Theodor Hildebrand - Der Vampyr oder Die Todtenbraut (1828)

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Salvatore Baccaro
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Theodor Hildebrand - Der Vampyr oder Die Todtenbraut (1828)

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…und dann hatte ich einen der wenigen Tage meines mehrwöchigen Urlaubs, der nicht davon bestimmt war, etliche Höhen- und Kilometer oberhalb des Rheins hinter mich zu bringen, dazu genutzt, den nominell frühesten erhaltenen Vampirroman in deutscher Sprache zu lesen: DER VAMPYR ODER DIE TODTENBRAUT, den Vielschreiber Theodor Hildebrand 1828 in zwei Bänden veröffentlicht.

Über den Autor selbst sind dabei kaum valide Informationen zu erhalten. Geboren ist er wohl 1794 in Erlangen, gestorben 1859 in München, ansonsten gibt selbst Karl Goedeke in seinem GRUNDRISS ZUR GESCHICHTE DER DEUTSCHEN DICHTUNG (1859-1881) im Grunde einzig die Militärlaufbahn des Dichters wieder. Fakt scheint immerhin zu sein, dass Hildebrand sich mit Vorliebe in den eher schaurigen Gefilden der Populärliteratur herumgetrieben hat: So tragen andere Bücher aus seiner Feder wohlklingende Titel wie beispielsweise DAS TEUFELSSCHLOSS AM SEE, DAS GEISTERSCHLOSS ODER DIE AUFERSTEHUNG IM TODTENGEWÖLBE oder, besonders schön, MORD UND RACHE ODER DAS BLUTIGE HAUPT DES BRAUTVATERS ALS HOCHZEITSGESCHENK.

Mit seinem VAMPYR legt Hildebrand einen leichtfüßigen Roman vor, den man problemlos, wie ich, an einem langen Nachmittag einfach so runterlesen kann, und der sich zudem aus literaturhistorischer Sicht ziemlich spannend auf der Schwelle zwischen klassischer Schauerromantik der Goethezeit und der beginnenden modernen Horror-Ästhetik positioniert: Im Zentrum steht der Oberst Alfred Lobenthal, der seiner Gattin eines Tages überraschend eröffnet, er müsse mit ihr und den beiden kleinen Kindern aus nicht näher definierten Gründen zeitnah den bisherigen Wohnort Berlin verlassen. Auch wenn seine Frau diese förmliche Flucht ihres Angetrauten aus seiner Geburtsstadt erst einmal seltsam vorkommt, verwehen ihre Bedenken doch spätestens, als man sich unweit von Prag auf dem Land ein spießiges Kleinbürgeridyll errichtet, wo die Freude tagtäglich ein- und ausgeht. Einziger Wermutstropfen für Helene Lobenthal: Neben Alfred, den Kindern, und dem Diener Werner, einem Ex-Soldat, der treu an Lobenthal hängt, da dieser ihm während der Napoleonischen Kriege einst das Leben rettete, ist im Hinterland nicht viel los, und die Kontaktknüpfung zum Landvolk gestaltet sich schwieriger als gedacht. Diese Einsamkeit Helenes nimmt noch zu, als Alfred sie für längere Zeit verlässt, diesmal jedoch mit triftigem Grund, denn seine Schwester und deren Gatte haben sich heftig zerstritten, von Scheidung ist die Rede, und Alfred scheint der Einzige zu sein, der die Zerrüttung als Mediator noch zu kitten vermag.

Kaum ist Alfred abgereist, erfährt Helene aber, dass eine geheimnisvolle Fremde ein einsames Häuschen nicht fern von Dorf und der Lobenthal’schen Landvilla bezogen hat, begleitet einzig von einem Bediensteten, der ausschaut wie der Tod auf Stelzen. Während sich die Dörfler in Gerüchten über die junge Frau ergehen, wächst in Helene der Wunsch, sie kennenzulernen, vielleicht in ihr eine Freundin zu finden, ein Mittel, die zunehmend quälende Langeweile zu vertreiben. Werner indes ist skeptisch – und das zu Recht, denn er erkennt in der Dame eine frühere Liebschaft Alfreds wieder, ein Mädchen aus dem Balkan namens Lodoiska, die Lobenthal vor Jahren nach einer Verwundung gesund pflegte, die sich in ihn verliebte, die ihm gar ein Eheversprechen abrang, inklusive heidnischem Ritual zu dessen Besiegelung, und die von dem Oberst dann im Stich gelassen wurde, als der zurück in seiner Heimat Helene zur Braut nimmt. Dass Lodoiska ausgerechnet hier ausgerechnet jetzt auftaucht, kombiniert Werner, kann kein Zufall sein, vielmehr dürfte sie Ungutes im Schilde führen, möglicherweise darauf abzielen, Alberts Eheglück zu zerstören - und wahrscheinlich hat sich Alfred ja auch wegen Lodosika aus dem Berliner Spur gemacht! Dann häufen sich merkwürdige Vorkommnisse: Ein Brief, den Werner an Alfred schreibt, wird von unsichtbarer Hand zerrissen; Lodoiska scheint ihr Domizil nur nachts zu verlassen; schließlich brennt ihr Häuschen ab und Helene, die inzwischen ihre Bekanntschaft gemacht hat, bietet ihr an, doch ihre Zelte fürs Erste unter ihrem Dach aufzuschlagen – und kurz danach wird eins der Lobenthal-Kinder von einer Krankheit befallen, die es gleichzeitig zusehends ausmergelt und es andererseits mit einem unersättlichen Appetit beschlägt…

Die Pointe des Schauerstücks dürfte dem Lesepublikum der 1820er Jahre vielleicht noch nicht ganz so früh und noch nicht ganz so frontal ins Gesicht gesprungen sein wie Lesern zwei Jahrhunderte später, trotzdem fällt auf, wie viel dessen, was den modernen Vampirmythos gemeinhin kennzeichnet, bereits bei Hildebrandt angelegt ist. Einerseits weist der Text allein schon mit seinem Untertitel „Ein Roman aus neugriechischen Sagen“ klar auf den Ahnherr der Vampirliteratur zurück, John Polidoris THE VAMPYRE von 1816, der seine Titelfigur ja ebenfalls klar mit Gespenstermären des Balkanraums assoziiert; andererseits inkorporiert er aber noch eine ganze Reihe anderer Modi der sogenannten Trivialliteratur jenseits des puren Grusels, der sowohl mit atmosphärischen Spannungsszenen wie auch mit dem einen oder anderen blutigen Details freilich zur Genüge bedient wird. So liest sich der erste Teil des Romans streckenweise wie eine Detektivgeschichte, wenn Hauptfigur Werner Stück für Stück dem Geheimnis von Lodoiska auf die Schliche zu kommen versucht; gar nicht ungeschickt arbeitet Hildebrand mit Rückblenden, mit Andeutungen, mit Indizien, die für Leser, die noch nicht hunderte ähnlich gelagerter Blutsauggeschichten aufgesogen haben, durchaus den gewünschten rätselhaften Effekt gehabt haben dürften. Am Ende des ersten Teils verblüfft Hildebrand darüber hinaus damit, dass er den bisherigen Protagonisten Werner unvermittelt in die Ewigen Jagdgründe schickt: Buch Nummer Eins endet mit einem regelrechten Cliffhanger, der die Leserschaft animieren soll, sich auch die Fortsetzung zu kaufen. In dieser wird dann Alfred Lobenthal zur Hauptfigur, befindet sich gegenüber den Lesern aber klar im Nachteil: Während wir dank Werners Nachforschungen längst wissen oder zumindest ahnen, dass Lodoiska sich aus Liebeskummer suizidiert hat und sodann mit dem Auftrag der Rache an Alfred als Vampirin ihrem Grab entstieg, besitzt Familie Lobenthal von alldem keinen blassen Schimmer. Auffallend ist zudem die Melodramatik, die Hildebrand im zweiten Teil anschlägt. Wenn ein junger gutaussehender Medikus auftaucht, der sich unversehens in Lodoiska verliebt, wähnt man sich plötzlich in einem süßlichen Arztroman; und wenn in Alfred alte Gefühle für Lodoiska erwachen, nichtsahnend, dass diese gerade im Begriff ist, wortwörtlich seine Familie zu verzehren, gibt es etliche Passagen voll Herzschmerz und Stoßseufzern, die keinem Kitschroman schlecht zu Gesicht stehen würden. Das Finale letztlich ist so brachial wie vorhersehbar, wenn auch reichlich gegen jede innere Textlogik gebürstet.

Was mich indes am meisten am VAMPYR fasziniert hat, ist folgendes: Zwar wird, wie bei Polidori oder, am berühmtesten, weit über ein halbes Jahrhundert später in Stokers DRACULA, die Blutsaugerin als personifizierte Alterität markiert – sprich: es handelt sich um eine Frau vom Balkan, die der Text gebetsmühlenartig als „Fremde“ bezeichnet, ein Geschöpf also, das aus heteronormativ-patriarchaler Perspektive sowohl durch seine Herkunft wie sein Geschlecht als außerhalb der bürgerlichen Ordnung stehend begriffen wird, die die Lobenthals repräsentieren –, doch den Schwarzen Peter schiebt Hildebrand doch eindeutig Alfred zu, der die alleinige Schuld daran trägt, dass Lodosika überhaupt zur Spukgestalt wird. Der Oberst ist es, der ihr das Herz bricht, der ihr erst schöne Augen macht, sie dann konsequent ghostet, der dann, als sie zurück in sein Leben tritt, sofort ihren Reizen verfällt, und ernsthaft mit dem Gedanken spielt, nunmehr seine Frau und Kinder zu verlassen – ein glänzender Romanheld sieht allemal anders aus! Ebenso wird mehrfach darauf verwiesen, dass Lodoiska – im krassen Gegensatz zu Polidoris Lord Ruthven oder Stokers Graf Dracula – selbst am meisten unter der Rolle leidet, die sie zu spielen hat: An ihrer Rache hat sie kein Vergnügen, am liebsten wäre es ihr, sie könnte endlich in Ruhe sterben, der Fluch, der auf ihr lastet, quält sie jede Sekunde. Das pessimistische Ende ist dann auch das Element, das den VAMPYR am deutlichsten von früherer Schauerliteratur scheidet: Wo dort zwar nicht immer, aber oft darauf Wert gelegt wird, nach all dem Grauen eine harmonische Auflösung bereitzustellen, den Schrecken versöhnlich aufzulösen, erzählt Hildebrand im Grunde von der flächendeckenden Dekonstruktion der kleinbürgerlichen Familie, der kleinbürgerlichen Ordnung, dem kleinbürgerlichen Männlichkeitsideal – so wie sich ja auch die moderne Horrorliteratur gerade den Zerfall von Gesellschaftssystem am Beispiel von Familien auf die Fahne schreibt.

Alles in allem kann ich mir Hildebrands VAMPYR jedenfalls bestens als britischen, italienischen oder spanischen Horrorstreifen der 60er Jahre imaginieren. Es fehlt nicht an wohldosierten Gags, an theatralischen Gefühlsausbrüchen, an schattenvollen Gemäuern, an nächtlichen Schleichszenen, an dem einen oder anderen Gore-Effekt, an lasziver Erotik, an einer zugleich eleganten wie dekadenten Atmosphäre – und an Momenten, die genügend unfreiwillige Komik aufbieten, dass sie fast ein bisschen trashig wirken. Verfügbar ist der Roman trotz seiner Obskurität derzeit übrigens gleich in zwei Ausgaben: Einmal als Books-on-Demand-Veröffentlichung, und sodann noch in einer älteren Neuauflage des Wehrhahn Verlags. Vom Text her unterscheiden sich beide nicht, allerdings hat die Wehrhahn-Veröffentlichung noch ein knappes, aber informatives Nachwort der Herausgeberin in petto. Wer Augen hat, der lese – und wer Zähne hat, der beiße!
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