Privileg - Peter Watkins (1967)

Moderator: jogiwan

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Maulwurf
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Privileg - Peter Watkins (1967)

Beitrag von Maulwurf »

 
Privileg
Privilege
Großbritannien 1967
Regie: Peter Watkins
Paul Jones, Jean Shrimpton, Mark London, Max Bacon, Jeremy Child, James Cossins, Frederick Danner, Victor Henry, Arthur Pentelow, Michael Barrington, William Job, Steve Kirby


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OFDB

OK, vergessen wir mal für einen Moment, dass es jemals einen Film namens THE WALL gegeben hat. Tun wir so, als ob die immerhin 15 Jahre später entstandene Geschichte des Rocksängers Pink und seines Selbsthasses niemals existierte, und gehen wir an PRIVILEG ganz unvoreingenommen heran. Was sehen wir? Wir sehen die Geschichte des Popsängers Steven Shorter, der von der britischen Regierung dafür verwendet wird, die aufmüpfigen Jugendlichen dieser Zeit unter Kontrolle zu halten. Steven wird als Idol aufgebaut, als Messias der Pop-Musik, und seine Botschaft heißt Freude und Frieden. In deutschen Begriffen wären das wohl Ruhe und Ordnung. Steven war auch einmal im Gefängnis, und das, was er dort erlebt hat, spielt er in seiner Bühnenperformance nach: Die Schläge, die Misshandlungen der Polizei, die Einsamkeit, das Ausgeliefertsein … Sein Publikum geht mit, leidet mit ihm, und als Steven die Bühne verlässt stürmt das Publikum auf die Polizisten auf der Bühne los und will diese in Fetzen reißen …

Steven Shorter ist ein Idol. Für die Jugend und für jeden. Er ist so groß wie der Messias, und er wird auch als Messias aufgebaut. Die Erzbischöfe von Essex, Cornwall, Surrey und Hersham tun sich zusammen, um die Christian Crusade Week zu initiieren, mit der der Glaube im Land wieder gestärkt werden soll, und Steven Shorter ist ihre Galionsfigur. Stevens Leben zwischen dem Dreh von Werbefilmchen und öffentlichen Auftritten in Steven Shorter-Discotheken oder Steven Shorter-Einkaufsmeilen zehrt ihn aus, frisst ihn auf, und lässt nur eine Hülle zurück. Der Personal Manager, der A&R-Mann der Plattenfirma, der Musikproduzent, jeder denkt einzig an Steven Shorters Karriere. Und wie sie ihm selber finanziell am besten nutzen kann. Einzig die Malerin Vanessa, die Steven eine Zeitlang in seinem „Alltag“ begleitet, hat Verständnis für ihn und versucht, ihn in eine andere Richtung zu drängen: Raus aus diesem Hamsterrad, wieder zu sich selbst finden, ein Individuum sein. Keine gute Idee, denn der politische und soziale Frieden im Land hängt längst von Steven Shorter ab …

Was für grandiose Bilder, wenn die Christian Crusade Week im National Stadium beginnt, Nebelschwaden über den Rasen ziehen, Pfadfinder aus dem ganzen Land zu christlicher Musik marschieren, und Reverend Tate sich ekstatisch geifernd an die Massen wendet um den wahren Glauben zu beschwören. Hinter ihm ein gigantisches Plakat von Steven Shorter, dessen eines Auge dabei immer zu sehen ist. Die Band, die dann das Lied von Steven singt, grüßt die Masse mit dem deutschen Gruß, und der Kommentator sieht das Ganze im Off trocken als großartige Veranstaltung.

Dies, und der unglaubliche Auftritt Stevens zu Beginn, wenn er von den Polizisten übelst geschlagen wird und den Fans im Publikum dabei die Tränen herunterlaufen, dies ist ganz ganz großes Kino! Steven streckt die mit Handschellen gefesselten Hände aus einem Käfig und singt „Set me free“, und die Gänsehaut frisst sich erbarmungslos die Seele hinauf. Diese Momente gehen unter die Haut, nicht nur in ihrer optischen Opulenz, sondern auch als ätzendes und boshaftes Statement über die Macht der Medien. Damals genauso wie heute.

Leider kann der Rest des Films mit diesen starken Momenten nicht so recht mithalten. Wir lernen nach und nach den personellen Umkreis Stevens kennen, eine unglaublich verkommene Mischpoke an geld- und machtgierigen Gestalten, und wir lauschen den Gesprächen zwischen Steven und Vanessa, in denen Vanessa versucht Hilfe anzubieten an einen Menschen, der innendrin schon längst nicht mehr existiert. Aber diese Augenblicke ziehen sich oft etwas hin – Dass die Welt aus egoistischen Arschlöchern besteht wissen wir längst, und dass das Musikbusiness da keine Ausnahme macht ist auch nichts Neues. Wenn Steven auf einer Party des Labelchefs heiße Schokolade bestellt, weil er trotzig wie ein zorniges Kind keinen Wein will, dann bestellen die Opportunisten in der Runde eben alle heiße Schokolade, und Steven sieht sich in seinem Versuch, seine Individualität zu beweisen, an der opportunen Masse gescheitert. Aber gerade in solchen Momenten fehlt der Biss der beiden großen, bereits beschriebenen Szenen, ist die Auflösung handzahm und unaufregend. Watkins‘ anderer starker Film, STRAFPARK, hat diesen Biss, und auch wenn beide Filme in ihrer Gesamtheit als Mockumentaries angelegt sind, mit Wackelkamera und Off-Kommentator, mit eingestreuten Interviewschnipseln und kommentierten Szenen aus einem öffentlichen Leben, so ist STRAFPARK insgesamt einfach aggressiver und damit auch treffsicherer in seiner Aussage. PRIVILEG mag in vielen Momente nicht so recht zuschnappen und verpasst die Chancen großer Bosheit, was den Film zwar nicht schlecht macht, aber dann doch wieder die Bilder und die Eindrücke des jüngeren Bruders THE WALL hochkommen lässt. Etwas schade um die verpassten Chancen, aber nichtsdestotrotz eindrucksvolle Kinomagie mit starkem Gänsehautcharakter.

6/10


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