Der folgende Text ist eigentlich Bestandteil des Programmheftes zum 2. Giallo-Festival, Il Ritorno del Mostro di Norimberga, im Oktober 2023 in Nürnberg gewesen. Um die Chronologie des Filmtagebuchs zu wahren möchte ich ihn hier ablegen, auf dass er nicht völlig in Vergessenheit gerät ...
Der Schwanz des Skorpions
La coda dello scorpione
Italien / Spanien 1971
Regie: Sergio Martino
George Hilton, Anita Strindberg, Alberto de Mendoza, Evelyn Stewart, Janine Reynaud, Luigi Pistilli, Tom Felleghy, Luis Barboo, Lisa Leonardi, Tomás Picó, Franco Caracciolo, Fulvio Mingozzi

- Der Schwanz des Skorpions.jpg (80.97 KiB) 38 mal betrachtet
OFDB
Italo-Cinema.de (Thorsten Strahmann)
Als viele heutige Fans des italienischen Genrefilms ihre Leidenschaft begannen, war die Verfügbarkeit der begehrten Filme noch nicht so inflationär wie heute. In den 90er- und 00er-Jahren gab es die Zeitschrift Splatting Image, mit der viele heutige Genrefans sozialisiert wurden, ein Quell steter Freude und Frustration zugleich – Tolle Besprechungen toller Filme, doch wo könnte man so etwas sehen? Irgendwann später konnte man sich dann in den entsprechenden Foren im Internet ganz einfach Informationen über Filme holen, von denen man zu der Zeit sicher war, diese im Leben niemals sehen zu können. Aber ein paar Filme waren halt irgendwie „schon immer“ erhältlich, und DER SCHWANZ DES SKORPIONS ist einer davon. Ein Film, der im Laufe der Jahre so oft in den VHS-, DVD- oder BD-Player gewandert ist, dass die Sichtung als Vorbereitung für das Giallo-Festival fast ein wenig wie ein Nachhausekommen war. Wie ein Familientreffen mit Anita, George, Alberto, Ida und natürlich dem Sergio.
Familie also. Und weil der Film in London, Athen und der Ägäis spielt, ergibt sich daraus quasi so etwas wie eine Urlaubsreise mit der Familie. Entsprechend schauen wir Tante Ida zu, wie sie sich mit fremden Männern zwischen Laken wälzt, während draußen in der bösen Welt schlimme Menschen ihrem Mann schreckliche Dinge antun. Ihn umzubringen, zum Beispiel. Weswegen der Fulvio eigentlich gar nicht so richtig anwesend ist. Ob der wohl Gage für seine Nicht-Anwesenheit bekommen hat?
Auf jeden Fall lernen wir so auch schnell den Luis kennen – Jede Familie hat schließlich einen, auf den sie nicht stolz ist, und den sie gerne verstecken möchte. Auch Ida hat so ihre Probleme mit Luis, weswegen sie sich rasch von London nach Athen absetzt. Wo sie Cousin George kennenlernt, von der Erscheinung her eher der Playboy der Familie. George arbeitet bei einer Versicherung und möchte gerne wissen, was Tante Ida mit dem von ihrem Mann ererbten Geld so anstellt. Aber Ida denkt gar nicht daran, dem George das zu sagen. Viel lieber lässt sie sich von der Familienschlampe Janine erpressen, vom Luis verfolgen, und dann ist halt doch irgendwie wieder der George im Spiel. Luigi, der angeheiratete Inspektor der griechischen Polizei, möchte zusammen mit seinem besten Kumpel Alberto von der Interpol ebenfalls mitspielen, letzterer erfreut die illustre Sippschaft auch gerne mal mit seinen heiteren Sprüchen („Auch Sexualverbrecher müssen leben und den Schneider bezahlen“), und alle wollen wissen, was Ida mit der Kohle vor hat. Und Ida? Ida tut etwas, was man von ihr überhaupt nicht erwartet hätte, und alsbald betritt Anita die Bühne, zusammen mit einem Butzemann, der der Familie beginnt das Leben schwer zu machen. Indem er sie fortwährend dezimiert. Der George wiederum hat mittlerweile Gefallen gefunden an der schnieken Anita, und er möchte gerne verhindern, dass ihr Böses widerfährt. Am Besten geht das natürlich, wenn er sich auf das Mädel drauflegt, aber auch sonst ist George immer zur rechten Zeit am rechten Ort, um zu verhindern, dass Schlimmeres passiert. Andere haben da nicht so viel Glück …
Wie gesagt, eine Urlaubsreise mit einer liebgewonnenen Familie, wenngleich vielleicht unter etwas derberen Vorzeichen. Wir reden also davon, mit Tante Ida einen Stadtbummel durch London zu unternehmen. Die malerischen Gassen der Athener Altstadt mit Cousin George zu erkunden. Und natürlich mit der schmucken Anita einen Segeltörn durch die Ägäis zu machen. Fortwährend begleiten uns dabei die Klänge von Onkel Bruno, die mit zum Besten gehören was solche Familientreffen jemals hergegeben haben. Schmeichlerischstes Geflüster steht da neben düsterer Dramatik, und in den gelungensten Momenten gibt sich die Musik alle Mühe, die lose hängenden Fäden der Story akustisch zu beschreiben und dabei eine fortwährende Atmosphäre des Unbehagens zu erzeugen.
Ähnliches gilt für etwas, was viele Jahrzehnte vorher einmal als entfesselte Kamera bezeichnet wurde. Die Blickwinkel sind oft außergewöhnlich, immer spannend, und es kann auch passieren, dass die Kamera einfach mal seitlich auf einem Tisch liegt und quasi im Schiefgang ein Gespräch dokumentiert. Optisch ist DER SCHWANZ DES SKOPRIONS also genauso ein Leckerbissen wie musikalisch oder von der Gesamtsicht des Ensembles her. Dass die Geschichte bei diesen Höhepunkten vielleicht nicht immer mithalten kann? Geschenkt! Wer will in einem Giallo schon eine nach logischen Aspekten ausgeklügelte Story haben? Eben!! Viel wichtiger ist es, dem Mörder durch die, mit schicken Möbeln und J&B-Flaschen ausgestatteten, Wohnungen der europäischen Metropolen zu folgen. Zuzuschauen, wie die Beschwerde eines zugeparkten Mitbürgers ganz selbstverständlich und spannend-erweise durch das Fenster vorgebracht wird, anstatt an der Tür zu klingeln. Dabei zu sein, wie ein Polizeiinspektor beim Verhör ganz abwesend versucht ein Puzzle zu legen (welches dann schlussendlich vom Verdächtigen zu Ende gebracht wird). Die Kochkünste von der Anita ausgiebig zu bewundern, die viel Wert auf eine gesunde Schärfe legt. Und letzten Endes mit anzusehen, wie Onkel Sergio soviel rote Heringe auslegt, dass er damit das gesamte Tyrrhenische Meer bestücken könnte, womit man glücklich in diesem frühen Höhepunkt der Giallowelle versinken kann. Bei einem echten Familientreffen kennt man schließlich auch die meisten Beteiligten, und weiß oft vorher, was an dem Treffen passieren wird. Und gerade deswegen freut man sich auf die vertrauten Gesichter, die angenehme Atmosphäre und den wohlbekannten und gerade deswegen immer wieder einladenden Ablauf …
8/10
Der Sieg des Kapitalismus ist die endgültige Niederlage des Lebens.
(Bert Rebhandl)