Je suis à prendre - Francis Leroi (1978)
Verfasst: So 29. Jun 2014, 21:42
Originaltitel: Je suis à prendre
Regie: Francis Leroi
Herstellungsland: Frankreich 1978
Darsteller: Brigitte Lahaie, Karine Gambier, Patrick Bruno, Robert Le Ray, Jean-Pierre Armand
Ich muss ein Geständnis ablegen: ich konnte mit Pornographie nie wirklich etwas anfangen. Kürzlich habe ich zum ersten Mal in meinem Leben einen längeren Ausflug in die 18er-Abteilung einer Videothek unternommen. In mehreren, nahezu labyrinthisch ineinander verschachtelten Räumen bot man dort in deckenhohen Regalen und hinter von außen undurchdringlichen Milchglasfensterscheiben eine erschlagende Fülle an Hardcore-Materialien feil. Scheinbar ohne Systematik, wahllos zusammengepfercht waren Schwulenpornos zu finden, Pornos mit Krankenschwestern, Inzest-Pornos, Hexenfolter-Pornos, Pornos für Leute, die auf Magermädchen stehen, Pornos für Leute, die auf Greisinnen stehen, Pornos für Leute, die es mögen, wenn im Hintergrund einer Sexszene Pferde zu sehen sind etc., scheinbar keine Vorliebe, außer strafwürdige, vernachlässigend. Meine einzige Erregung indes bestand darin, dass ich in einem Seitenkabinett, relativ versteckt, plötzlich auf ein Regal stieß, in dem die von der gemeinen Filmgeschichte Verschmähten und Verkannten versammelt waren: Argentos SUSPIRIA, Borowczyks LES HEROINES DU MAL, Jancsós VIZI PRIVATI, PUBBLICHE VIRTÙ. Kaltgelassen haben mich demgegenüber die unzähligen gespreizten Schenkel, spermaverschmierten Frätzchen und analversenkten Penisse, die mir von den übrigen DVD-Covern entgegenstarrten. So wie ich Geschlechtsteile an sich nicht wirklich für ästhetische Höhepunkte der Natur halte, so hat mich die pure, schnöde, blanke Darstellung sexueller Vereinigung nie wirklich berühren können. Eine Vagina, ein Penis in Großaufnahme auf einem Photo, das ist eben nur eine Vagina, ein Penis auf einem Photo, d.h. ohne Kontext, ohne Geschichte, man könnte sagen: ohne Gesicht. Gemeinhin zieht man exakt hier die Grenzlinie zwischen ordinärem Porno und sinnlicher Erotik. Der eine konzentriert sich auf den basalen Akt ohne Mehrwehrt, die andere lässt sowohl verschleiernde Leerstellen, die, nicht unbedingt mit Sperma, gefüllt werden müssen, als auch verschnörkelnde Ornamente, die die Pragmatik zur Poesie erheben. Dass in vielen meiner liebsten Filme – zumindest in ihren längsten Fassungen – durchaus Szenen enthalten sind, die die Grenze zum Hardcore überschreiten – beispielweise Cavallones BLUE MOVIE, Borowczyks LA BÊTE oder Vibenius THRILLER – EN GRYM FILM – ist hierin kein Widerspruch. In eben diesen Filmen steht der graphische Sex nie allein im Raum, sozusagen auf sich selbst zu-rückgeworfen, und ziemlich leicht durchschaubar darin, Stimulation zu generieren. Stets ist er in einen größeren Kontext, eine Geschichte eingebunden. Gerade bei LA BÊTE, den ich persönlich, neben CONTES IMMORAUX des gleichen Regisseurs, für den erotischsten Film aller Zeiten halte, wird das sinnfällig, wenn die vielleicht erotischste Szene aller Zeiten, die Penetration eines weiblichen Geschlechts durch eine Rose, wie eine Art stiller Orgasmus in einen Reigen aus subtil sexualisierter Bilder eingebettet ist, der letztlich in den alles andere als stillen Orgasmus, den Endlos-Ejakulationen der Bestie, mündet. Möchte man LA BÊTE auf einer Metaebene als einen Film betrachten, der nicht nur Sex bebildert, sondern gleichzeitig über die Bebilderung von Sex in den Medien reflektiert – seien es nun unter dem Deckmäntelchen der Aufklärung verfasste Porno-Gedichte wie Voltaires LA PUCELLE, das mehrmals in die Kamera gehalten wird, Darstellungen der Bildenden Künste, die das sexuelle Zusammentreffen von Tier und Mensch, d.h. von Frau und Schwan oder von Frau und Stier, in der griechischen Mythologie durchaus deftig zur Anschauung bringen, oder eben die seit Ende der 60er langsam, aber stetig den Mainstream erobernden Erotikfilme -, so kann man feststellen, dass Borowczyk hier zwei Höhepunkte einander gegenüberstellt, das beinahe schon züchtige Masturbieren der jungen Lucy mit dem völlig over-the-top Abspritzen des Ungeheuers kontrastiert, Erotik das eine, Pornographie das andere.
Im Prinzip sind die Schlagworte allesamt schon gefallen, die wichtig werden, um meinem wohl liebsten „reinen“ Porno aller Zeiten gerecht zu werden, einem Film, der tatsächlich nur ein ganz kleines Wegstück hinter den Klassikern des erotischen Films von Walerian Borowczyk oder Jean Rollin hinterherhinkt. Es handelt sich um eine französische Produktion aus dem Jahre 1978 mit Namen JE SUIS À PRENDRE. Der Regisseur Francis Leroi hat eine interessante Karriere hinter sich. Zunächst Philosophie studierend mauserte er sich, von Kinobegeisterung erfasst, Anfang der 60er zum Regieassistenten eines der Nouvelle-Vague-Begründers, nämlich Claude Chabrol, und verdiente später seine Brötchen als einer der Hausregisseure der französischen Porno-Produktionsfirma Alpha France. Die steht bekanntlich für progressive Porno-Kost, deren – no pun intended – Stoßrichtung, zumindest im Selbstverständnis der Verantwortlichen, eine revolutionäre sein sollte. In vielen Frühwerken Lerois wird der Bourgeoise eine lange Nase und ein langer Schwanz gezogen, die Repressionen der bürgerlichen Gesellschaft mittels wilder Sexorgien aus den Fugen gehebelt, und es stört nicht, wenn die Akteure sich zwischen mehreren Gruppensexintermezzi einmal ernsthaft über die aktuelle politische Lage Frankreichs die Köpfe so heiß reden, dass sie sich kurz darauf Abkühlung durch weiteres Penetrieren und Ejakulieren verschaffen müssen. Ja, die Pornographie des Jahres 1978 ist meilenweit von dem entfernt, was wir heute darunter verstehen. Mit dem, was man auf einschlägigen Internetportalen vorwiegend zu sehen bekommt, hat das alles wenig zu tun. Man könnte sagen: zu diesem Zeitpunkt wohnt dem Pornofilm noch eine gewisse Unschuld inne. Er ist, global gesprochen, weniger brutal, weniger aggressiv, weniger auf die Devise bedacht, dass höher und schneller gleichbedeutend mit besser ist. Gerade die Filme Alpha Frances wirken wie ein Blick in eine ziemlich ferne, fast schon fremde Zeit. Beinahe geschmackvoll und kultiviert wird einem Sex hier präsentiert, vor allem aber, und das beißt sich natürlich nicht mit den oben erwähnten umstürzlerischen Implikationen, als etwas Freies, von der Gesellschaft Losgelöstes, ein Gegenprogramm zur Unter-drückung, die der moderne Mensch im modernen Staat Tag für Tag erfährt, eine Rückkehr zu den archaischen Wurzeln. Freilich mag das idealisierend und romantisierend klingen, denn mit Sicherheit haben sich nicht nur linke Bürgerrechtler und ehemalige 68er-Rebellen auf besagte Filme einen runtergeholt, das ändert aber natürlich nichts daran, dass die Macher ihre Produkte als wichtigen Beitrag zur schleichenden Verwandlung der Welt in eine angenehmere verstanden wissen wollten. Um noch einmal abzuschweifen: sehr schön hat Bertrand Bonello diese Träume und vor allem ihr Zerbrechen in seinem 2001er Film LE PORNOGRAPHE behandelt, wo Jean-Pierre Léaud einen dieser progressiven Pornographen porträtiert, der, nun alt und arm, aus finanziellen Gründen nach jahrzehntelanger Abstinenz noch einmal auf dem Regiestuhl Platz nimmt, jedoch ohne mit den inzwischen stattgefundenen Veränderungen von Markt, Publikum und Arbeitsbedingungen klarzukommen.
Aber zurück zu JE SUIS À PRENDRE. Was zunächst auffällt ist: der Film fällt aus der Reihe. Anders als viele 70er Pornos ist er weder auf Klamauk noch auf Politik bedacht. Noch etwas fällt auf: seine Kinematographie weisen ihn als „richtigen“ Film aus, nicht nur ein Nischenprodukt, sondern etwas, das auf einer großen Leinwand nicht negativ auffallen würde. Und weiter: der Film funktioniert nicht nur als Film, obwohl es „nur“ ein Porno ist, er schafft noch etwas ganz anderes: obwohl sein Fokus primär auf Hardcore-Sex liegt, kann er zu jeder Zeit die Erotik wahren, die normalerweise unvereinbar mit expliziten Einblicken gedacht wird. JE SUIS À PRENDRE tanzt demnach auf zwei Bällen, auf dem der Pornographie und dem der Erotik zugleich, und feiert außerdem die Hochzeit von beiden. Worum geht es aber? Nun, die Story ist keine fünf Cent wert. Eine junge Braut, Helen, reist mit ihrem Angetrauten zu dessen Château irgendwo in der Provinz. Dort hat der Gatte indes nur wenig Zeit für seine Liebste, ist tagsüber unterwegs, kehrt erst spätabends heim. Helen fühlt sich einsam, frustriert. Nein, so hat sie sich das Eheglück nicht vorgestellt. Anders aber als weiland Emma Bovary stürzt sie sich nicht in die Scheinwelten von billigen Romanen und zerbricht auch nicht an ihrer Unbefriedigung. Das hat vor allem mit der ominösen Milch zu tun, die ihr jeden Tag vom Hausmädchen gereicht wird. Etwas scheint mit der nämlich nicht zu stimmen. Jedes Mal, wenn Helen das Glas geleert hat, überkommt sie ein Verlangen, das wie Feuer in ihr brennt. Das Hausmädchen, der greise Hausdiener, der hauseigene Stallboy, sie allesamt lassen ihre Hüllen fallen, und Helen sowieso, und der Rest ist viel Sex und viel Schweigen, verfügt der Film doch hochgerechnet höchstens über fünf Minuten Dialog, und davon ist die Hälfte eher unwichtig. Ja, die Geschichte ist ein reines Alibi, eigentlich nicht der Rede wert, und was JE SUIS À PRENDRE sowieso vor allem anderen auszeichnet, das sind seine Bilder. Francis Leroi versteht es, Emotionen ohne Worte zu wecken. Die Beleuchtung, die Montage, die Kameraführung, das alles erinnert nicht wenig, um ihn schon wieder zu nennen, an Borowczyk, sehr ästhetisch, sehr in der Tradition der frühneuzeitlichen Künste, sehr poetisch, sodass man sich viele der Szenen gut und gerne als Screenshot und in Goldrahmen über dem heimischen Bett hängend vorstellen kann. Die erotische Spannung, die dadurch entsteht, entwickelt sich zu keinem Zeitpunkt aus der mauen Story. Wenn es knistert, dann weil Leroi und sein Team ihr Handwerk verstehen, mit Bildkompositionen überraschen, die einfach nur perfekt zu nennen sind, die Körper ihrer Akteure nie degradierend, sondern selbst wie Gemälde oder Kunstgegenstände in diesem von Gemälden und Kunstgegenständen so reichen Landschlösschen inszenieren, nie von der fast schon melancholischen, elegischen, auf jeden Fall aber ruhigen, unaufgeregten Atmosphäre abrücken, die den kompletten Film durchzieht.
Eine Szene mag als Beispiel dienen. Helen und der Stallbursche reiten aus. Plötzlich halten sie auf einer Lichtung. Er hebt sie von ihrem Ross. Ohne viele Worte zu verlieren sind sie schon bei der Sache. Musik gibt es keine. Das Synthie-Gedudel, das wohl irgendwann in den 80ern zum festen Inventar pornographischer Filme geworden ist? Für Leroi undenkbar. Spärlich nur setzt er Musik ein, und wenn, dann oftmals Klänge, die Wehmut und Trauer transportieren. In unserer Szene nun erklingen im Schweigen der Welt nur die Sexgeräusche des Paares. Sie liegt auf dem Rücken, er nimmt sie vaginal von vorne, und wirkt dabei wie ein Tier. Passend dazu: die Reitpferde, die munter um die Kopulierenden herumlaufen. Die mit spielerischer Leichtigkeit geführte Handkamera nutzt das Vorhandensein der Gäule weidlich aus. Ständig sind sie im Hintergrund zu sehen, manchmal wird gar zwischen ihren Beinen hindurch gefilmt, andauernd vor allem bewegen sie sich, während die Bumsenden – no pun intended – steif auf der Erde liegen. Ein rätselhafter Kontrast entsteht somit zwischen dem Belebten und dem Leblosen. Das Ganze gipfelt darin, dass der Bursche sich auf das Gesäß Helens ergießt. Die bleibt liegen, er besteigt, noch erigiert, sein Ross und reitet davon. Nun erst setzt diese sehnsüchtige Musik ein, die ich oben erwähnt habe. Für verhältnismäßig lange Zeit wird Helen auf der Erde kauernd gefilmt, um sie herum ihre weiße Stute, während sich ihr Beischläfer im Bildhintergrund langsam trabend entfernt. Offenbar steht der Kameramann dabei auf einem antiquierten Bettgestellt, von dem aus er – ich vermute mal mittels Stühlen, die man vorher dort aufgetürmt hat - immer höher klettert, was eine Kranfahrt suggeriert. Was soll man aus dieser Szene machen? Ich denke, die Interpretation liegt bei jedem selbst. Gerne kann man darin einen feministischen Kommentar zur Ausbeutung der Frau in einer maskulin dominierten Gesellschaft lesen – nachdem die Beute genommen worden ist, wird sie weggeworfen wie eine leergegessene Pommes-Tüte. Oder man kann der Meinung sind, mit dieser langen Einstellung solle Helens sexuelles Erwachen illustriert werden. Oder es gibt gar keinen klugen Subtext und Leroi hat einfach diese Lichtung, das Wäldchen im Hintergrund, den Baum, die Pferde, den nackten Körper Brigitte Lahaies im Vordergrund so sehr genossen, dass er sich kaum dazu hat überwinden können, da einen vernichtenden Schnitt zu setzen. Wie gesagt: nichts ist vorgegeben, alles ist offen, und das ist für mich ein Kriterium für wirklich große Kunst.
Auch sonst ist die Handkamera innovativ, beweglich, sind die Sexszenen sehr erotisch, sehr würdevoll, sehr poetisch, sehr ungewöhnlich gefilmt, hat der Film diese, zuweilen fast schon ins Schauerromantische kippende, Verträumtheit, als handle es sich hierbei wirklich um den Tagtraum eines pubertierenden Mädchens. Die Kulisse, eines dieser abgelegenen châteaus, in die sich beispielweise schon Rollin für FASCINATION zurückgezogen hat, tut das Ihrige dazu, den Film auf angenehme Art old-fashioned wirken zu lassen. Hinzukommt, dass nichts, was da sexuell geboten wird, eine gewisse Grenze sprengt – das „Perverseste“ ist in dem Zusammenhang eine Doppelpenetration in Anus und Vagina -, dass, als wolle Leroi seinem Cineasten-Publikum zublinzeln, einem eine offenkundige Hitchcock-Anspielung ins Auge sticht – eine wirklich wundervolle Kamerafahrt über einen Blumenstrauß hinab auf ein Glas Milch, das möglicherweise vergiftet ist – sowie dass das Tempo des Films vergleichbar ist mit dem vorsichtigen Tippeln von Katzenpfoten, die über einen Samtteppich schleichen. Brigitte Lahaie, wahrscheinlich die heute noch berühmteste Porno-Darstellerin Frankreichs überhaupt, spielt eine ihrer überzeugendsten Rolle, und nein, damit meine ich nicht, dass sie in der Horizontalen eine gute Figur macht, vielmehr ist das schon „richtiges“ Schauspiel, was die – das mag ich gar nicht verhehlen – wunderhübsch anzuschauende Dame hier vorlegt. Die übrigen Charaktere, im Hauptcast gerade mal, neben Brigitte, vier Personen, was dem Film etwas unleugbar Kammerspielartiges verleiht, machen ihre Sache nicht viel schlechter. Gerade der ältere Hausdiener und der Stallbursche stechen hervor, als seien sie einer archaischen Bewusstseinsebene entsprungene wandelnde Stereotypen.
Ob man Lerois Verzicht auf eine aufregende, atemberaubende Geschichte nun als künstlerisches Stilmittel ansehen oder als den einzigen Missklang in JE SUIS À PRENDRE sehen möchte, unterm Strich bleibt ein Film, der wirkt wie ein fleischgewordenes Sex-Gemälde von beispielweise Francois Boucher. Fleischeslust und ihre Befriedigung ist der Realität enthoben und in eine Kunstsprache übersetzt, in der viele Manierismen vorherrschen, die andererseits jedoch nichts verschweigt und die Dinge beim zuchtlosen Namen nennt. Vielleicht mögen moderne Hardcore-Produktionen, in denen zwischen den Fickereien unfreiwillig komische Standardsituationen abgespult werden, näher an der Wirklichkeit sein, vielleicht mag ein Renato Polselli, bei dessen Sex-Eskapaden einem deren Ungeschminktheit schon fast den Magen umdreht, näher an der Wirklichkeit sein, vielleicht mag sogar ein debiler Blödsinn wie GRAF PORNO BLÄST ZUM ZAPFENSTRICH mit seinen unerträglichen Zoten näher an der Wirklichkeit sein, JE SUIS À PRENDRE hat dafür eine romantische Brille auf der Nase, durch die noch jeder Blow Job ausschaut wie ein Gedicht von Bettine von Arnim oder eine Waterhouse-Nymphe.