Was vom Tage übrigblieb ...

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Moderator: jogiwan

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Maulwurf
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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

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Django kennt kein Erbarmen (Enzo G. Castellari, 1966) 7/10

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Der Kopfgeldjäger Django hat den Halunken Freeman in die ewigen Jagdgründe geschickt und bei diesem 100.000 Dollar gefunden. Geld, das vermutlich einer Bergwerksgesellschaft gehört, der es vor Jahren von dem Banditen Jim Norton geraubt wurde, der damals Freemans Komplize war. Die Gesellschaft möchte wissen ob das wirklich ihr Geld ist und schickt Django nach Mile City in Montana, wo ein gewisser Trevor Norton lebt, seines Zeichens der Bruder des mittlerweile erschossenen Jim Norton. Also trabt Django los, findet in der Wüste noch einen toten Sheriff, und kommt dann irgendwann in Kleinmiesnestdorf genau rechtzeitig an, um eine Hanging Party zu verhindern. Er wird von vornherein als Sheriff wahrgenommen und lässt sich auch gerne auf das Spiel ein, findet sich aber dadurch sofort in einem Krieg zwischen den Fronten wieder. Denn in Montana kämpfen Viehzüchter gegen Farmer, und die Mittel in diesem Krieg heißen Brandschatzen und Morden. Der Anführer der Viehzüchter ist ein gewisser Bronsberg, der einen Haufen zwielichtiges Gesindel um sich geschart hat. Und der Anführer der Farmer? Der heißt Trevor Norton und versucht verzweifelt auf Diplomatie zu setzen, um den Kampf zu vermeiden. Und zu guter Letzt ist da noch Sally, die Nichte von Onkel Trevor, die sich gewaltig in Django verguckt, der ja eigentlich dem guten Trevor auf den Zahn fühlen soll …

Keine Angst, die Geschichte klingt nur so verzwickt, in Wirklichkeit ist das alles erstaulich einfach dargestellt und dreht sich in erster Linie um die Frage: Wer ist Onkel Trevor? Ist das wirklich der Zwillingsbruder des toten Jim? Oder ist es Jim selber?

Ich kenne nur einen Menschen der so einen Schuss am Leib hat …

Alles andere sind MacGuffins oder kleinere Schlenker in der ansonsten gradlinig erzählten Geschichte, die dank des coolen Anthony Steffen gut nach vorne losgeht. Einiges an spannenden Schießereien, ein wenig Geprügel, interessante Charaktere, und auch wenn das alles nun nichts Neues im Lande Montana ist, so ist die Story bis auf die letzten 20 Minuten ordentliche Unterhaltung, bei der man nichts verkehrt machen kann.
Wieso die letzten 20 Minuten? Nun, nach den ernsten und straighten rund 60 Minuten ab dem Beginn ist das gesamte Showdown irgendwie ein wenig aus dem Rahmen gefallen. Urplötzlich treiben die Personen inhaltlichen Unfug, bringen sich völlig unvermittelt in ausweglose Situationen, lösen diese mit wahren Wunderschüssen, und wenn am Schluss die Kavallerie in Gestalt der braven Bürger herbeikommt und mit großen Augen das entstandene Drama anschaut, sich dabei aber nicht mal aus dem Sattel bewegt geschweige denn auch nur eine einzige Waffe zieht, dann wundert man sich schon, ob da eventuell ein anderer Regisseur am Werke gewesen sein mag. Oder bin ich da etwas überempfindlich?

Nicht nur in diesem Zusammenhang wäre die Entstehungsgeschichte des Films sicher interessant. Das beginnt dabei, dass der Film häufig Leon Klimovsky zugeschrieben wird, tatsächlich aber das Regiedebüt von Enzo G. Castellari war. Klimovsky hat wohl anscheinend ganze 10 Minuten gedreht. Meine persönliche Meinung ist, dass es diese letzten 20 Minuten des Films waren, die inszenatorisch eben deutlich abfallen, und eher für Klimovskys Unvermögen stehen als für Castellaris Können.
Die Musik von Carlo Savina lehnt sich ausgesprochen deutlich an Ennio Morricones FÜR EINE HANDVOLL DOLLAR an, und auch der Originaltitel, übersetzt Ein paar Dollar für Django, zeigt mit einem übergroßem Finger auf das große Vorbild Sergio Leones. Allein die großartige Prä-Titelsequenz, wenn ein Pistolero im Poncho auf einem Maulesel zu zwei Banditen reitet, gefilmt durch die Arme der armdrückenden Schurken, allein diese Sequenz ist purer Leone (im Gegensatz zum Rest des Films). Auf der anderen Seite ist dies ein „echter“ Django, also keiner der aus der deutschen Titelschmiede stammt – Und die Figur Anthony Steffens heißt in den italienischen und spanischen Fassung tatsächlich Django Regan!
Gleichzeitig sind aber auch starke amerikanische Einflüsse zu spüren. Das betrifft die etwas langgezogene Liebesgeschichte zwischen Django und Sally genauso wie eine Figur wie den Sheriffgehilfen Smitty, der so auch aus RIO BRAVO bzw. dem im gleichen Jahr wie DJANGO KENNT KEIN ERBARMEN gedrehten Remake ELDORADO stammen könnte. Smitty ist so eine typische Walter Brennan-Figur: Der kauzige alte und aufrechte Westerner, den man aus Lucky Luke-Comics und alten US-Western kennt, der sich aber in den Italos gottseidank nie wirklich durchsetzen konnte.

Insofern ist DJANGO KENNT KEIN ERBARMEN ein oft ambivalenter Film, der so seine Höhen und Tiefen hat. Wenn Norton sich gegen eine ganze Bande von Revolvermännern zur Wehr setzt und gekonnt einen nach dem anderen ausschaltet ist das megaspannend und tatsächlich in jeder Weise ganz großes Kino. Und wenn am Ende die Stuntleute so tun sollen als ob sie erschossen werden, dann ist dies offensichtlich eine der definitiven Inspirationsquellen für Demofilo Fidani: Aus dem Liegen aufstehen, sich mindestens einmal um die eigene Achse drehen, dabei aufjaulen wie Ian Gillan am Ende von Child in time und zu guter Letzt rückwärts auf den Kopf fallen …

Aber da muss man wahrscheinlich einfach durch, genauso wie durch die deutschen Schnittfassungen. Ich möchte Grinder aus der OFDB zitieren:
Grinder hat geschrieben: Die bisherigen deutschen DVD Veröffentlichungen (Stand 06/2020) sind leider alle cut.
Gegenüber der Tele 5-Ausstrahlung und der Japan DVD (darauf basiert das Master) wurden damals ca. 12 Sekunden gekürzt und eine FSK 16-Freigabe beantragt.

[..]

Django kennt kein Erbarmen hatte in Deutschland eine 18er Freigabe. MVW hat im Jahr 2005 eine Neuprüfung einer gekürzten Version bei der FSK durchgeführt und eine 16er Freigabe erreichen können. Gegenüber der Japan DVD wurden ca. 12 Sek. entfernt.
Es handelt sich jedoch keineswegs um blutige Szenen, wie abgeschossene Ohrläppchen oder sonstige Gewalttätigkeiten, nein, man hat den Kampf Trevor Nortons gegen einen anderen Farmer um mehrere kleine Schnipsel erleichtert, z.B. wie der angebliche "gute" Norton seinen Gegner mit einer Mistgabel explizit zu töten versucht. Die Szene findet um die Minute 24 statt.
Mit dieser Kürzung hat man den Charakter Nortons entschärft, bzw. man enthält dem Zuschauer vor, welcher Charakter sich hinter der guten Fassade verbirgt.

Die "seltsame" Laufzeit der Fassungen (Tele 5, deutsche DVDs, Japan DVD) beruht darauf, dass die Geschwindigkeit ständig zwischen PAL und NTSC schwankt. Warum auch immer.
Außerdem ist die Szenenfolge falsch. Nur die VHS von Greenwood hat die richtige, originale Szenenfolge wie sie auch im Kino zu sehen war.

Greenwood
1. Steffen als Kopfgeldjäger, Szene Dynamitkerze
2. Auftrag nach Montana zu reiten
3. Credits/Titelsong über den Reit- bzw. Pferdeszenen
4. Auffinden des toten Sheriffs
5. Ankunft in Montana


Die Bavaria VHS stellt die Szenen wie folgt dar:
1. Credits/Titelsong über den Reit- bzw. Pferdeszenen
2. Steffen als Kopfgeldjäger, Szene Dynamitkerze
3. Auftrag nach Montana zu reiten
4. Auffinden des toten Sheriffs
5. Ankunft in Montana


Die SPO DVD aus Japan und die auf demselben Master basierende TV-Version (Tele 5) und MVW DVD haben eine gänzlich andere Schnittfolge:
1. Steffen als Kopfgeldjägern, Szene Dynamitkerze, darüber neu angefertigte Credits
2. Auftrag nach Montana zu reiten
3. Reitszene
4. Auffinden des toten Sheriffs
5. Pferdeszene/Titelsong am Ende(!) des Films


Durch diese Umstellung wird die Szene aus Ihrem ursprünglichen Kontext gerissen und der Film unnötig verkitscht. Die dargestellten Zäune ergeben am Filmende überhaupt keinen Sinn, sondern sollen dem Zuschauer die Situation in Montana darstellen, bevor Steffen dort ankommt.
Quelle: https://www.ofdb.de/view.php?page=text& ... rid=822970

Was wären Westernfilme in Deutschland ohne Grinders Fachwissen? Vielen Dank an dieser Stelle!! Und mit dem Wissen über die richtige Szenenfolge gewinnt der Film tatsächlich an Profil.
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Maulwurf
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She played with fire (Sidney Gilliat, 1957) 7/10

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Oliver Branwell arbeitet für eine Versicherung. Sein Job ist es, Schadensfälle zu begutachten und auf möglichen Versicherungsbetrug zu untersuchen. In dieser Eigenschaft kommt er an Weihnachten nach Lowis Manor, wo es bei der Familie Moreton gebrannt hat, und ein paar Gemälde ums Leben gekommen sind. Die Schadensaufnahme ist schnell gemacht, man ist sich gegenseitig sympathisch, man plaudert noch ein wenig, und dann steht plötzlich SIE da – Sarah Moreton, die Frau des Gastgebers. Und der Grund dafür, dass Oliver schlagartig die Luft wegbleibt. Denn Sarah war vor einigen Jahren in Hong Kong seine Geliebte. Man wollte heiraten, und hatte sich dann durch widrige Umstände doch wieder aus den Augen verloren. Jetzt diniert Oliver bei der Familie Moreton, plaudert angeregt mit Sarah, und dabei macht sein Herz Sprünge vor lauter Liebeslust.

Es kommt wie es kommen muss, Oliver und Sarah treffen sich heimlich, aber sie verlieren sich auch wieder aus den Augen. Einige Zeit später trifft Oliver dann beruflich den blutjungen Christopher Lee (der im gleichen Jahr als Frankensteins Monster seinen Durchbruch erzielen sollte) und über den er die liebeshungrige Vere Litchen kennenlernt, in deren Appartement das Bild hängt, dass damals in Lowis Manor eigentlich verbrannt ist. Verbrannt sein sollte. Oliver schwant Übles, und bei Nacht und Nebel schleicht er sich in das gediegene Herrenhaus um herauszubekommen, ob dort vielleicht eine Fälscherwerkstatt ihr Quartier hat. Eine Fälscherwerkstatt findet Oliver nicht. Aber eine Leiche. Und einen schnell außer Kontrolle geratenden Großbrand …

Und wieder sah ich die Ruinen von Manderley vor mir. Schon die erste Szene impliziert diese Worte, wenn die Kamera über das zerstörte Herrenhaus streift, und die darauf folgende irrwitzige POV-Fahrt über kurvige Straßen und in den Hof des Anwesens zieht den Zuschauer ohne Umwege tief in diese Geschichte. Die Ruinen und die Fahrt entpuppen sich schnell als Alptraum Olivers, und es scheint, als ob Sidney Gilliat auf den Spuren der großen 40er-Jahre-Werke Hitchcocks wandeln möchte: Die Träume, die Ruine … Dazu passt auch, dass Arlene Dahl fast so ätherisch rüberkommt wie Kim Novak ein Jahr später in VERTIGO – AUS DEM REICH DER TOTEN, und der Versicherungsdetektiv Oliver Branwell dem Ex-Polizisten Scottie Ferguson in seiner knorrigen Ausstrahlung gar nicht so unähnlich ist. Ob Hitch sich an dem britischen Noir oder seiner literarischen Vorlage wohl orientiert haben könnte …?

Aber Gilliat schafft den Absprung aus dem Epigonentum und findet sich schnell in einer zuerst sehr gründlich erzählten und spannenden Geschichte wieder, die ein wenig Zeit braucht um ihr eigentliches Ziel zu finden, nach etwa einer halben Stunde aber mit viel Verve und dichter Narration schnurstracks nach vorne fährt. Wenn Oliver durch das verlassene Lowis Manor streift sind die Schatten tiefer als in jedem Horrorfilm, und die Spannung steigt bei jedem Gang und jedem neuen Raum. Allerspätestens beim Fund der Leiche wird klar, dass hier ungeheuerliche Dinge vorgehen, die einen schlichten Versicherungsbetrug bei weitem übersteigen, und Oliver findet sich schnell in einem Wirbelwind wieder, dessen ruhender Pol ausgerechnet Sarah Moreton ist – Die eine Menge Geld erbt, und die auch verdammt schnell bereit ist, ihren Nachnamen zu ändern …

SHE PLAYED WITH FIRE, der eigentlich viel richtiger HE PLAYED WITH FIRE heißen sollte, und der im britischen Original sowieso der Romanvorlage geschuldet FORTUNE IS A WOMAN heißt, mag sicher kein großes Kino sein, da steht vor allem auch der ausgesprochen schwache Schluss dagegen. Gerade die letzten 20 Minuten mit der Auflösung des Rätsels sind erzählerisch so ausgesprochen mau geraten, dass man fast die Lust an dem Film verlieren könnte. Aber die erstklassigen Schauspieler, die gute Kamera und die gradlinig erzählte Geschichte, in der der arme Oliver, der eigentlich immer nur das Beste will, am Ende sogar unter Mordverdacht steht, das alles sorgt für gute Unterhaltung vom Fließband, die nichts anderes will als dem Zuschauer anderthalb vergnügliche Stunden zu schenken. Mir hat’s gefallen, weil es über lange Strecken hinweg spannend war. Weil Arlene Dahl wunderschön anzuschauen ist. Weil ich mit Greta Gynt sofort in ein neues Leben flüchten würde. Und weil der Film in seiner Gesamtheit halt einfach richtig gut unterhält.
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Maulwurf
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Escape Plan – Entkommen oder Sterben (Mikael Håfström, 2013) 7/10

Im Fernsehen gesehen.jpg
Im Fernsehen gesehen.jpg (7.52 KiB) 210 mal betrachtet

Ray Breslin ist Ausbrecherkönig. Nein, nicht einfach nur ein hochbegabter Krimineller, sondern Ray verdient mit dem Biegemachen seine Kohlen: Er lässt sich dafür bezahlen, dass er Gefängnisse auf Herz und Nieren prüft und ihre Schwachstellen findet, indem er eben ausbricht. Das Angebot, das er jetzt bekommt, hat es allerdings in sich: Ein privates Hochsicherheitsgefängnis, der Ort ist unbekannt, die Mithäftlinge sind der Abschaum vom Abschaum, die Bedingungen unmenschlich, und die Gage sind 5 Millionen Dollar. Für 5 Millionen kann man schon mal was riskieren, also lassen Ray und seine Freunde sich auf den Deal ein. Doch was sich alles unter dem Begriff unmenschliche Bedingungen verbergen kann, das war Ray nicht klar: Keine einzige Sekunde am Tag unbeobachtet, keinerlei Möglichkeit der Kommunikation nach draußen, der eiskalte und sadistische Direktor ist nicht derjenige der ihm als Kontaktperson genannt wurde, und bereits beim Transport zum Knast muss er im Drogendämmer mitansehen, wie ein anderer Häftling vom Wachpersonal einfach aus dem fliegenden Flugzeug gekickt wird. Dort rauskommen? Unmöglich …

Klar, unmöglich kann es nicht sein, nicht mit Sly und Arnie in den Hauptrollen. Aber der Weg bis zum erfolgreichen Ausbruch ist verdammt spannend, und so sehr er auch mit unlogischen Momenten, dämlichen Zufällen und männlichen Schwachsinnsmomenten gepflastert sein mag, so aufregend ist er auch. Ich gebe zu, dass ich im Showdown sicher war, in einem Michael Bay-Schwachsinn gelandet zu sein, und gerade bei den effektgeschwängerten Ballereien und Prügeleien schwächelt der Film deutlich. Die Schnittfrequenz bei den Kämpfen ist dem Alter der Hauptdarsteller deutlich angepasst, und irgendwie ist das zumindest gegen Ende hin alles viel zu hektisch und zu aufdringlich gemacht, im Gegensatz zu den ersten zwei Dritteln des Films, die sich auf die erfahrenen Schauspieler verlassen und damit viel Atmosphäre und ein wenig Realismus erzeugen. Es muss halt auch akzeptiert werden, dass Sly der Supermann schlechthin ist, der aus dem Effeff weiß wie ein Sextant konstruiert wird, die Unterschiede zwischen Stahl und Aluminium unter dem Einfluss von Hitze und Luftfeuchtigkeit in 20 Wörtern aufzählen kann, und Bewegungsmelder an der Anordnung der Lämpchen in einer Konsole identifizieren (und neutralisieren) kann. Arnie steht dem in keinster Weise nach, und selbst der arabischstämmige Knastantagonist kann mit einem Sextanten so locker-flockig umgehen wie unsereins mit seinem Handy.

Aber was soll’s, ESCAPE PLAN ist verdammtes Popcorn-Kino ohne jeglichen Anspruch an Hirn oder Wahrheit, und damit fährt der Streifen richtig gut. Flott, spannend, ordentlich inszeniert; mit einem Wort: Unterhaltung, bei der man nicht merkt wie die Zeit vergeht.
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Maulwurf
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Haus des Grauens (Freddie Francis, 1963) 8/10

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Die vermögende Familie Ashby. Ein Hort der Familie und der Rechtschaffenheit, in dessen Schoß die junge Eleanor behütet aufwächst. Die Eltern sind vor 11 Jahren bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen, und Tante Harriet kümmert sich seitdem um den guten Ruf. Und nur darum. Unter anderem damit, dass sie jedes Jahr einen Gedenkgottesdienst veranstalten lässt. Den Freitod des 15-jährigen Tony vor acht Jahren hat Eleanor niemals so richtig überwinden können, hat sie ihren Bruder doch über alles geliebt, und sehnt ihn sich so sehr herbei, dass ihre Gesundheit gelitten hat und sie von einer französischen Pflegerin betreut wird. Dieses Jahr aber meint Eleanor, beim Gottesdienst Tony zu sehen, und fällt in Ohnmacht. Ein Umstand, der den älteren Bruder Simon vollkommen kalt lässt. Seine einzigen Interessen sind das Saufen, die geöffneten Schenkel der Pflegerin Françoise, und dass er in drei Wochen endlich an das Familienvermögen rankommt. Dass Tony plötzlich tatsächlich vor der Türe steht passt da gar nicht in Simons Plan, denn wenn Eleanor als verrückt erkannt werden würde, wäre er der einzige Erbe des Familienvermögens gewesen. Jetzt sind es plötzlich drei Erben! Eindeutig zwei zu viel … Oder ist Tony vielleicht nur ein Betrüger?

Sie ist ziemlich durcheinander, etwas verwirrt.“ „Mein liebes Tantchen, meine Schwester ist geistesgestört!

Das Haus das Verrückte macht würde als Titel besser passen. Absolut jeder hat hier einen gewaltigen Sprung in der Schüssel – Eleanor trauert nach 8 Jahren immer noch um ihren Bruder, Simon säuft wie ein Loch und steht prinzipiell mit einem Bein im Knast, und Tante Harriet schaut peinlichst genau darauf, dass nach außen hin alles wohlgesittet aussieht. Und dann das: Tony ist da! Acht Jahre nach seinem Freitod steht der jüngste Spross dieser missratenen Familie vor der Tür und erhebt Anspruch auf seinen Anteil am Reichtum. Dass da Mordgedanken hochkommen ist nachvollziehbar, und dass die Identität Tony genauestens überprüft werden muss ebenfalls. Aber ist der Mann nun ein Schwindler, oder ist er der echte Tony?

Auch wenn das recht früh verraten wird, ich möchte das hier nicht spoilern. Bis zur Auflösung hat es einige sehr spannende Momente, wo dieses „Ist er oder ist er nicht?“ ultimativ ausgewälzt wird. Überhaupt bekleckert sich das fein ausgearbeitete Drehbuch öfters einmal mit Ruhm, vor allem damit, dass die ganze Geschichte punktgenau und in schlappen 76 Minuten erzählt wird. Keine unnötigen Schleifen, keine unbrauchbaren Liebesgeschichten, und vor allem kein Kitsch am Ende. Der Film hört auf wenn er aufhört, und erschlägt den Zuschauer förmlich mit den letzten Bildern und dem dazugehörigen Drama. Auch die Dialoge sind gut austariert und verschwenden keine unnötige Zeit; so findet die Vorstellung der Familie und ihrer Tragödie zu Beginn durch den Pfarrer während des Gottesdienstes statt, und die Kamera dient sich der Ausführung an. Zeitsparend, und dabei hocheffizient.

Wie alles in HAUS DES GRAUENS eigentlich genau auf die Zwölf zeigt. Gut austarierte Küchenpsychologie überlässt man den Kollegen von der Arthouse-Front, hier werden die Charaktere zum Vergnügen des Zuschauers mit der groben Kelle gezeichnet, und zumindest Oliver Reed als Simon schafft es dabei trotzdem, ein feines Psychogramm eines vom Leben und seiner eigenen Habgier zerstörten Zynikers und Materialisten zu zeichnen. Janette Scott ist als Eleanor etwas blässlich, und der TV-Schauspieler Alexander Davion wirkt wie eine Mischung aus Robert Hossein und Cary Grant, gestaltet seine Rolle als Tony mit Fragezeichen aber sehr überzeugend und ist entschieden die Sympathiefigur des Films. Aber eben Oliver Reed ist es, der dem Film das Fleisch auf den Rippen gibt. Wenn er die Szenerie betritt weiß man, dass gleich Dialoge daherkommen von denen man im wahren Leben nur träumen kann, und dass die Eckpunkte Sex und Gewalt nur darauf lauern endlich von der Leine gelassen zu werden.

HAUS DES GRAUENS ist ein Prachtstück einer frühen Mixtur aus Psychothriller und Exploitation, der mit seiner direkten Art unglaublich Vergnügen macht und keinerlei Schwachpunkte bietet. Großes Kino!
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The Whiskey Bandit – Allein gegen das Gesetz (Nimród Antal, 2017) 3/10

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Attila Ambrus (Bence Szalay) ist in Ungarn eine Legende. Aufgewachsen in Armut in Rumänien machte er sich unter dem Pseudonym „Whiskey Bandit” in den 1990er-Jahren als Krimineller einen Namen. Dabei war Ambrus eigentlich ein Eishockey-Profi, der sein wahres Talent jedoch im Ausrauben von Banken entdeckte. Berühmt für seine Überfälle in Budapest wurde der Verbrecher durch seinen hohen Whiskey-Konsum, wodurch er seine Heists stets im betrunkenen Zustand vollführte. Der starke Geruch von Alkohol war dann auch die einzige Spur, die zurückblieb und somit war der „Whiskey Bandit” ein nahezu unschlagbares kriminelles Genie, welches der Polizei rund um Det. Bartos (Zoltán Schneider) immer einen Schritt voraus war und sich auch seiner Liebe Kata (Piroska Móga) beweisen wollte. (Quelle inklusive Orthografie und inhaltlichem Zusammenhang: Filmstarts.de)

Von Regisseur Nimród Antal kannte ich bislang nur den durchgeknallt-subversiven KONTROLL, seinen ersten Langfilm aus dem Jahr 2003. Und der ist sehr wohl Grund genug, sich THE WHISKEY BANDIT anzuschauen, in der Hoffnung, eine ähnlich hoch gelagerte Masse an irrwitzigen Ideen wiederzufinden. Hah, ich sehe gerade, den Metallica-Film THROUGH THE NEVER kenne ich auch, und der hatte auch einiges an guten Einfällen und überzeugender Stimmung an Bord.

THE WHISKEY BANDIT allerdings ist an fast allen Fronten eine Enttäuschung. Selbst wenn man KONTROLL und Metallica außer Act lässt, selbst dann ist der Film immer noch eine einzige Ansammlung an filmischen Stereotypen, uninspiriert und gelangweilt in Szene gesetzt und ideenlos abgespult. Einzig die beiden Verfolgungsjagden Polizei versus Bandit sind rasant und stark gefilmt – Beide orientieren sich deutlich an den Verfolgungsjagden italienischer Poliziotti, und vor allem die zweite Jagd mit den Autos ist dann eine ganz deutliche Hommage an das Fahrkönnen der italienischen Stuntmen der 70er-Jahre. Aber alles andere? Das beginnt mit der Erzählweise, dass Attila Ambrus seine (Lebens-) Geschichte als Rückblende vor dem ermittelnden Kommissar erzählt, und tatsächlich eine recht langweilige erste Stunde benötigt, um sich durch Kindheit, Jugend und Militärdienst durchzumöhren. Das, was hier passiert, hat man in anderen Filmen schon hundertmal gesehen, und THE WHISKEY BANDIT kann dem rein gar nichts Neues hinzufügen. Die große Liebe in Budapest? Deren ablehnende Eltern? Gähn. Der erste Überfall auf eine Post? Nett, war in BRONSON aber ansprechender. Was dann mit der Beute passiert? Montage und Narration lassen sich einfach gar nichts einfallen, um Schwung in die altbekannte Handlung zu bringen, und auch wenn das alles von der Kamera sehr ansprechend in Szene gesetzt wird, stellt man auf dieser Seite des Bildschirms relativ schnell fest, dass, ich erwähnte es bereits, alles aus Dutzenden ähnlicher Filme von Grund auf bekannt ist, ohne dass neue Ideen auch nur ansatzweise dazukommen.

THE WHISKEY BANDIT lohnt sich dann, wenn man mal sehen möchte, wie ein ungarischer Regisseur die Ideen gleichförmiger Hollywood-Filme in Budapest und Umgebung umsetzt, und für Poliziotto-Fans hat es auch runde fünf Minuten Highlight. Alle anderen sollten sich gut überlegen, wie sie ihre Zeit besser totschlagen könnten. Der Film ist glanzlos und unaufregend, er ist langweilig, und diese Worte sollten Warnung genug sein …
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Sisters of anarchy (Bonnie Rotten, 2014) 4/10

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Im Zuge des SONS OF ANARCHY-Hypes 2008 kam dann wohl auch irgendwann die logische Idee auf, eine ähnliche Geschichte mit einer Frauengang zu drehen. Heiße Chicks in Leder, unter dem Knackarsch eine starke Maschine, und immer bereit eine Ladung Sperma zu empfangen, so dürfte sich der Produzent das wahrscheinlich gedacht haben. Dass da im Hintergrund auch noch irgendwo eine Geschichte rund um Geschäfte mit irgendwelchen Waffenhändlern und um einen Spitzel herumdümpelt ist geschenkt, diese Szenen sind eigentlich nur dazu da, die Mädels in knappen Lederbikinis zu zeigen und den Zuschauer für die kommenden Fickszenen vorzubereiten.

Doch so ganz geht das leider nicht auf. Denn besagte Fickszenen sind bis auf eine absoluter Neuzeit-Standard und dümpeln oftmals genauso vor sich hin wie die absolut zu vernachlässigende Handlung des Nicht-Porno-Teils. One-on-one, immer sauber, immer liebevoll und niemals mit Dreck oder Gewalt verziert. Bis auf die eine Ausnahme: Wenn Bonnie Rotten als Anführerin der Schwesternschaft einen Deal mit einer anderen (männlichen) Gang aushandelt und dies mit einem restlos wilden und ausuferndem Rudelbums besiegelt, dann zeigt sich urplötzlich was möglich gewesen wäre, wenn man die gute Bonnie von der Leine gelassen hätte. Oder wenn Evil Angels die Serie produziert hätte anstelle von Digital Playground. Hier wird ohne Rücksicht auf Verluste gevögelt, werden Körpersäfte quer durch die Gegend verteilt, und wird Lust vollkommen hemmungslos ausgelebt. Aus dieser Beschreibung kann man sich dann auch vorstellen, wie die anderen Episoden so aussehen, nämlich wie das genaue Gegenteil: Mal mehr und mal weniger einfallsloses Standardgepoppe von der Stange ohne größere Emotionen oder Leidenschaften.

Schade, da hätte mehr drin sein sollen. Und trotz Bonnie Rotten und trotz der einen guten Szene ist SISTERS OF ANARCHY definitiv nichts, was man als Freund erotischer Rockerbräute wirklich benötigt, sondern läuft unter diesem Aspekt eher als Mogelpackung. Oder anders ausgedrückt: Lohnt nicht …
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The hitchhikers (Ferd Sebastian & Beverly Sebastian, 1972) 7/10

Irgendwo in den Tiefen des Internets begraben.jpg
Irgendwo in den Tiefen des Internets begraben.jpg (7.4 KiB) 97 mal betrachtet

1971. Die Hippie-Träume von Liebe und Frieden waren ausgeträumt und der Realität von aufreizenden Klamotten und krimineller Geldbeschaffung gewichen. Anstatt gleichberechtigt zu sein darf die Dame des Hauses als Stiefelknecht herhalten, und genauso ist es selbstverständlich, dass die Mädels (Mehrzahl!) abends vor dem Pascha (Einzahl!) tanzen. Benson lebt mit seinen Mädchen in einer Geisterstadt, irgendwo im Hinterland von Nordkalifornien. Die Mädchen stellen sich in Tanktop und Hot Pants an die Straße und heben den Daumen, und wenn die alten Säcke in ihren Autos halten ist Benson mit der Knarre auch schon da und nimmt mit was die Typen zu bieten haben. Und hey, wir reden hier von Beträgen wie 500 Dollar in 4 Wochen … Aber die Stimmung ist erstklassig – Man(n) ist frei, es gibt keine ernsthaften Probleme wie Regen oder Kälte, und irgendwie ist immer genügend Kohle im Haus um keinen Hunger haben zu müssen.
Irgendwann stößt Maggie zu der Truppe. Maggie wurde von ihrem bürgerlichen Freund geschwängert, woraufhin der aber nichts mehr von ihr wissen wollte, und sie in einer Kurzschlussreaktion von Zuhause abgehauen ist. Nach einer Woche auf der Straße wird ihr Geld gestohlen, und kurz darauf wird sie auch noch vergewaltigt. Als Benson sie aufliest klaut sie gerade Lebensmittel aus einem Supermarkt und stellt sich dabei ziemlich unvernünftig an. Aber ihr Knie im Schritt des Supermarktleiters, das gefällt Benson, also sammelt der coole Typ in der Jim Morrison-Lederhose mit Spiegelsonnenbrille und Cowboyhut Maggie auf und führt sie in ein Leben voller Freiheit und Abenteuer im Backwood des Marlboro-Landes ein.

THE HITCHHIKERS ist so die Sorte Film, die Quentin Tarantino mutmaßlich sehr beeindruckt haben dürfte. Die Handlung plätschert vor sich hin, der einzige(!) dramatische Höhepunkt, der Catfight im Fluss, wird nicht wirklich sinnvoll aufgelöst, und ansonsten ist alles im Flow und einfach nur groovy, Baby. Ein Film der vor sich hin mäandert und dabei das Kunststück schafft, ohne Spannungskurve oder durchgehende Handlung zu unterhalten und gleichzeitig ein leichtes Lächeln auf das Gesicht des Zuschauers zu zaubern, trotz aller Kritikpunkte die einem zum Verhalten der Protagonisten einfallen können. Ein Film wie ein Urlaub in Nordkalifornien, mit leichtbekleideten Frauen und jeder Menge Muße und Zeit. Dass Diane das Geld von Maggie geklaut hat? Wird mal kurz thematisiert, verschwindet dann aber wieder aus der Story. Der Motor des Schulbusses? Heute ist der Motorraum gähnend leer, morgen kann man mit demselben Bus nach L.A. fahren. Die Schwangerschaft von Maggie? Über den Verlust des Kindes geht sie mit einer bemerkenswerten Lässigkeit hinweg, wobei das allerdings auch daran liegen könnte, dass der Ton der gesehenen Kopie ziemlich schlecht war, und ich von den Texten kaum etwas verstanden habe.

Was schade ist, denn in den wenigen verstandenen Dialogen zieht sich die Leichtigkeit des Films noch weiter, lebt der alte Schwung des Hippie-Daseins weiter. Die Familie Sebastian (der ganze Film ist ein Familienunternehmen und wohl auch entsprechend eher aufgezogen wie ein Familienausflug denn wie ein kommerzielles Filmprojekt) hat sich gegen ausufernde Dialogszenen entschieden und erläutert Hintergründe und ganze Handlungsabläufe in flotten Szenenwechseln mit der dazugelegten Musik. Was außerordentlich gut funktioniert! Der Text des Liedes erklärt die Handlung, und der schwungvolle Country-Rock sorgt für ein angenehmes Feeling. Wie Mickey und Mallory im Heidiland.

Ich persönlich bin nicht mit allen gezeigten Dingen einverstanden, und das Schicksal des Farmers am Ende des Films stimmt mich zum Beispiel ausgesprochen traurig, aber ich bin auch ein alter spießiger Sack, und über allem Gezeigten schwebt halt einfach eine ausgesprochene Leichtigkeit des Seins. Diese spezielle Alexis Sorbas-Stimmung: Hast Du schon mal etwas so schön zusammenbrechen sehen? Diese völlige Abwendung vom Unglück, das der Materialismus so mit sich bringt, hin zu einem komplett entspannten Laissez-faire. Wer weiß was der morgige Tag bringt? Fahren wir doch mal hin und schauen …

THE HITCHHIKERS ist trotz, oder vielleicht auch gerade wegen, der Absenz von Dramaturgie oder Handlung ein kleines und feines Stückchen Lächeln im Stirnlappen des Zuschauers. Was grundlegend nichts Schlechtes ist. Was der nächste Film bringt? Sehen wir ihn uns doch einfach an …
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Piccadilly null Uhr zwölf (Rudolf Zehetgruber, 1963) 7/10

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Mike Hilton (Helmut Wildt) wird aus dem Gefängnis entlassen, diese Meldung verbreitet sich wie ein Lauffeuer in der Unterwelt, und eine Menge Leute werden nervös. Zum Beispiel der frühere Polizeiinspektor und jetzige Säufer Jack Bellamy (Hanns Lothar), der Hilton in den Knast gebracht hat, der Rechtsanwalt Sir Reginald Cunningham (Pinkas Braun), der Hilton vor Gericht nicht genügend verteidigt hat, oder der Gangsterboss Lee Costello (Karl Lieffen), welcher der eigentliche Drahtzieher jener Geschäfte war, für die Hilton acht Jahre unschuldig gesessen hat. Und alle wissen, dass Hilton nichts mehr zu verlieren hat …

1963 war bei den Wallace-Verfilmungen ein gutes Jahr. DER ZINKER, DAS INDISCHE TUCH und DER SCHWARZE ABT zogen reichlich Publikum in die Kinos. Die Konkurrenz schaute in die Röhre und hätte doch so gerne auch etwas vom Kuchen abgehabt. Und nachdem im Jahr zuvor DAS HALSTUCH im Fernsehen einen überwältigenden Erfolg hatte, warum nicht einen Durbridge-Krimi für das Kino adaptieren? So dachte man sich wohl bei der Divina-Produktion und engagierte Rudolf Zehetgruber, den Durbridge-Krimi „12 past 12“ in Filmsprache zu übersetzen. Dazu ein paar bekannte Stars: Helmut Wildt war damals gerade am Beginn seiner Karriere und machte optisch als harter Knochen auf jeden Fall einiges her, Ann Smyrner ist sehr schneckig und wirklich wunderhübsch anzusehen, und Karl Lieffen, Klaus Kinski und Pinkas Braun sind die großen Zugpferde für das Publikum.

So weit, so gut. Aber irgendwie hat der gute Rudolf Zehetgruber das Ding ziemlich an die Wand gefahren. Hatte er kurz zuvor noch die Durbridge-Verfilmung DIE NYLONSCHLINGE mit Dietmar Schönherr inszeniert und den action- und temporeichen DIE SCHWARZE KOBRA mit Adrian Hoven und ebenfalls Ann Smyrner geschrieben und gedreht, so wirkt PICCADILLY wie ein Film eines anderen, unerfahrenen Regisseurs. Die Story bietet eigentlich jede Menge Platz für Action, schöne und verruchte Frauen und zwielichtige Charaktere (der Ex-Inspektor Bellamy ist mit einer Hure liiert, die für seinen schärfsten Widersacher, den Gangster Costello, arbeitet), aber was passiert im Film: Wenig … Es wird sehr viel geredet, und die Actionszenen sind selbst für das Jahr 1963 sehr zahm gedreht. Ein Beispiel: Bellamy will einen Schläger verhören. Er steht links vom Schläger der am Boden hockt. Er meint sinngemäß „Redest Du jetzt, oder soll ich Dir Dampf machen?“, geht auf die rechte Seite des Schlägers – und der gibt auf. Dann ein kurzer Schnitt zu Hilton, wieder zu dem Schläger – und der hat urplötzlich Verletzungen im Gesicht. Entweder ist meine TV-Aufzeichnung geschnitten, oder ich habe mehrere Minuten nicht mitbekommen (was ich ehrlich gesagt für unwahrscheinlich halte). Die vorhergehende Prügelei zwischen Hilton und den 2 Hackfressen ist dabei auch noch sehr harmlos und langsam gedreht worden, von Tempo und Spannung keine Spur. Da hat Fuchsberger zeitgleich in den Wallace-Filmen schon mehr hinlangen dürfen, und das war dann auch rasanter inszeniert.

Überhaupt das Tempo: Alles geht relativ langsam vonstatten. Cunningham bekommt Besuch und legt vorher noch Unterlagen in seinen Safe. Er geht also zu seinem Safe, legt die Unterlagen hinein, macht die Tür zu, verschließt die Tür, und DANN erst betritt der Besuch sein Büro. Und genau so langsam wie sich das liest, so fühlt es sich auch an. Sprich, das Timing passt einfach nicht, und das sollte einem Zehetgruber auch zu Beginn seiner Karriere aufgefallen sein.

Die Zweithandlung um den kanadischen Erben wirkt teilweise sehr aufgesetzt, und die Lösung dieser Zweithandlung ist bereits extrem früh abzusehen. Auch hier wurde eine Menge Potential verschenkt Spannung aufzubauen, falsche Fährten zu legen und das Publikum auf eine Achterbahnfahrt zu schicken. In den Wallace-Filmen sieht man ja wie so etwas vonstatten gehen kann.

Auf der Habenseite stehen dann vernünftige schauspielerische Leistungen: Hanns Lothar spielt recht zurückhaltend und macht den Säufer damit sehr glaubhaft. Seine gedämpfte Art, verbunden mit dem ein oder anderen Gefühlsausbruch, zeigt einen ansprechenden und glaubhaften Charakter. Karl Lieffen ist fies und böse und mordet am liebsten mit einer Stahlrute. Abgesehen von seiner geckenhaften Kleidung ebenfalls ein überzeugender Auftritt. Niemand, dem man allein im Dunklen begegnen möchte. Pinkas Braun ist genial wie immer, und was mit Klaus Kinski als Albino Whitey passiert, wie er das erste Mal Ann Smyrner zu Gesicht bekommt, das ist (kinski-typisch) genial.
Dass Albert Bessler und Dieter Eppler so gnadenlos verschenkt werden, das ist allerdings schade. Gerade Epplers Figur, die offensichtlich nicht ganz sauber zu sein scheint, hätte bestimmt noch mehr Potential gehabt, das von Eppler sicher hätte gut ausgefüllt werden können. Weil sonst passen die Nebenrollen recht gut: Rudolf Fernau als Inspektor Craddock ist solide, Stanislav Ledinek als Kneipenwirt Sammy macht wie immer Laune, und einzig Ilja Richter als jugendlicher Edgar Wallace (sic!) und Kurt Fips als Bobby nerven etwas – letzterer hatte einfach das Pech die Eddi Arent-Rolle zu bekommen. Gerade habe ich gelesen, dass Kurt Fips den Elmer Fudd bei Bugs Bunny gesprochen hat. Gut, dass ich das vor dem Film nicht wusste, sonst hätte ich die ganze Zeit darauf gewartet, dass er sich umdreht und meint „Pssst, ich jage Gangster“.

Was zum letzten Punkt führt, den Texten. Der flapsige Humor, der einem hier um die Ohren gehauen wird, ist ebenfalls ein absoluter Pluspunkt.
„Ist das ihr Freund?“ „Nein, meine Hausbar“ (über den Säufer Bellamy, der immer eine Flasche Whisky in der Manteltasche hat)
„Ich weiß genau was ich will.“ „Das kann aber gefährlich werden. Solche Dinge enden meist in der Entbindungsstation.“ (bevor sie ihn endlich küssen kann)

Als Fazit bleibt, dass die Wallace-Verfilmungen der Rialto Maßstäbe gesetzt haben in Bezug auf ansprechendes Unterhaltungskino, und dass andere Produktionen der Zeit diesen Maßstab nicht unbedingt erreicht haben. PICCADILLY NULL UHR ZWÖLF ist ein netter Krimi für Zwischendurch, mit einem recht spannend umgesetzten Einbruch, ordentlichen Schauspielern, guten Texten, und einer gehörigen Portion fehlenden Gespürs für das Timing und die Figuren.

Die Zweitsichtung, einige viele Jahre später, birgt dann die Überraschung, dass der Film plötzlich um so einiges gefälliger daherkommt. Auch wenn es hier und da einen kleinen Hänger hat, und auch wenn vor allem Helmut Wildt und Hanns Lothar im Gegensatz zur Erstsichtung nicht immer ganz überzeugend sind, so gefällt das Gesamtbild mittlerweile erheblich besser. Ein schlichter und stimmungsvoller Krimi mit wenigen Überraschungen, einem ausgesprochenen Höhepunkt (der Einbruch beim Rechtsanwalt inklusive Rückzugsversuch via Baukran ist spannend und atmosphärischer Starkstrom zugleich, vor allem mit den parallelen Erzählebenen Klaus Kinski am Boden und Helmut Wildt am Baukran hängend – Der Begriff Cliffhanger bekommt hier eine ganz neue Bedeutung), und irgendwie rockt der Flick plötzlich viel mehr die Hütte als damals. Trotzdem ich in den vergangenen acht Jahren seit der Erstsichtung so viele Filme gesehen habe, trotzdem erreicht PICCADILLY NULL UHR ZEHN mittlerweile das Vergnügungszentrum. Oder vielleicht gerade deswegen? Mit dem ein oder anderen großen Wallacefilm kann der Streifen sicher immer noch nicht mithalten, aber Spaß macht er auf jeden Fall!
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Nackte Gewalt (Anthony Mann, 1953) 7/10

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Da ist also dieser Mann. Er könnte Jack heißen, oder Wallace, nennen wir ihn hier aber Howard. Howard jagt einen anderen Mann, Ben, quer durch das Land. Howard will Ben tot sehen. Warum? Wegen Geld – Howard ist Kopfgeldjäger und kann an Ben 5000 Dollar verdienen. Alles andere interessiert ihn nicht, nur das Geld, das er mit Bens Tod verdienen kann
Dann dieser andere Mann, Jesse Tate. Ein alter Digger, müde von der Erfolglosigkeit, ausgezehrt von der vergeblichen Jagd nach Gold. Für 20 Dollar ist er bereit, Howard zu helfen. Ben an den Galgen zu bringen. Für 20 Dollar. Hauptsache ein klein wenig Geld in der Hand haben.
Und Roy. Roy kommt frisch aus der Armee, und er hat nur zwei Interessen in seinem Leben: Frauen und Geld. Für einen Fick tut er absolut alles, und wenn es sein muss legt er sich sogar mit den Indianern an, Hauptsache vögeln. Roy ist unehrenhaft aus der Armee entlassen worden, und er ist laut seinen Entlassungspapieren moralisch zweifelhaft. Bei der Jagd auf Ben bietet Roy sich freiwillig und ohne Not an. Er wittert das schnelle Geld und das Abenteuer. Und als klar ist, dass Ben eine Begleiterin hat, regt sich ganz natürlich auch das Ding in seiner Hose.
Auf der anderen Seite haben wir besagten Ben, einen relativ jung wirkenden Springinsfeld, der aus fadenscheinigen Gründen gehetzt wird, und auch wenn die wahren Gründe niemals wirklich genannt werden, so spürt der Zuschauer doch, dass er der Sympathieträger dieses Films sein muss. Sein sollte. Dass seine nassforsche Art nur die Unsicherheit überdecken soll, die Unerfahrenheit und die Unreife. Was wirklich in Ben steckt? Der Zuschauer wird es erfahren, und ich darf spoilern, dass Ben den anderen Charakteren dieses Films, seinen Verfolgern, in Punkto moralischer Verkommenheit in nichts nachsteht.
Der letzte Charakter des Films ist Lina, ein junges Mädchen, das rettungslos in Ben verliebt ist, und mit ihm gemeinsam flüchtet. Eigentlich hätte es Kalifornien werden sollen, ein neues Leben, eine eigene Farm, irgend sowas. Die fremden Männer, die ihren Ben an den Galgen bringen wollen, machen Lina keine Angst, dafür ist sie zu selbstbewusst und zu stark. Aber ausgerechnet die attraktive Frau sollte vielleicht besser Angst haben vor Psychopathen wie Roy. Oder Frauenhassern wie Jesse. Oder klugen Gewalttätern wie Ben …

Anfang der 50er-Jahre hatte sich in den USA, und nicht nur dort, die Gesellschaft im Vergleich zu derjenigen 10 Jahre vorher grundlegend verändert. Die Männer waren in den Krieg gezogen, hatten dem Tod ins Auge geblickt bei dem Versprechen, die freie Welt oder Recht und Ordnung oder Ruhm und Ehre oder andere dumme Schlagworte zu verteidigen. Sie gaben ihr Leben und ihre (geistige) Gesundheit bei dem Versuch, heil durch diese Hölle zu kommen, und als sie wiederkamen zu ihren Frauen, die versprochen hatten auf sie zu warten, da waren aus diesen pflegeleichten und anschmiegsamen Schönheiten knallharte und selbstständige Arbeiterinnen geworden, die ihr Leben in die eigenen Hände nehmen konnten. Die Welt hatte nicht auf die Heimkehrer gewartet, ja sie konnte mit diesen zerstörten Gestalten, deren Erinnerungen und Erfahrungen, die sie um den Schlaf brachten, oft nicht einmal mehr etwas anfangen. Was machen solche Männer?

Howard ist genau so ein Mann. Howard zog in den Bürgerkrieg, und seine Frau versprach, auf ihn zu warten. Damit die Frau versorgt ist, überschrieb ihr Howard die Farm. Und als er aus dem Krieg zurückkam, da war die Farm verkauft, und die Frau hatte einen anderen Mann. Howard braucht jetzt das Geld, um sich seine Farm zurückzukaufen. Aber nicht nur seine Farm, sondern auch sein Leben. Das frühere Leben, seine geistige Gesundheit, seinen Frieden. Und um diesen Frieden willen bringt er anderen Männern den Tod. Aus dem Farmer Howard ist ein Krieger geworden, dessen einziges Gesetz seine Waffe und seine eigene Stärke ist. Howard ist ein bedingungsloser Einzelgänger (geworden), und in dem Augenblick, als er sich auf andere verlässt, ist er verloren. Gerät er in die Fänge der gesellschaftlichen Abhängigkeiten, mit denen er so gar nichts anfangen kann.

Irgendwann im Film sitzt Howard in einer Höhle, und draußen stehen Metallschalen in die es regnet. Jede Schale klingt anders wenn die Tropfen in sie fallen, und Lina macht Howard auf die dadurch entstehende Musik aufmerksam. Eine zarte und bis dahin kaum vorstellbare Romantik durchzieht Howard, und er taut auf und erzählt Lina von seiner Vergangenheit. Zu spät merkt er, dass Lina ihn nur von Bens Fluchtversuch ablenken will. Als Reaktion fegt er mit den Stiefeln alle diese unnützen Schalen beiseite – Der Versuch, sich das frühere Leben mit schönen Worten zurückzuholen, kann nicht funktionieren. Nur die Gewalt scheint erfolgversprechend. Die Gewalt, die er im Krieg kennengelernt hat, die seine Frau angewendet hat, und die ihn seither verfolgt …

NACKTE GEWALT ist ein hochgradig verstörender Film, der nihilistisch daherkommt und vermeintlich dem Materialismus und der Gewalt huldigt. Natürlich ist schnell klar, dass diese Weltsicht nicht funktionieren kann. Dass der Antagonist, also Ben, lange Zeit der Sympathieträger ist, das ist schon sehr bemerkenswert und zeichnet somit das Bild einer Welt, die sich von dem Abgrund, in den sie im Krieg geblickt hat, niemals wirklich fortbewegt hat. Nimm Deine Waffe und setze Deine Weltsicht durch, koste was wolle, so lebte es die führende Nation des Westens im Jahr 1953 vor, und so scheinen es die Hauptdarsteller nachzuahmen. Howard, der sich seine glückliche Vergangenheit zurückkaufen will. Jesse, der für Geld alles macht und keinerlei Rücksichten auf andere nimmt, ja seine Gefährten sogar verrät, obwohl ihm klar sein muss, dass die Versprechungen vom Goldfund nur eitel Tand sind. Und natürlich Roy. Roy, der eine Indianerin vergewaltigt hat, und von deren Stamm seitdem gejagt wird. Als sich die Möglichkeit bietet ist Roy sogar bereit, seine Gefährten zu opfern, nur um vor den Indianern sicher zu sein: In dem Augenblick, in dem Howard mit dem Stamm verhandeln will, erschießt Roy den Häuptling aus dem Hinterhalt und provoziert so ein Massaker. Tote Indianer? Dahingemetzelte Pferde? Dass die kleine Gruppe auch hilflos hätte abgeschlachtet werden können? Alles gleich, Hauptsache das eigene Leben ist gerettet. Howard wird während des Kampfes schwer verletzt, aber Roy ficht das nicht an, und Howard tatsächlich noch viel weniger. Ben muss an den Galgen, alles andere zählt nicht. Zwecknihilismus, gibt es sowas? Anscheinend schon …

James Stewart ist hier auf der Höhe seiner Schauspielkunst. Kein Mr. Smith mehr der nach Washington geht, kein George Bailey, der seine kleine Welt vor dem Untergang bewahrt. Stattdessen ein misanthropischer und gewalttätiger Rabauke, der einen alten Mann am Lagerfeuer zuerst einmal auf Waffen untersucht, selbstverständlich mit gezücktem Colt, ohne groß weitere Erklärungen zu liefern. Der andere Mann könnte ja immer und überhaupt ein Mörder sein, und er, Howard Kemp, ist das Opfer. Seine eigenen Kriegserfahrungen kann James Stewart hier voll ausspielen – Die Gemeinschaft aus Männern, die zwar aufeinander angewiesen ist um zu überleben, sich aber niemals gegenseitig wirklich vertrauen kann, weswegen nur der Einzelne allein überlebensfähig ist, solange er stark und arrogant genug ist. Mehrere solcher Typen in einer Gruppe, denn Roy ist da nicht anders, von Ben ganz zu schweigen, führen zwangsläufig in einen Zweikampf, und auch wenn dieser hier nur angedeutet wird, so sind die Spannungen zwischen Howard und Roy einerseits, und Howard und dem Rest der Welt anderseits, geradezu mit Händen zu greifen, und permanent am Schwelen. Die völlig aufgesetzte (und überflüssige) Liebesgeschichte zwischen Howard und Lina, die zu einem abrupten und unglaubwürdigen Schluss führt, wirkt wie ein Fremdkörper und hat eigentlich nur den Zweck, die Situation zwischen Howard und Roy auf die Spitze zu treiben. Und natürlich das Kinopublikum des Jahres 1953 nicht völlig zu verschrecken. Ohne diesen Schluss möchte ich mich sogar zu der Aussage versteigen, dass wir hier einen frühen Archetypen eines Italo-Western sehen können: Der harte und einsame Loner in einem erbarmungslosen Kampf um einen Batzen Geld. Der Weg bis zu DJANGO ist von hier aus tatsächlich nicht mehr weit …
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Other men’s women (William Wellman, 1931) 7/10

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Bill White nimmt das Leben leicht. Seit 20 Jahren ist er Lokführer, und wenn sein Zug an dieser bestimmten kleinen Station vorbeifährt springt er raus, gibt sich ein Rührei, flirtet auf Teufel komm raus mit der süßen Bedienung, zählt nebenbei noch die vorbeifahrenden Waggons, zahlt, und springt rechtzeitig wieder auf den letzten Wagen um dann über die Dächer zu seiner Lok zu laufen. Sein bester Freund ist Jack, mit dem er seit 20 Jahren im Führerstand ein erstklassiges Team bildet. Die beiden sind so gute Freunde, dass Bill, als er im Vollsuff aus seinem möblierten Zimmer fliegt, problemlos bei Jack unterkommt und dort auch bleiben kann. Bill lacht viel, Bill singt, Bill pfeift sich eines, und eigentlich besteht sein Leben aus Spaß bei der Arbeit, Saufen und Weibern. Bis zu diesem Tag, denn an diesem Tag küsst er Lily, die Frau von Jack. Bill verliebt sich in Lily. Und Lily verliebt sich in Bill. Es ist vorbei mit dem Spaß und mit den Weibern, denn da ist diese unausgesprochene Beziehung, die zwar nie über einen einzigen Kuss hinausgekommen ist, die aber dieses Freundesdreieck böse belastet. So böse, dass Jack, der kein Dummkopf ist, merkt dass da etwas war, und Bill böse Vorwürfe macht, dass dieser mit seiner Frau rumgemacht hat. Der Vorwurf lautet Sex, und Bill wehrt sich dagegen. Es kommt zu einer Schlägerei, und das Resultat ist ein zerstörter Güterzug und ein schwer verletzter Jack – Jack erblindet bei der Prügelei, und er wird bis zu seinem Tod auch blind bleiben. Jetzt ist er auf die Hilfe derjenigen Frau angewiesen, von der er meint, dass sie ihm untreu war …

Es ist unglaublich und faszinierend, wie Regisseur William Wellman den Ton des Filmes innerhalb von Sekunden umdreht, wie aus einer leichtfüßigen und ausgesprochen frivolen Pre Code-Komödie, die Sex andeutet und Alkohol zeigt, ein düsteres Drama wird, dass dann diese Schwermut auch bis zum Ende problemlos durchhält. Bill wird durch diesen Kuss ein anderer Mensch – Er findet keinen Spaß mehr am Leben, und selbst Marie, die Bedienung aus der Lokführerkneipe, die Bill so gerne heiraten möchte, kann nicht mal mehr ansatzweise zu ihm durchdringen. Fast hätte sie ihn in seiner Lethargie so weit gebracht, dass er sie heiratet, aber im letzten Augenblick erkennt sie, dass sie für ihn nie etwas anderes wäre als ein Spielzeug. Ein Püppchen zum Flirten und schnell wieder vergessen. Bill lebt ab diesem Kuss in einer privaten Hölle, und Wellmann findet mit dem Unwetter, welches das letzte Drittel des Films in Wort und Bild beherrscht, auch die adäquaten Bilder. Bilder, die dem sonnigen und heiteren Familienleben diametral entgegenstehen, und die dadurch ausgesprochen realistisch wirken. Gerade weil Wellmann eine Geschichte erzählt, die trotz ihrer dramaturgischen Überhöhung so lebensnah ist – Von der himmelhochjauchzenden Glückseligkeit bis zur tiefsten Verzweiflung sind es halt meistens nur ein paar wenige Schritte, und Bill muss dies schmerzhaft am eigenen Leib erfahren.

Gleichzeitig zeigt uns Wellman das Leben der einfachen Leute, der Lokomotivführer und ihrer Frauen. Ein Leben voller Lebensfreude („Möchtet Du Dein Rührei zwischen zwei Brötchenhälften?“ „Zwischen zwei Brötchenhälften? Nein, das hatte ich erst letzte Nacht.“), wo gerne mal zu viel getrunken wird, und Nachbarschaftshilfe und Freundschaft keine leeren Floskeln sind. Gerade die Komponenten Sex und Alkohol, 1930 hatten die USA immerhin noch die Prohibition, werden hier mit einer Freimütigkeit behandelt, die nur ein Pre-Code-Film so darstellen konnte. Was dem Drama ausgesprochen gut tut, denn gerade dadurch bekommt die Geschichte diesen Dreh zum wirklichen Leben, werden die Figuren zu Personen aus Fleisch und Blut. Und bekommt der Film einen Drive, der ihn in seinem Schwung und seiner Hemdsärmeligkeit geradezu modern macht. OTHER MEN‘S WOMEN könnte auch ein Film mit und von George Clooney sein, und es macht unglaublich Spaß zu sehen, dass auch bereits 1931 Leichtigkeit und Schwere sich nicht zwingend ausschließen mussten. Für alle, die auf gut erzählte Geschichten stehen, ist OTHER MEN‘S WOMEN ein einziges Freudenfest! Und für alle filmhistorisch aufgeschlossenen ebenfalls. Und sei es nur wegen der formidablen Tanzszene James Cagneys …
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
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