bloße Aneinanderreihung von elitären Floskeln, die, auseinandergenommen, nicht wirklich etwas von Bedeutung transportieren. Eben genau das, was sich der Laie unter Kunst vorstellt. Ein reiner Stereotyp, ein wandelndes Klischee. Von einem Regisseur, der sich wie der neue filmische Zola gebärdet, hätte ich da schon etwas mehr erwartet.
Aber viel mehr meckern möchte ich auch gar nicht, versöhnt allein das Ende, das ja in gewisser Weise gar kein Ende ist, höchstens das Ende eines Abschnitts im hoffentlich noch weit über ein halbes Jahrhundert währendem Leben der Adèle, doch schon mit solchen Patzern, und hat mir der Film im Großen und Ganzen, wenn ich ihn nun auch nicht zur absoluten Offenbarung und zum Erretter des modernen Kinos ausrufen möchte, bestens gefallen. Außerdem: würden Mainstream-Film heute so aussehen wie es LA VIE D’ADÈLE tut, dann wäre das bereits eine Welt, in der jemand wie ich sich weitaus wohler fühlen würde.