Junk Films - Kiyota Tsurisaki (2012)

Moderator: jogiwan

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Salvatore Baccaro
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Junk Films - Kiyota Tsurisaki (2012)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Junk Films

Produktionsland: Japan 2012

Regie: Kiyota Tsurisakis

Darsteller: Leichname aus aller Welt
Wie ich in meiner Kurzbesprechung zu Thierry Zénos thanatologischer Film-Studie DES MORTS, die zwischen 1977 und 1979 auf drei Kontinenten entstand, geschrieben habe, wäre dieses Werk ohne die Anfang der 60er einsetzende Mondo-Welle und an sie anknüpfende Derivate wie FACES OF DEATH nicht denkbar gewesen – auch wenn, oder eher: gerade weil Zéno und sein Team deren ästhetisch-technischen Parameter weitgehend unterminieren, um ein rechtschaffenes Gegenstück zu ihnen zu entwerfen. Bei den JUNK FILMS Kiyota Tsurisakis, die 2012 von ihrem Regisseur zu einer neunzigminütigen Kompilation zusammengefasst werden, könnte man, obwohl er freilich ebenfalls eindeutig auf den in Japan seinerzeit unter dem beredten Titel JUNK herausgekommenen FACES OF DEATH verweist, wiederum argumentieren: Hätte es DES MORTS, von dem ich mir hundertprozentig sicher bin, dass der japanische Photograph und Filmemacher ihn gesehen haben muss, nie gegeben, würde vorliegender Film nicht so aussehen wie er aussieht.

Tsurisakis ist hauptberuflicher Totenphotograph. Seit den 90ern bereist der ehemalige Hardcore-Porno-Regisseur die Welt, um ihre Antlitze des Ablebens zu knipsen. Schnell wird die internationale Kunstszene auf ihn aufmerksam. Es erscheinen Hochglanzbände mit seinen Bildern. Er bestreitet Ausstellungen in renommierten Galerien. ARTE dreht ein Feature über ihn. Bekannt ist er vor allem für einen Dokumentarfilm, den er 2001 veröffentlicht. In OROZCO THE EMBALMER begleitet er über Jahre hinweg den titelgebenden Leichenpräparator in einem kolumbianischen Städtchen, wo das Faustrecht der Gewalt gilt. Tagtäglich liegen Opfer von Raubüberfallen oder Messerstechereien auf dem Tisch des nicht unsympathischen Einbalsamierers, der gesprächsfreudig seinem Handwerk nachgeht, mit seinem Assistenten ausgiebig beratschlagt, wo sie später essen gehen sollen, und beiläufig erwähnt, dass er während der Militärdiktatur berühmt für seine Verhörmethoden gewesen ist, die wirklich jeden haben singen lassen. Schon in OROZCO verlässt Tsurisakis immer mal wieder die armselige Präparationsstätte, und erkundet die Straßen des umliegenden, nicht weniger ärmlichen Viertels. Oft hält er beim Spazieren inne, um seine Kamera am Straßenrand herumliegende tote Körper fokussieren zu lassen. Eines extradiegetischen Kommentars enthalten sich Film und Regisseur bei alldem völlig. Wie DES MORTS ist OROZCO ein Film, der deshalb zum Nachdenken anregt, weil er es nicht nötig hat, seine visuellen Tabubrüche und grenzgängerischen Einblicke in Vergänglichkeitsprozesse mit grellen Effekten, einer unfreiwillig komischen Narration oder offensichtlichen Fakes zuzukleistern und damit abzufedern wie es beispielweise John Allan Schwartz in FACES OF DEATH oder auch so mancher Mondo-Nachzügler der späten 70er, frühen 80ern tut.

Tsurisakis JUNK FILMS sind, laut Untertitel, seine „collected shockumentaries“. Ersteres hat damit zu tun, dass er offenbar disparatestes Material aus seinem Privatarchiv aneinanderheftet. Wir sehen, durchaus konform mit dem Genre, zu dem sich der Film freimütig bekennt, eine bunte Tüte „gruesome stuff“, deren einzelne Bonbons ausnahmslos, wie OROZCO, von einer wackligen Handkamera eingefangen werden. Ihr Authentizitätspegel könnte kaum höher sein: Ein „Vegetarian Festival“ in Phuket, wo Menschen sich freiwillig Selbstverletzungen zufügen, indem sie sich die Gesichter und Münder mit spitzen Gegenständen durchbohren, und dessen Szenen problemlos auch in einem beliebigen italienischen MONDO-CANE-Epigonen hätten stattfinden können. Ein endlos lange und schnittlose direct-cinema-Sequenz, in der der wir beiwohnen, wie eine Gruppe japanischer Bestatter die Überreste eines frisch kremierten Leichnams zusammenlesen, und einer Urne überantworten, während sie respektlose Scherze reißen. Aufnahmen, die sich schon allein geographisch mit welchen decken, die Zéno, Garny und Februs in DES MORTS untergebracht haben, und zeigen, wie hinduistische Gläubige ihre Toten achtlos in den Ganges werfen oder an seinen Ufern verbrennen, während erstaunte Touristen auf ihren Booten an den kohlenden Haufen oder verwesenden Leichnamen vorbeifahren. Ebenso begegnen wir aber auch einem gewissen Abd al-Majid, seines Zeichens Führer der „al-Aqsa Märtyrerbrigade“, den Tsurisaki, wie auch immer, zu einem Interview vor Ort in Palästina hat einladen können, und einem Segment, das anmutet wie ein in sich geschlossener experimenteller Kurzfilm: Ein kleiner Junge scheint den Leichnam seiner toten Mutter zu beäugen, wobei die sowieso schon limitierte Bildauflösung diesmal derart grobkörnig ausfällt, dass ich das wiederum auch nur mutmaßen kann. Untertitelt wird das Nötigste, die Bestimmung von Raum und Zeit nehmen, ebenfalls wie bei DES MORTS, genaue Orts-, manchmal sogar Straßennamen sowie Uhrzeiten nennende Texttafeln vor, und extradiegetische Musik ist, bis auf die Aufnahme des erwähnten мать-Segments, völlig aus dem Film verbannt. Ist JUNK FILMS demnach ein veritabler Nachfolger von DES MORTS, seine Fortschreibung und Übersetzung, dreißig Jahre später, von einem analogen Jahrhundert ins digitale?

Dass meine Antwort eher negativ ausfällt, hat mit dem zweiten Bestandteil des Film-Untertitels zu tun, sollte man Tsurisakis Selbsteinschätzung als „shockumentarist“ doch durchaus ernstnehmen. Den Großteil seines Materials stellen Szenen von der Art dar, die in OROZCO als Lötmaterial zwischen den Präparationen und Dialogen eingesetzt werden: Tsurisaki folgt seinen Polizeiinformanten zu irgendeinem Tatort, wo man gerade wieder eine brutal zugerichtete Leiche gefunden hat, sei es nun in Santafe de Bogota, oder in Bangkok, oder auf Sumatra. Während sich Zéno für so ziemlich alle Aspekte des Todes und unseres Umgangs mit ihm interessiert – Tierfriedhöfe, Autopsien, die Mumien von Guanajuato, utopische Methoden der Kyronik –, dominiert bei Tsurisaki vor allem einer, der sich recht gut in Bildern zusammenfassen lässt wie das eines Mannes, dessen Kopf nach einem Unfall eine einzige klaffende Wunde ist, oder das einer mit Messerstichen übersäten Frauenleichen, oder die Aufnahme gleich zu Beginn, als auf offener Straße ein menschliches Herz liegt, und ein paar Schritte daneben das zugehörige Mordopfer. Dass Tsurisakis erste Reaktion es ist, auf den zerfetzten Brustkorb zu zoomen, unterwandert früh einen ernstzunehmenden ethnographischen oder soziologischen Ansatz, wie ihn das belgische Team pflegt. Auch stellt sich nach dem zehnten in allen graphischen Einzelheiten vorgeführten Resultat einer Gewalttat eine gewisse Ermüdung bei mir ein: Ich weiß, die Welt ist ein grauenhafter, gewalttätiger, grausamer Ort. Aber will mir der Regisseur wirklich nicht mehr damit sagen, wenn er unermüdlich mit seinen Kontaktleuten durch nächtliche asiatische oder lateinamerikanische Stadtviertel gondelt, immer auf der Suche nach dem nächsten möglichst entstellten Leichnam, den er seiner Kamera anvertrauen kann? Und was sagt diese Beschäftigung über ihn aus? Und was über mich, der ich mir all das eineinhalb Stunden lang anschaue?

Bei derartigen Filmen ist es schwierig, eine genaue Grenzlinie zu ziehen, wo die Exploitation anfängt, und wo der didaktische Gestus endet, wo eine Intention in die Richtung zielt, eine Gier nach grenzüberschreitenden Bildern zu befriedigen, und wo sie einem wirklichen aufklärerischen Anliegen dient, wo ein Thema ausgebeutet, und wo es mit der gebührenden Distanz und Sorgfalt angefasst wird. OROZCO hat mich nicht zuletzt dadurch begeistert, dass dort, wie in DES MORTS, einfach nur beobachtet, und nicht kommentiert, nicht gedeutet, nicht einmal wirklich kontextualisiert wird. Orozco schminkt seine Toten, entnimmt ihnen Organe, stopft ihnen Papierknäuel unter die Wangen, um deren Eingefallen-Sein zu kaschieren. So ist das eben. Wir können die Augen davor verschließen, oder hingucken. Tsurisaki guckt eben hin. Bei JUNK FILMS ist es im Grunde eigentlich nicht anders. Tsurisaki schaut einfach nur zu. Seine Beteiligung ruft allein die beständige Handkamera ins Gedächtnis, die kongruent ist mit seinem subjektiven Blick aufs Geschehen. Der Unterschied zu seinem eigenen früheren Film liegt hauptsächlich darin, dass eine Figur fehlt, die all diese Schlüssellochblicke in befremdliche und beklemmende Welten knapp unterhalb der Fassade des schönen Scheins tragen kann – so wie der irgendwie liebenswerte, irgendwie unnahbare Präparator mit seiner dunklen Vergangenheit. Der Unterschied zu DES MORTS liegt hauptsächlich darin, dass Tsurisakis‘ Aufnahmen reinen home-video-Charakter besitzen, ohne dass sie einer übergeordneten Idee geschuldet wären – so wie Zéno und sein Team nichts weniger wollen, als ein synchron ablaufendes Panorama von Toten und Toden unterschiedlichster geographischer und kultureller Couleur vor uns auszubreiten. Für den Hausmüll, wie ihr Titel suggeriert, sind diese JUNK FILMS dann doch zu schade, dafür ist das Material, trotz einiger angedeuteter voyeuristischer Entgleisungen, letztlich gerade in den Szenen ritueller Feste, bürokratisch ablaufender Beisetzungen oder Exhumierungen zu interessant. Mehr als dass da jemand seiner morbiden Neigung nachgeht, die Kamera dabei laufenlässt, und die Ergebnisse eher stumpf zusammenmontiert, kann ich hier beim besten Willen aber trotzdem nicht erkennen.
Zuletzt geändert von Salvatore Baccaro am Fr 28. Sep 2018, 16:08, insgesamt 1-mal geändert.
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jogiwan
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Re: Junk Films - Kiyota Tsurisakis (2012)

Beitrag von jogiwan »

"Junk Films" hab ich mir erst gar nicht angetan. "Oroczco" hätte ja durchaus interessant werden können, wenn man sich auch für die Umstände und nicht nur das Gedärm interessiert hätte. Aber meines Erachtens geht es Tsurisaki auch nur darum, im Gedärm zu wühlen und draufzuhalten, wo andere Filmemacher noch diesen gewissen Funken Anstand haben um die Würde von Toten zu respektieren, anstatt sie für ihre zweifelhaften Zwecke auszuschlachten.
it´s fun to stay at the YMCA!!!



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Salvatore Baccaro
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Re: Junk Films - Kiyota Tsurisakis (2012)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

jogiwan hat geschrieben:"Oroczco" hätte ja durchaus interessant werden können, wenn man sich auch für die Umstände und nicht nur das Gedärm interessiert hätte.
Ich muss sagen - (bzw. habe ich es im entsprechenden Thread ja schon gesagt hat) -, dass ich von OROZCO durchaus "positiv" überrascht gewesen bin, (sofern "positiv" im Zusammenhang eines solchen Films nun das richige Wort ist), da Tsurisaki dort zwar gnadenlos draufhält, aber es zumindest auf mich dann doch eher so wirkte, als seien seine Kamera und er "neutrale" Beobachter, die lediglich aufzeichnen, was sich ihrer Linse/ihrem Auge darbietet. (Ein Eindruck, den JUNK FILMS nur bedingt machen kann.)
Generell ist es aber natürlich vollkommen legitim, die Frage aufzuwerfen, inwiefern sich das mit der eigenen Moral verträgt, mit Bildern zumeist auf grausige Weise Verstorbener den großen Reibach zu machen - sei es nun mit dem Stempel des "Exploitationisten" oder unter dem Deckmäntelchen der "Kunst". (Ich bin ja kürzlich erschrocken, als ich gesehen habe, dass einige der erwähnten Hochglanz-Photobände Tsurisakis mittlerweile nicht unter ein paar hundert Euro zu bekommen sind.)
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