Außer Atem
À bout de souffle
Frankreich 1960
Regie: Jean-Luc Godard
Jean Seberg, Jean-Paul Belmondo, Daniel Boulanger, Henri-Jacques Huet, Roger Hanin, Van Doude, Claude Mansard, Liliane Dreyfus, Philippe de Broca, Jean-Pierre Melville, Jean-Luc Godard, Richard Balducci, André S. Labarthe, François Moreuil, Liliane Robin, Michel Fabre, Gérard Brach

- Außer Atem.jpg (68.67 KiB) 79 mal betrachtet
OFDB
Es gibt da diesen Kanon mit Filmen, die man unbedingt mal gesehen haben sollte, sonst würde einem angeblich im Leben was fehlen. Und damit meine ich nicht nur Kindereien wie „100 Filme die man gesehen haben muss“, sondern ich meine vielmehr den Kanon der arrivierten Kritik. Diejenigen Filme, auf die sich allerlei hochtrabende Kritiker geeinigt haben, dass das alles ganz toll ist. Filme wie, sagen wir, 2001 – ODYSSEE IM WELTRAUM, oder wie SCHINDLERS LISTE, oder wie HARRY UND SALLY. Nein, BRAINDEAD gehört aus unerfindlichen Gründen nicht dazu. Aber AUSSER ATEM.
AUSSER ATEM wird allenthalben als Kultkino gefeiert. Der große Durchbruch des jungen Jean-Paul Belmondo, der erste Langfilm eines bis dahin unbekannten Regisseurs namens Jean-Luc Godard, die wunderbare und ausdrucksstarke Jean Seberg … Und überhaupt, dieser Geist, dieser Esprit, was für ein gelungener Duktus, eine Revolution des Films, ein stilistisches Meisterwerk der Schauspielkunst … Und so weiter und so fort. Ein Klassiker eben. Etwas, wo das Prädikat
Kult dran geklebt wird, und alle schreien laut Hurra …
Nein, schlecht ist AUSSER ATEM nicht. Überhaupt nicht, AUSSER ATEM ist definitiv ein guter Film, aber überrollt hat er zumindest mich nur in den wenigsten Momenten. Zwar kann ich in jeder Minute nachvollziehen, was die schöne und lebenslustige Studentin Patricia (Seberg) an dem Hallodri Michel (Belmondo) findet, aber dafür fällt mir die Identifikation mit ebendiesem Michel sehr schwer. Bin ich mittlerweile zu alt, um mich in einen immer unter Strom stehenden Kleinkriminellen zu versetzen? Habe ich die ewigen Fluchtgedanken und „Ich muss mal telefonieren“-Geschichten hinter mir gelassen, und brauche so etwas einfach nicht mehr? Diese ganze ausgesprochen aufgesetzte Coolness, diese
Morgen gehört mir die ganze Welt-Attitüde? Wobei ich zugeben muss, dass die Ähnlichkeiten zwischen Michel und einem dieser sogenannten Influencer von heute auffällig sind – Das ständige Sich-interessant-machen, die Sucht nach Aufmerksamkeit …
Mir haben die Bilder des sommerlichen Paris des Jahres 1959 gefallen. Im Cabrio durch die Stadt cruisen, die Sonne genießen, in einem Bistro einen Café trinken, mit Jean Seberg über die Champs-Élysée schlendern, in einem kleinen Hotel (das ich mir gerne am linken Seineufer vorstelle) die Nachmittage im Bett verbringen, und abends zum Montparnasse. Ja, das sind die Träume die mich begleiten, wenn ich diesen Film anschaue. Die Charaktere im Vordergrund sind da fast störendes Beiwerk, so könnte man meinen - Die Figuren dienen doch eigentlich nur dazu, die Stadtbesichtigung zu starten und einen Grund für den Film zu erzeugen.
Sicher, das ist übertrieben, aber wie gesagt hat mich der Film eigentlich nicht so wirklich abgeholt. Ich akzeptiere jederzeit, dass AUSSER ATEM 1960 den Nerv einer Generation getroffen hat. Das Nervöse, der Jazz, das in den Tag hineinleben, die Ablehnung des Bürgertums und der überkommenen Vorstellungen in Verbindung mit der Orientierungslosigkeit, das bringt Godard hier perfekt auf den Punkt, und er malt mit ganz einfachen und doch genialen Strichen das Bild einer Generation, die im relativen Wohlstand und in der Sicherheit groß geworden ist, und nun neben den materiellen Luxus, der längst als selbstverständlich erachtet wird, gerne noch ein großes Stück persönliche Freiheit packen möchte. Die Grundlagen derjenigen darauffolgenden Generation, die dann als „die 68-er“ berühmt-berüchtigt wurden und überall in der Welt versuchte, diese besagte Freiheit zu einem Grundprinzip zu machen. Auch, und dies ist hier bereits Programm, die Freiheit, einen Film so zu gestalten wie es dem Regisseur passt, und nicht dem Produzenten. Da spricht Belmondo mit dem Zuschauer, da gibt es eine Menge kleiner Schnitte, Jump Cuts, die die fließende Bewegung eines Darstellers in viele kleine Einzelschritte aufteilt – Spaß am Film, Spaß am Sein, Ausleben der (künstlerischen) Freiheit.
Und für genau diese Dinge legte AUSSER ATEM die Grundlagen. Hier steht die Lust an der eigenen Unabhängigkeit im Vordergrund, die Lust auf Leben, die Verweigerung der bürgerlichen Vorgaben, und ganz allgemein die Möglichkeit, sich sein eigenes Leben zu erschaffen, ohne dabei Rücksicht auf Konventionen nehmen zu müssen.
Wir wissen nicht was wir wollen, aber das mit ganzer Kraft. Und da wir in den 20er-Jahren des 21. Jahrhunderts mittlerweile sehen können, wohin dieser ungebremste und energisch vorangetriebene Um-jeden-Preis-Individualismus führt, möchte ich dem Film konstatieren, dass er, bei aller cineastischen Genialität, narrativ tatsächlich ein klein wenig gealtert ist.
7/10
Der Sieg des Kapitalismus ist die endgültige Niederlage des Lebens.
(Bert Rebhandl)