Originaltitel: Orozco el embalsamador
Produktionsland: Japan 2001
Regie: Kiyotaka Tsurisaki
Darsteller: Froilan Orozco und seine Toten
Auch Kiyotata Tsurisaki bezeichnet sich, wenn man ihn nach seinem Beruf fragt, als Leichenphotograph. Nur lebt er ein Jahrhundert später als Raabes Bogislaus Blech, der zu einer Zeit seine Kamera auf tote Körper richtet, als die Photographie gerade noch dabei ist, aus ihren Kinderschuhen herauszuwachsen, und Bilder verstorbener Familienangehöriger in unterschiedlichen Schichten und Kulturen einen dezidiert sozialen Gebrauchswert besitzen: Entweder werden die Toten hergerichtet, als stünden sie noch im Saft des Lebens – wir sehen Kinder in ihren Sonntagskleidchen, der Blick zwar seltsam starr, die Augen aber weit offen; Ehemänner, die ihre leblosen Gattinnen stützen, damit sie den Eindruck erwecken, sie würden nur etwas müde an ihrer Schulter lehnen; Männer in Gewändern, Posen, Interieurs, die die gesellschaftliche Stellung, die sie im Leben innehatten, in ihrem Tod fortsetzen –, oder sie werden (vor allem Frauen, Kinder und Haustiere) als schlafende Schönheiten inszeniert – der sanft entschlummerte Säugling in seiner Wiege; der ruhende Dackel in seinem Körbchen; die junge Frau als schöne Leiche, nach Poe das poetischste aller Themen, auf ihrem Sterbebett. Hundert Jahre später – und Dr. Kohl juniors brüskierte Reaktion darauf, womit sein Jugendfreund sich das Portemonnaie füllt, antizipiert das bereits – hat sich die Beziehung zwischen Photographie und Leiche freilich grundlegend verändert. Wenn wir heute Tote sehen, dann welche, die in Kriegen, bei Unfällen gestorben sind, oder die prominent genug sind, dass uns das Abbild ihres Leichnams in kulturell codierter Weise etwas angeht oder zumindest angehen sollte. Oder aber wir haben uns in arkane Kunstausstellungen verirrt, wo der Kamerafokus genau auf die Phänomene gerichtet wird, die aus dem Alltagsleben exkludiert werden, weil sich niemand gerne freiwillig mit ihnen befasst. Organische Prozesse wie Geburt, Sex oder Verwesung wären die Hauptvertreter dieser modernen Parias, um die sich nunmehr sowohl die allerdings ebenfalls unter Ausschluss der Öffentlichkeit operierende Konzeptkunst kümmert, oder aber die feuchten Katakomben digitaler Netzwerke, wo Gräuelbilder und -videos per Mausklick abrufbar sind, wenn ich nur versichert habe: Ja, natürlich bin ich über Achtzehn. Kiyotata Tsurisaki ist eine Figur, die irgendwo an der Schnittstelle zwischen beidem entlanggeht, sich nicht festlegen lässt, und sich nicht festlegen will.
Früher hat der Japaner BDSM-Pornos gedreht. Mitte der 90er entdeckt er seine wahre Profession. Er zieht über den Erdball, und lichtet Leichen ab – in Thailand, Russland, Palästina oder Kolumbien, wo er jahrelang einen Bestatter namens Froilan Orozco zunächst mit der Photo-, dann mit der Videokamera bei der Arbeit begleitet. Orozco ist dafür zuständig, tote Körper so herzurichten, dass sie in ihren Särgen keinen allzu schlechten Anblick abgeben. Er ist kein Pathologe, kein Forensiker. Er soll, wie Bogislaus Blech, seine Leichen einfach in einen Zustand versetzen, der sie nicht allzu schnell in Verwesung übergehen lässt, der ihre tödlichen Wunden und Verletzungen kaschiert, der sie wenigstens ein bisschen wirken lässt wie die Toten, die ab Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die Familienalben bevölkern, und sie zu veritablen Friedhöfen werden lässt. Der Film, zu dem Tsurisaki sein Material schließlich zusammenschneidet, erscheint 2001, und heißt schlicht OROZCO EL EMBALSAMADOR. Zu diesem Zeitpunkt ist sein Titelheld bereits selbst verstorben.
Tsurisakis Tanz auf der oben skizzierten Schnittstelle zwischen Exploitation und Edukation hat, meiner Meinung nach, vor allem damit zu tun, dass er sich, sowohl was seine Photographien als auch, was seinen Debut-Film betrifft, einer schonungslosen cinéma-vérité-Manier verschrieben hat, die die Dinge erst einmal so nimmt wie sie sich ihm darbieten, ohne zu kommentieren, zu kritisieren, oder zu kontextualisieren. Seine Photobände – wie RÉVÉLATIONS, der sich bei seinem Erscheinen regelmäßig dem Vorwurf aussetzen musste, eine pornographische Zurschaustellung der abgebildeten menschlichen Körper zu sein, eine Peepshow in der Pathologie sozusagen – liefern keine Hintergrundgeschichten, die die transgressiven Illustrationen menschlichen Sterbens irgendwo einbetten, und damit konsumierbar machen würden: Woran ist diese oder jene Person gestorben? Wurde ihr Mörder gefasst? Schon gar nicht: Was können wir aus ihrem Tod lernen? Tsurisaki ist ein bloßes Auge. Was es an uns delegiert, damit müssen wir dann selbst fertigwerden. Genau das macht die Einordnung seines Werks in die etablierten Dichotomien von hoher und trivialer Kultur so schwierig. Ist das nun Kunst, vergleichbar mit Warhols DEATH SERIES mit ihren farbig reproduzierten Autounfällen und deren Opfern? Oder ist das nun inhumaner Junk, vergleichbar mit FACES OF GORE und Konsorten mit ihrem genüsslichen Weiden an Körperdekonstruktionen zu Unterhaltungszwecken?
Ich kann höchstens von meiner Seherfahrung bezüglich OROZCO berichten. Skeptisch war ich durchaus, taucht der Titel doch oft und gerne im Netz auf Listen auf, wo die angeblich grauenerregendsten Werke der Filmgeschichte aufgezählt werden, und zwar zwischen Shockumentaries wie FACES OF DEATH und Pseudo-Snuff-Videos wie GUINEA PIG. Allerdings hat mich meine jahrelange Recherche im Sektor des subversiven Kinos ausreichend gelehrt, dass sich selbst in derartigen Listen oftmals versehentlich eine Perle verbirgt, die mehr ist als das, wozu ihre Rezipienten sie herabwürdigen wollen. Gerade Autopsien haben im Experimentalfilm Konjunktur darin, nicht nur mich essentiellen Erfahrungen zuzuführen, die nichts zu tun haben mit plumpen Schock, galligem Zynismus oder semi-pornographischer Nekromantik. Wenn Bogdan Borrowski in LE POÈME von 1985 die Autopsie eines alten Mannes auf der Tonspur mit einer Rezitation von Arthur Rimbauds Gedicht LE BATAUE IVRE über ein sinkendes Schiff synchronisiert – die Off-Stimme bricht ab, noch bevor Rimbauds Schiff den Ozeangrund erreicht hat, als der Leichensack zugeschnürt wird -, oder wenn Herz Frank DIAGNOZ von 1975 zunächst so wirken lässt wie eine betont seriöse Morgue-Dokumentation, diese dann aber durch subtil-surreale Alltagsszenen oder irritierende Kommentare verfremdet, oder wenn vor allem Stan Brakhage 1971 in THE ACT OF SEEING WITH ONE’S OWN EYES komplett ohne Ton für eine halbe Stunde Großaufnahmen sezierender Hände und seziert werdender Körperregionen aneinanderreiht, dann weisen all diese Filme eine Sperrigkeit, einen künstlerischen Formwillen, eine existenzialistische Qualität auf, die sie, glaube ich, für den gewöhnlichen Shockumentary-Aficionado eher un-brauchbar machen. Obwohl man sich da natürlich nie sicher sein kann: Es soll ja Leute geben, die CANNIBAL HOLOCAUST primär für einen kurzweiligen Horrorfilm halten.
Auch OROZCO ist vor einem solchen seine Subversionen über Gebühr als affizierende Stimuli betonenden Zugriff nicht gefeit – wie auch, wo er mir doch gleich in den ersten Minuten zeigt, wie unser Held Froilan stolz eine Kinderleiche präsentiert, sie der Kamera entgegenhält wie einen beliebigen Gegenstand, und sich darüber verwundert gibt, wie klein der Körper doch sei. Orozocos Verhalten wird verständlich, wenn man weiß, dass der Mann, wie uns eine Texttafel aufklärt, in seinem Leben über 50.000 Leichen sargfertig gemacht hat. Noch mehr leuchten seine fehlende Empathie, sein schwarze Humor, seine routinierten Handgriffe ein, wenn man weiß, dass er während der sogenannten „Violencia“, dem jahrzehntelang tobenden Bürgerkrieg zwischen Liberalen und Konservativen, bei der kolumbianischen Polizei angestellt war, und, wie er zumindest einmal beiläufig andeutet, auch für politische Säuberungen und Folterungen verantwortlich zeichnete. Darüber spricht Orozco aber nicht gerne, während Tsurisaki ihm wie ein Schatten folgt, ohne ihn, wie er in einem späteren Interview erklärt, jemals richtig kennengelernt zu haben. Lieber ist es dem Bestatter, detailliert von seiner Arbeit zu berichten – wie man, um Zeit zu sparen, die Eingeweide einfach als chaotischen Haufen in die Bauchhöhle schüttet; wie man die durch das herausgeflossene Blut entstandenen Hohlräume mit irgendwelchen alten Lumpen ausfüllt, um den Leichnam nicht in sich zusammenfallen zu lassen; wie man Glycerin auf die erloschenen Augen tupft, damit sie nicht so glasig wirken; wie man eine Schädeldecke so öffnet, dass das Gesicht unangetastet bleibt, und man es wie eine Maske nach vorne über den Schädel klappen kann; wie man mit einem rostigen Messer Watte in den Mundraum der Toten stopft, um ihre Wangen voller erscheinen zu lassen. Bei alldem wirkt Orozco auf mich alles andere als unsympathisch. Deutlich erklärt er, dass er sein bestes für die Toten geben will – wenn auch letztlich aus pekuniären Motiven: Falls die Leiche frühzeitig zu verwesen anfange, und die Familie fände das heraus, und würde das dem Bestattungsinstitut sagen, dann sei er natürlich seinen Job los. Einmal, als man gerade dabei ist, einen Berg Gedärme zu entnehmen, zu waschen und zurück in die offene Bauchhöhle zu kippen, fragt er seinen jungen Assistenten, ob sie gleich Mittagessen gehen wollen.
Wo Borroswki, Frank, Brakhage ihr Material auf die eine oder andere Weise ästhetisieren – sei es durch ihre Farbgebung, Irritationen innerhalb der Montage, eine kontrapunktische Tonspur – interessiert sich Tsurisaki kein Stück dafür, seine grobkörnigen, schmutzigen Bilder irgendwie zu mildern, indem er sie filmtechnisch bearbeitet, sie mit lyrischen Versatzstücken koppelt oder ihnen bewusst eine Meta-Ebene unterschiebt. Trotzdem ist OROZCO nicht ohne Kontext. Der generiert sich allerdings aus Tsurisakis Streifzügen außerhalb von Froilans Morgue. Immer wieder schneidet er zwischen dessen Arbeit Aufnahmen, die er scheinbar zufällig auf offener Straße gemacht hat. Leichen liegen blutüberströmt am Wegesrand – Opfer von Schießereien, Raubüberfallen, politischen Unruhen. Dazu muss man wissen: Natürlich hat sich Tsurisaki für seinen Film eine der gewalttätigsten Gegenden des per se nicht unbedingt für seine langen Friedensperioden bekannten kolumbianischen Staates ausgesucht – einen Ort, der nicht nur gezeichnet ist von verwahrlosten Hinterhöfen, verfallenen Häuserblöcken, Müll auf offener Straße, sondern an dem der Tod regelrecht in der Luft liegt. Auch das bebildert der Film einfach nur, ohne eine Anklage zu erheben, ohne sich irgendwie moralisch entrüstet zu geben, oder gar Lösungsansätze aufzuzeigen. Alles, was wir als Kommentar überhaupt erhalten, ist ein Folklore-Sequenz aus Gitarre und Trommelbeat, die selbst an den unangebrachtesten Stellen im Film als Leitmotiv fungiert.
Eine Darstellung der Beziehungen zwischen Lebenden und Toten in vermeintlich rückständigen Regionen der sogenannten Dritten Welt kann man OROZCO ebenfalls nicht unterjubeln. Die hygienischen Bedingungen hierzulande mögen besser sein, die Maßnahmen möglicherweise technisch ausgefeilter, die Arbeit weniger der an einem Fließband ähneln – aber ich kann mir vorstellen, dass das nur Sublimierungen sind, mit denen aufgefangen werden soll, dass auch in der westlichen Welt der tote Körper letztlich nur noch äußeren Anforderungen zu entsprechen hat: Denen der Hinterbliebenen, die ihn schmuck hergerichtet ein letztes Mal zu sehen wünschen; denen der Präparatoren, die mit einen möglichst leichten, kurzen Prozess haben wollen; denen einer Gesellschaft, die den Tod an ihre Peripherien verbannt hat, und jegliche Mittel mobilisiert, ihn dort auf Schach zu halten. OROZCO THE EMBALMER als ein Dokument für die Verrohung Lateinamerikas zu verstehen, das wäre genauso verfehlt, wie anzunehmen, dass die Exilierung Sterbender aus dem öffentlichen Bewusstsein irgendwie einen zivilisatorischen Fortschritt darstellte. Vielleicht ist das die Lehre, die ich aus Tsurisakis eindringlichem, eindrucksvollem Film, der mich, wie man wohl schon längst herausgelesen hat, (auch oder gerade weil ich nicht sagen kann, ob das nun Kunst oder Junk ist), sehr berührt hat, am Ende ziehe: Wie der alte Orozco mit seinen Leichen umspringt, wie er sie grob anpackt, hochhievt, sie öffnet, sie dann aber auch schminkt, ihnen die Haare bürstet, und währenddessen bereits darüber nachdenkt, was er zum Mittag essen soll, das erzählt – so furchtbar es zunächst auch anzuschauen sein mag – von einem selbstverständlichen Umgang mit dem Tod, der, wenn man dem Mediävist Philippe Ariès glaubt, einmal der gesellschaftlich vorherrschende gewesen sein muss, und der nun verschüttet liegt unter Verboten, Tabus und Überformungen, die zu einer völlig bizarren Szene führen, die ich erlebt habe, als ich ein paar Wochen ehrenamtlich auf einer Palliativstation gearbeitet habe: Statt ihren Sterbenden zu streicheln, mit ihm zu sprechen, ihm körperlich nahe zu sein, blickt die anwesende Familie kollektiv auf das EKG, und wartet darauf, dass eine langgezogene Linie und ein monotones Fiepen sie erlöst.
Würde ich Bogislaus Blech morgen zufällig auf der Gasse über den Weg laufen, und würde er mir erzählen, was er zurzeit denn so treibe, würde ich ihm, glaube ich, antworten: Wie interessant! Kann ich Dich bei Deinem nächsten Photo-Termin vielleicht als Assistent begleiten?