Außer Atem - Jean-Luc Godard (1960)

Moderator: jogiwan

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Außer Atem - Jean-Luc Godard (1960)

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Originaltitel: À bout de souffle

Herstellungsland: Frankreich / 1960

Regie: Jean-Luc Godard

Darsteller: Jean-Paul Belmondo, Jean Seberg, Daniel Boulanger, Jean-Pierre Melville, Henri-Jacques Huet, Van Doude, Claude Mansard, Jean-Luc Godard, Richard Balducci, Roger Hanin, Jean-Louis Richard, Liliane David u. A.
Michel Poiccard - ein Gauner, Rebell, Draufgänger auf der Jagd nach seinem Vergnügen. In einer gestohlenen Luxulimousine ist der auf dem Weg nach Paris. Doch er gerät in eine Geschwindigkeitskontrolle. Ein Polizist stellt ihn - und wird vom Michel kaltblütig erschossen. Auf der Flucht vor dem Gesetz taucht er bei Patricia, einer Zeitungsverkäuferin, die Journalistin werden will, unter. Er versucht Geld für die gemeinsame Flucht nach Italien zu beschaffen. Aber der Kreis der Polizei wird immer enger. Patricia wird verhört. Und sie muss sich entscheiden: Karriere oder Liebhaber?
Quelle: www.ofdb.de
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Re: Außer Atem - Jean-Luc Godard (1960)

Beitrag von buxtebrawler »

„Franzosen sind Hosenscheißer!“

Das Langfilmdebüt des französischen Regisseurs Jean-Luc Godard, das komplett in Schwarzweiß gedrehte Kriminal-/Liebesdrama „Außer Atem“ aus dem Jahre 1960, zählt zu einem der bedeutendsten Werke der Nouvelle Vague und bedient sich eines eigenwilligen Stils. Das von Godard bearbeitete Drehbuch stammt von François Truffaut. Die folgenden Zeilen enthalten massive Spoiler:

Michel Poiccard heißt eigentlich Laszlo Kovacs (Jean-Paul Belmondo, „Angst über der Stadt“) und schlägt sich als Kleinkrimineller und Draufgänger durchs Leben. Doch als er mit einem gestohlenen Fahrzeug auf dem Weg nach Paris ist, gerät er in eine Polizeikontrolle und erschießt einen Polizisten. In Paris kommt er bei der US-amerikanischen Studentin Patricia (Jean Seberg, „Das Attentat“) unter, die er aus Südfrankreich kennt, und verliebt sich in sie. Sie beginnen eine Liebelei, doch ist sie sich ihrer Gefühle nicht sicher. Als der Arm des Gesetzes schließlich nach Michel greift, verrät sie ihn an die Polizei…

„Das Angenehme ist nicht das Einschlafen, sondern das Aufwachen neben einem Mädchen!“

Wer anhand der Inhaltsbeschreibung zu glauben geneigt ist, es handele sich um eine Romantikschmonzette voll tiefer zarter Gefühle mit tränentreibendem tragischem Ausgang, liegt falsch. Vielmehr handelt es sich um eine französische Interpretation klassischen Bogart-Film-noir respektive eine Ehrerbietung an denselben. Poiccards großes Idol scheint Humphrey Bogart als verwegener, draufgängerischer Macho zu sein, den er in Kleidung und Verhalten zu imitieren versucht. Vor einem Plakat Bogarts streicht er sich über die Lippen, er hält sich für einen Frauenhelden, raucht Kette und nimmt in seinem Narzissmus das Leben nicht sonderlich ernst bzw. scheint den Sinn für die Realität verloren zu haben. In der Tat gerät auch er an einen Typus der Femme fatale, ein gängiges Motiv des pessimistischen Film noir. Die kurzhaarige Schönheit Patricia verdreht ihm den Kopf und verkörpert einen für das Entstehungsjahr ungewöhnlichen, selbstbewussten und eigensinnigen Frauentyp. Sie möchte ihr Studium abschließen, jobbt nebenher als Zeitungsverkäuferin, strebt offenbar Unabhängigkeit an. Sie lässt sich gern von Michel lieben, hat jedoch ganz andere Pläne als an dessen Seite nach Italien zu fliehen.

„Ich will nicht in dich verliebt sein, Michel!“

Michel wiederum scheint so von sich eingenommen, dass er gar nicht recht auf die Idee kommt, dass sie nicht in ihn verliebt sein könnte, ihn vielleicht gar für das halten könnte, was er eigentlich ist: ein Verlierer. Um sich zu beweisen, dass sie ihn nicht liebt, verrät sie ihn schließlich an die Polizei. Ob sie es für das Beste für ihn hielt, ob sie damit auch ihr Gewissen erleichtern wollte, sie sich verpflichtet fühlte, den Polizistenmörder zu verraten, sie mit seiner Tat haderte – darüber verrät uns Godard nichts, vielmehr scheint er als naheliegendsten Beweggrund einen ebenfalls recht ausgeprägten Egoismus der jungen Dame anzubieten. Doch Patricias Entscheidung selbst fällt wesentlich nachvollziehbarer aus, als Michels Reaktion auf die bevorstehende Verhaftung: Er greift zum Revolver und lässt sich erschießen, schleppt sich die Straße hinunter und spricht während seiner letzten Begegnung mit seiner Angebeteten im Sterben jene berüchtigten Worte: „Du bist wirklich zum Kotzen!“ Weshalb er so reagierte, bleibt ebenfalls offen; möglich wäre, dass er aus einer Art Liebeskummer heraus eine Todessehnsucht entwickelte.

Godard lässt Michel einerseits erst Selbstgespräche führen und dann direkt zum Zuschauer sprechen, was die Illusion einer filmischen Realität empfindlich stört, um andererseits einen peinlich genauen Realismus verfolgen, der auf sämtliche Studiokulissen verzichtet, ausschließlich Originalschauplätze aufsucht und natürliches Licht verwendet. Dass sein sehr dialogreicher Film ursprünglich zweieinhalb Stunden lang geriet, zwang ihn zu radikalen Schnittmaßnahmen, die er nicht zu vertuschen versuchte: Sichtbar für jeden Zuschauer finden nicht nur innerhalb einzelner Szenen, sondern gar innerhalb einzelner Dialoge sog. Jump Cuts statt, die hier aus der Not heraus geboren später zu häufig und gern bewusst eingesetzten Stilmitteln avancierten. Klassisches Hollywood-Erzählkino jedenfalls sollte „Außer Atem“ keinesfalls werden und so wird dem Zuschauer auch keinerlei wirkliche Identifikationsfigur angeboten. Statt eines tragischen, bemitleidenswerten Helden präsentiert man in Michel eine betont schnoddrige Hauptrolle, die sexistische Sprüche von sich gibt, sich wie die Axt im Walde aufführt, stiehlt, lügt und betrügt, in Nackt-Zeitschriften blättert etc. Auch die Liebesszenen fallen fast bar jeder Erotik aus und bieten stattdessen (pseudo-)philosophische Dialoge. Der Schnitt indes verhindert jegliche Sperrig- und Langatmigkeit und versieht den Film in Kombination mit dem beschwingten Jazz-Soundtrack mit einer gewissen Spritzigkeit. Auch schauspielerisch ist „Außer Atem“ bestimmt von Leichtigkeit; die großen Gesten lässt Belmondo seinen Michel suchen, aber nicht finden.

All das macht Godards Debüt zu einem Film der Gegensätze, der mehr eine Demonstration originellen Filmemachens denn ein auf eine Aussage oder emotionale Wirkung hin zugeschnittenes Melodram geworden ist – wenngleich die viel- und auch von mir gespoilerte Pointe sicherlich überraschend wäre, würde sie nicht fast jeder Auseinandersetzung mit dem Film vorangestellt werden. Ein zeitgenössisches Publikum jedoch dürfte sich etwas schwer damit tun, ohne Weiteres zu erkennen, was 1960 an diesem Werk als revolutionär galt und evtl. Schwierigkeiten bekommen, es hinsichtlich seiner filmhistorischen Relevanz einzuordnen.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Salvatore Baccaro
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Re: Außer Atem - Jean-Luc Godard (1960)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Wow! Ausgezeichnet! :thup:
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Re: Außer Atem - Jean-Luc Godard (1960)

Beitrag von buxtebrawler »

Salvatore Baccaro hat geschrieben:Wow! Ausgezeichnet! :thup:
Danke! :oops:
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Re: Außer Atem - Jean-Luc Godard (1960)

Beitrag von buxtebrawler »

Erscheint voraussichtlich am 03.12.2015 innerhalb der "Rolling Stone Videothek" bei Arthaus noch einmal auf DVD im Digipak:

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Re: Außer Atem - Jean-Luc Godard (1960)

Beitrag von buxtebrawler »

Erscheint voraussichtlich am 05.11.2020 bei Arthouse auf Ultra-HD-Blu-ray als "Limited Vinyl Edition" und auch noch einmal auf Blu-ray und DVD:

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Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Re: Außer Atem - Jean-Luc Godard (1960)

Beitrag von buxtebrawler »

Exklusiv im Koch-Films-Online-Shop ist nun die "Jean-Paul Belmondo Collection"-16-Blu-ray- und -16-DVD-Box erhältlich:

BelmondoCollection_BluRay_Slipcase.jpg
BelmondoCollection_BluRay_Slipcase.jpg (50.36 KiB) 409 mal betrachtet
BelmondoCollection_DVD_Slipcase.jpg
BelmondoCollection_DVD_Slipcase.jpg (55.84 KiB) 409 mal betrachtet

Enthält:
Außer Atem
Eva und der Priester
Cartouche
Ein Affe im Winter
Der Teufel mit der weißen Weste
Elf Uhr nachts
Der Dieb von Paris
Musketiere mit Hieb und Stich
Angst über der Stadt
Der Körper meines Feindes
Ein irrer Typ
Der Windhund
Der Puppenspieler
Der Profi
Fröhliche Ostern
Der Boss

Extras & Besonderheiten Blu-ray-Box:
Originaltrailer Der Puppenspieler
Originaltrailer Der Windhund
Interview mit Regisseur Georges Lautner (Der Windhund)
Originaltrailer Ein irrer Typ
Originaltrailer Musketier mit Hieb und Stich
Dokumentation "Immer noch nicht .. Außer Atem" (ca. 30 Min.)
Trailer Außer Atem
Featurette "Einführung von Colin McCabe (Autor und Professor für Film u.a. BFI, University of Pittsburgh) zu Außer Atem"
Dokumentation "Zimmer 12: Hotel de Suede" (ca. 79 Min.)
TV Sendung "TEMPO - Godard" (Jean-Luc Godard im Gespräch mit Mike Hodges , ca. 17 Min.)
Interview mit Jefferson Hack (Herausgeber Dazed & Confused) über seine Beziehung zum Film Außer Atem
Masterclass mit Philippe Labro und Rémy Grumbach zu "Eva und der Priester"
Audiokommentar von Claude Carliez zu "Cartouche, der Bandit" (französischer Waffenmeister und Stuntkoordinator)
Die Geburtsstunde des Mellville'schen Kriminalfilms (ca. 31- mit Uts) zu "Der Teufel mit der weißen Weste"
Präsentation von Godard-Experte Colin MacCabe zu "Elf Uhr nachts"
Featurette "Godard, Liebe und Poesie"
Filmanalyse (AK) von Schriftsteller Jean-Bernard Pouy zu "Elf Uhr nachts" Audiokommentar
Trailer Der Dieb von Paris
Trailer Der Körper meines Feindes
Trailer Der Profi

Quelle: https://shop.plaionpictures.com/de/arth ... -exkl-shop

Extras & Besonderheiten DVD-Box:
Featurette Einführung von Colin McCabe (mit UTs)
Dokumentation: Immer noch nicht .. Außer Atem
Trailer Außer Atem
Featurette Masterclass mit Philippe Labro und Rémy Grumbach
Featurette Das Abenteuer mit dem großen "C"
Audiokommentar von Claude Carliez: französischer Waffenmeister und Stuntkoordinator
Die Geburtsstunde des Mellville'schen Kriminalfilms (31:25 - mit UTs)
Audiokommentar mit Jean-Bernard Pouy (mit UTs)
Filmplakate Elf Uhr Nachts
Trailer Elf Uhr nachts (FR)
deutscher TV-Trailer Elf Uhr nachts
Trailer Der Dieb von Paris
Trailer Angst über der Stadt
Trailer Der Körper meines Feindes
Trailer Der Profi
Originaltrailer Der Puppenspieler
Trailer Musketier mit Hieb und Stich
Interview mit Georges Lautner
Originaltrailer Der Windhund

Quelle: https://shop.plaionpictures.com/de/arth ... -exkl-shop
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Maulwurf
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Registriert: Mo 12. Okt 2020, 18:11
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Re: Außer Atem - Jean-Luc Godard (1960)

Beitrag von Maulwurf »

 
Außer Atem
À bout de souffle
Frankreich 1960
Regie: Jean-Luc Godard
Jean Seberg, Jean-Paul Belmondo, Daniel Boulanger, Henri-Jacques Huet, Roger Hanin, Van Doude, Claude Mansard, Liliane Dreyfus, Philippe de Broca, Jean-Pierre Melville, Jean-Luc Godard, Richard Balducci, André S. Labarthe, François Moreuil, Liliane Robin, Michel Fabre, Gérard Brach


Außer Atem.jpg
Außer Atem.jpg (68.67 KiB) 79 mal betrachtet
OFDB

Es gibt da diesen Kanon mit Filmen, die man unbedingt mal gesehen haben sollte, sonst würde einem angeblich im Leben was fehlen. Und damit meine ich nicht nur Kindereien wie „100 Filme die man gesehen haben muss“, sondern ich meine vielmehr den Kanon der arrivierten Kritik. Diejenigen Filme, auf die sich allerlei hochtrabende Kritiker geeinigt haben, dass das alles ganz toll ist. Filme wie, sagen wir, 2001 – ODYSSEE IM WELTRAUM, oder wie SCHINDLERS LISTE, oder wie HARRY UND SALLY. Nein, BRAINDEAD gehört aus unerfindlichen Gründen nicht dazu. Aber AUSSER ATEM.

AUSSER ATEM wird allenthalben als Kultkino gefeiert. Der große Durchbruch des jungen Jean-Paul Belmondo, der erste Langfilm eines bis dahin unbekannten Regisseurs namens Jean-Luc Godard, die wunderbare und ausdrucksstarke Jean Seberg … Und überhaupt, dieser Geist, dieser Esprit, was für ein gelungener Duktus, eine Revolution des Films, ein stilistisches Meisterwerk der Schauspielkunst … Und so weiter und so fort. Ein Klassiker eben. Etwas, wo das Prädikat Kult dran geklebt wird, und alle schreien laut Hurra …

Nein, schlecht ist AUSSER ATEM nicht. Überhaupt nicht, AUSSER ATEM ist definitiv ein guter Film, aber überrollt hat er zumindest mich nur in den wenigsten Momenten. Zwar kann ich in jeder Minute nachvollziehen, was die schöne und lebenslustige Studentin Patricia (Seberg) an dem Hallodri Michel (Belmondo) findet, aber dafür fällt mir die Identifikation mit ebendiesem Michel sehr schwer. Bin ich mittlerweile zu alt, um mich in einen immer unter Strom stehenden Kleinkriminellen zu versetzen? Habe ich die ewigen Fluchtgedanken und „Ich muss mal telefonieren“-Geschichten hinter mir gelassen, und brauche so etwas einfach nicht mehr? Diese ganze ausgesprochen aufgesetzte Coolness, diese Morgen gehört mir die ganze Welt-Attitüde? Wobei ich zugeben muss, dass die Ähnlichkeiten zwischen Michel und einem dieser sogenannten Influencer von heute auffällig sind – Das ständige Sich-interessant-machen, die Sucht nach Aufmerksamkeit …

Mir haben die Bilder des sommerlichen Paris des Jahres 1959 gefallen. Im Cabrio durch die Stadt cruisen, die Sonne genießen, in einem Bistro einen Café trinken, mit Jean Seberg über die Champs-Élysée schlendern, in einem kleinen Hotel (das ich mir gerne am linken Seineufer vorstelle) die Nachmittage im Bett verbringen, und abends zum Montparnasse. Ja, das sind die Träume die mich begleiten, wenn ich diesen Film anschaue. Die Charaktere im Vordergrund sind da fast störendes Beiwerk, so könnte man meinen - Die Figuren dienen doch eigentlich nur dazu, die Stadtbesichtigung zu starten und einen Grund für den Film zu erzeugen.

Sicher, das ist übertrieben, aber wie gesagt hat mich der Film eigentlich nicht so wirklich abgeholt. Ich akzeptiere jederzeit, dass AUSSER ATEM 1960 den Nerv einer Generation getroffen hat. Das Nervöse, der Jazz, das in den Tag hineinleben, die Ablehnung des Bürgertums und der überkommenen Vorstellungen in Verbindung mit der Orientierungslosigkeit, das bringt Godard hier perfekt auf den Punkt, und er malt mit ganz einfachen und doch genialen Strichen das Bild einer Generation, die im relativen Wohlstand und in der Sicherheit groß geworden ist, und nun neben den materiellen Luxus, der längst als selbstverständlich erachtet wird, gerne noch ein großes Stück persönliche Freiheit packen möchte. Die Grundlagen derjenigen darauffolgenden Generation, die dann als „die 68-er“ berühmt-berüchtigt wurden und überall in der Welt versuchte, diese besagte Freiheit zu einem Grundprinzip zu machen. Auch, und dies ist hier bereits Programm, die Freiheit, einen Film so zu gestalten wie es dem Regisseur passt, und nicht dem Produzenten. Da spricht Belmondo mit dem Zuschauer, da gibt es eine Menge kleiner Schnitte, Jump Cuts, die die fließende Bewegung eines Darstellers in viele kleine Einzelschritte aufteilt – Spaß am Film, Spaß am Sein, Ausleben der (künstlerischen) Freiheit.

Und für genau diese Dinge legte AUSSER ATEM die Grundlagen. Hier steht die Lust an der eigenen Unabhängigkeit im Vordergrund, die Lust auf Leben, die Verweigerung der bürgerlichen Vorgaben, und ganz allgemein die Möglichkeit, sich sein eigenes Leben zu erschaffen, ohne dabei Rücksicht auf Konventionen nehmen zu müssen. Wir wissen nicht was wir wollen, aber das mit ganzer Kraft. Und da wir in den 20er-Jahren des 21. Jahrhunderts mittlerweile sehen können, wohin dieser ungebremste und energisch vorangetriebene Um-jeden-Preis-Individualismus führt, möchte ich dem Film konstatieren, dass er, bei aller cineastischen Genialität, narrativ tatsächlich ein klein wenig gealtert ist.

7/10
Der Sieg des Kapitalismus ist die endgültige Niederlage des Lebens.
(Bert Rebhandl)
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