Davide Pulici - Se vuoi vivere... gira! - Il Cinema di Sergio Garrone (2020)
Moderator: jogiwan
- Salvatore Baccaro
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Davide Pulici - Se vuoi vivere... gira! - Il Cinema di Sergio Garrone (2020)
Mit überschaubaren Italienisch-Kenntnissen und einem Übersetzungsprogramm meines Vertrauens habe ich mich die letzten Tage durch vorliegendes Buch gekämpft, bei dem es sich um die erste Monographie überhaupt zum 1925 geborenen und erst 2023 mit fast einhundert Lenzen verstorbenen Genrekino-Veteran Sergio Garrone handeln dürfte. Wobei "Monographie" am Kern der Sache ein bisschen vorbeizielt, denn eigentlich handelt es sich beim Gros der insgesamt 228 Seiten um ein verschriftlichtes Interview, das Davide Pulici - seines Zeichens Mitte der 90er Mitbegründer der Zeitschrift "Nocturno", die sich auf die Fahne geschrieben hat, dem italienischen Genrekino mit derselben Sorgfalt zu begegnen wie sie bis dato meist nur dem arrivierten Autorenfilm zuteil kommt - mit dem betagten Regisseur über Stunden hinweg geführt hat, und in dem dessen komplette Kinokarriere von den Anfängen als Mädchen für alles in Cinecittà der frühen 50er über seine ersten Erfolge im Italo-Western Ende der 60er bis hin zu seinen wohl berüchtigtsten Arbeiten, den back-to-back heruntergekurbelten beiden Nazi-Exploitern LAGER SSADIS KASTRAT KOMMANDANTUR (1976) und SS LAGER 5 (1977), zur Sprache kommt.
Garrone dürfte selbst von den meisten eingefleischten Fans des italienischen Bahnhofslichtspiels eher dessen dritter oder vierter Reihe zugeteilt werden: Neben einigen guten bis sehr guten Western, von denen gemeinhin DJANGO IL BASTARDO von 1968 als sein Meisterwerk gilt, hat Willy S. Regan, wie sich Garrone vorzugsweise in seinen Vorspännen nennt, nach landläufiger Meinung im Grunde nicht viel auf dem Kerbholz, was ihm einen Platz im Olymp des Terza-Visione-Kinos sichern würde. Umso spannender fand ich es, mir einmal im O-Ton anzuhören, wie denn ein Sergio Garrone über sein eigenes Oeuvre spricht, welche Perspektiven er als Filmpraktiker ohne gesteigerte künstlerische Ambitionen bereithält, wie er rückblickend in biblischem Alter auf seine Handvoll Filme zurückblickt, von denen die meisten höchstens denen etwas dem Namen nach sagen, die sich bereits durchs Dickicht zahlloser Margheritis, Lenzis oder Fulcis einen Pfad geschlagen haben.
Was bei der Lektüre schnell auffällt, ist die absolut positivistische Weise, mit der sich Pulici dem Kino Garrones und der Person Garrone nähert. Über weite Strecken ihres strikt chronologisch aufgebauten Gesprächs tauschen Interviewer und Interviewter pure Fakten aus: Welcher Produzent hat Garrone wann wie übers Ohr gehauen? Welche Schauspielerin hat sich bei welchem Film geweigert, blankzuziehen? Wo genau wurde welche Szene dieses oder jenes Western nun genau in den Kasten gebracht? Auf die Dauer kann das tatsächlich sehr ermüdend sein, und ufert zwischenzeitlich zu einer reinen Aneinanderreihung von Namen aus - wobei man es Pulici immerhin zugutehalten muss, dass er nicht mit Fußnoten geizt, und den einen oder anderen Kontext zu Personen, Daten, Ereignissen, die sich aus Garrones Ausführungen nicht unmittelbar erschließen, in solchen verpackt mitliefert. Trotzdem kann man dem Interview natürlich vorwerfen, dass es zumeist an der Oberfläche der Dinge klebenbleibt: Film für Film, unrealisiertes Projekt für unrealisiertes Projekt, Schauspieler für Schauspieler werden abgehakt, ohne dass Pulici auch nur versuchen würde, aus Garrone mehr hervorzukitzeln. Poetologische Statements des Regisseurs sucht man weitgehend vergebens - was allerdings aber natürlich auch darin begründet sein kann, dass Garrone sich primär als jemand versteht, der eine Geschichte erzählen, der sein Publikum mit Emotionen überschütten möchte, nicht als jemand, der irgendein darüber hinaus greifendes künstlerisches, politisches, gesellschaftliches Anliegen mit seinen Filmen verfolgt.
Garrone selbst präsentiert sich im Gespräch mehr oder minder sympathisch und mit sich im Reinen, ist kein verbitterter Wüterich wie beispielsweise der späte Umberto Lenzi oder der späte Ruggero Deodato, wird aber dennoch nicht müde, immer wieder zu beklagen, wie viele glorreichen Ideen ihm von anderen stibitzt worden sind, wie oft man ihn um Geld geprellt hat, wie viele Meisterwerke er hätte drehen können, wenn ihn nicht die italienische Filmindustrie hyänengleich ausgebeutet, hinters Licht geführt, missbraucht hätte. Pulici wiederum scheint ein wahrer Fan des Regisseurs zu sein, was per se ja eine eher schwierige Ausgangslage für ein kritisches Gespräch ist: Wenn Pulici wiederholt behauptet, Garrones LA COLOMBA NON DEVE VOLARE von 1970 sei der beste italienische Kriegsfilm, der jemals gedreht worden sei, dann ist Garrone natürlich der Letzte, der ihm hier widerspricht.
Besonders interessiert haben mich im Vorfeld zwei Dinge: Was wird Garrone wohl zu jenen beiden ebenfalls mit demselben Cast und demselben Team in denselben Kulissen gedrehten Gothic-Horrorfilmen erzählen, die er 1974 mit Klaus Kinski in der Türkei realisiert - LE AMANTI DEL MOSTRO; LA MANO CHE NUTRE LA MORTE -, die ich für die eigentliche Speerspitze von Garrones Schaffen halte? Und wie wird sich Garrone retrospektiv zu seinen nun wirklich jedwede Geschmacksgrenze mit Panzerkolonnen niederreißenden KZ-Exploitern äußern? Bezüglich seiner gotischen Schauerstücke nimmt Garrone - neben etwas redundanten Berichten über einen wütenden Kinski, der ein Hotelzimmer zerlegt, und sich an seinen Schauspielkolleginnen vergreift - immerhin dahingehend kein Blatt vor den Mund, dass er detailliert beschreibt, wie er und sein Stab in 8 Wochen parallel zwei Filme statt einem auf die Beine stellten, und dabei - natürlich - hauptsächlich ökonomische Beweggründe federführend gewesen sind; bezüglich seines SadicoNazista-Double-Features wäscht Garrone seine Hände weiterhin in Unschuld, und behauptet völlig ohne Selbstironie, ein Film wie LAGER SSADIS KASTRAT KOMMANDANTUR sei ernsthaft aus dem Antrieb entstanden, die Menschheit vor den Schrecken des Faschismus zu warnen.
Ergänzt wird das Interview von einer ausführlichen Filmographie aller Streifen, bei denen Garrone Regie führte, die er produzierte, für die er das Drehbuch schrieb, oder in denen er zwar in den Credits genannt wird, jedoch ohne etwas mit ihnen zu tun zu haben - wobei Pulici zu jedem einzelnen Film seine persönliche Meinung kundtut, herausstellt, was ihm besonders behagt, was ihm besonders missfällt, und dabei nicht an harten Urteilen spart. Ebenfalls hat Pulici ein hymnisches Vorwort verfasst, von dem ich mir vorstellen kann, dass es jemanden, der in seinem Leben noch nie etwas von Garrone gehört geschweige denn einen Film von diesem gesehen hat, in den Glauben versetzen dürfte, es bei ihm mit einem wirklich großen, zu Unrecht vergessenen Meister der siebten Kunst zu tun haben zu müssen - eine Einschätzung, die ich nicht unbedingt teile, und die zu revidieren mir auch vorliegendes Buch nicht wirklich geholfen hat. Dennoch: Welch faszinierendes Dokument, das man für knapp 8 Euro als PDF direkt auf der Homepage von "Nocturno" erwerben kann!