Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR-LOUNGE

Alles, was nichts oder nur am Rande mit Film zu tun hat

Moderator: jogiwan

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sid.vicious
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR LOUNGE

Beitrag von sid.vicious »

buxtebrawler hat geschrieben:
sid.vicious hat geschrieben:Beide Bücher haben eins gemeinsam, die Autoren konnten mich nicht packen.
Hättest du Lust, das näher zu erläutern? :)
Giesen mag ja viel über Filme vor 1970 wissen, aber die folgenden Jahrzehnte werden sehr lieb- und nicht vorbehaltlos abgehandelt. Er mag so mach Post 1960er Vehikel nicht und diese Einstellung gipfelt in seinem Geschreibsel über Cronenberg. Zudem kann ich keine wissenschaftlichen Ansätze dechiffrieren, da die Infos nur filmhistorischen Wert haben. Ich mag die Bücher von Roloff und Seesslen wesentlich lieber, da die Autoren wirklich was zu sagen haben, viele (auch eher unbekannte) Filme vorstellen und einhergehend fortwährend liefern.

TERROR VON RECHTS ist ziemlich öde verfasst. Der Autor meint zudem die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben, liegt aber manchmal mit seinen Analysen neben der Spur und lässt so einiges unter den Tisch fallen. Das geht wesentlich besser, wie es zum Beispiel das Buch BLUT UND EHRE aus dem Ch. Links Verlag beweist. Ebenfalls empfehlenwert BRAUNE KAMERADSCHAFTEN sowie Prae NSU Bücher wie UNSERE STUNDE, DIE WIRK KOMMEN und RECHTSRADIKALISMUS-DIE RECHTEN IM AUFWIND und natürlich Uli Chaussys Buch OKTOBERFEST - DAS ATTENTAT, das wirklich Angst macht, denn wie in Deutschland mit den Opfern umgegangen wurde, das ist wirklich erschreckend.
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Adalmar
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR LOUNGE

Beitrag von Adalmar »

Patrick Gensing ist ja auch als "Faktenfinder" bei der ARD tätig. In seinen Texten auf tagesschau.de, die unter diesem Label erscheinen, kommen dann aber gerne Adverbien wie "wohl", "mutmaßlich" ... vor. Naja.
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buxtebrawler
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR LOUNGE

Beitrag von buxtebrawler »

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Peter Jäger – Eddie will leben

Aller Wahrscheinlichkeit nach werden diese Zeilen gerade auf einem Computer-Bildschirm oder mobilen Endgerät gelesen. Vor gar nicht allzu langer Zeit jedoch gab es das World Wide Web noch gar nicht, gelesen wurden vornehmlich Print-Publikationen. Alles, was gelesen werden wollte, musste gedruckt werden, egal ob Buch, Zeitung, Reklame oder die Menükarte des Pizzadiensts. Der Siegeszug des Internets bedeutete jedoch nicht nur einen Rückgang an Print-Auflagen, sondern auch einen erbitterten Konkurrenzkampf klassischer Offset-Druckereien mit überregional erreich- und nutzbaren Druckanbietern, die ihre Dienste im Netz offerierten und dank automatisierter Abläufe trotz der Portokosten günstiger anbieten konnten.

Der Quickborner Lokaljournalist/-chronist, Kinderbuch- und Roman-Autor Peter Jäger hatte in den 1970ern selbst in einer Offset-Druckerei gearbeitet und griff dieses Thema für seinen nach „Kalte Wasser“ zweiten Roman „Eddie will leben“ auf, erschienen im Taschenbuch-Format im März 2015 im Kadera-Verlag. Auf knapp 300 Seiten beschreibt Jäger den Überlebenskampf Eddie Buchholz’, dessen Norderstedter Druckerei am Gutenbergring unter dem Online-Konkurrenzdruck ächzt und in finanzielle Schieflage gerät. Es gilt, möglichst alle sieben Arbeitsplätze zu erhalten. Als er seinen Mitarbeiter(innen) jedoch eröffnen muss, das Weihnachtsgeld wahrscheinlich nicht auszahlen zu können, stößt er auf Unverständnis. Und während er noch überlegt, wie er neue Aufträge an Land ziehen und seinen Betrieb zukunftsfähig aufstellen kann, wird sein Garagentor beschmiert und erleidet er einen Herzanfall. Glücklicherweise stehen seine Familie und Freunde ihm mit Rat und Tat zur Seite, doch die Situation bleibt prekär. Ob Sven, der Lebensgefährte seiner Tochter Monika und Inhaber einer Werbeagentur, tatsächlich behilflich sein kann, die Traditionsdruckerei wieder in wirtschaftlich rentable Fahrwasser zu lenken? Darüber hinaus muss Eddie dringend kürzer treten und lernen, Verantwortung abzugeben – nicht nur seine besorgte Ehefrau Hanna würde es ihm danken...

„Eddie will leben“ spielt kurz nach der Jahrtausendwende, in den Jahren 2001/2002, und verwebt ein aus zahlreichen unterschiedlichen Perspektiven von einem allwissenden Erzähler wiedergegebenes Mittelstands-Drama mit gleich mehreren persönlichen Schicksalen sowie geballtem Zeit- und Lokalkolorit. In einer Vielzahl episodischer Kapitel erfahren Leserinnen und Leser nicht nur von den typischen Problemen einer kleinen Mittelstandsdruckerei, sondern auch von der damaligen Lage im an die schleswig-holsteinische Kleinstadt Norderstedt angrenzenden Hamburg (die rechtspopulistische „Schill-Partei“ um Ex-Richter und Dumpfbacke Ronald Schill war gerade an die Macht gewählt worden), von einer Vielzahl real existierender Orte und von den Befindlichkeiten verschiedenster mit Eddie verbandelter Menschen.

All dies führt leider dazu, dass sich die Geschichte immer wieder in seifigen Trivialitäten, Belanglosigkeiten und Geplänkel zu verlieren droht und die vielen Erzählstränge verwirren. Lokal- und Zeitbezüge wirken oftmals etwas bemüht, dass die Protagonist(inn)en sich ständig in irgendwelchen Centern treffen, mutet reichlich ungemütlich an, und die Nennung zahlreicher realer Markennamen grenzt an Product Placement. Altertümliche Sprüche und laue Witzchen erscheinen genauso bieder wie die ermüdend detaillierten Beschreibungen der Weihnachtsfeierlichkeiten, anlässlich derer Seidenfliegen und Fußpflegegutscheine verschenkt werden und man sich darüber freut, nachdem man sich am Esstisch über gereizte Gallen und Prostatabeschwerden ausgetauscht hat. Der blanke Familienhorror, hier verpackt als anheimelnd wirken sollender Realismus. Andere Dialoge würde so wohl nie jemand in der Realität führen:

„Ich esse knusprige Ente“, entschied Vera, ohne in die Speisekarte zu schauen. „Und du magst es bestimmt lieblich, Hanna, das weiß ich. Du bekommst die Ente mit Ananas.“
„...und beide Damen sind selbstverständlich meine Gäste“, ergänze Waldemar mit charmanten [sic!] Lächeln. „Ich habe mich übrigens für Rindfleisch mit Gemüse entschieden, das kommt hier knackig aus dem Wok.“
(S. 194)

Weniger gestelzt klingt es, wenn Werbefuzzi Sven sich mit Arbeitskampf konfrontiert sieht:

„Was für ein jämmerliches Palaver um lächerliche Weihnachts-Zahlungen. Die Rädelsführer besaßen die Reife von matschigen Birnen, sonst hätten sie brauchbare Ideen eingebracht, um ihre Arbeitsplätze zu retten. Schade, dass Eddie den Glatzkopf Kessler so schnell beiseite geschoben hatte. Ein Vergnügen wäre es ihm gewesen, dem Großmaul ein paar harte Haken zu verpassen.“ (S. 58)

Dazu sei angemerkt, dass jener Sven nicht etwa die Rolle eines Antagonisten einnimmt. Generell wird zwischen den Zeilen immer wieder vermittelt, es sei ein Unding, dass die Belegschaft auf ihren vertraglich vereinbarten Weihnachtslohn besteht. Es scheint sich aber ohnehin um einen seltsamen Menschenschlag zu handeln, der sich gegenseitig betrügt, Verständnis für die indiskutable „Schill-Partei“ äußert (Eddie) oder überdramatisierend mit Weglaufen droht (Hanna) – ohne dass all dies sonderlich problematisiert würde. Und statt im Zusammenhang mit Eddies Druckerei begangene handfeste Verbrechen aufzuklären, schließt „Eddie will leben“ mit einem irritierend kitschigen „Wird schon weitergehen“-Ende.

Lokaljournalismus lebt von der geschalteten Werbung seiner regionalen Anzeigekunden, weshalb ihm diese meist besonders am Herz liegen. Jäger als verdienter Lokaljournalist dürfte mit seinem Buch eine Lanze für kleinere regionale Betriebe haben brechen und Verständnis für ihre oft schwierige Situation wecken wollen, insbesondere angesichts immer globaler werdenden Konkurrenzdrucks durch das Internet. Offenbar unfreiwillig gelang Jäger stattdessen eine Art Porträt unsympathischer Menschen, denen man sicherlich vieles, nur nichts Gutes wünscht und die diverse Branchenklischees erfüllen, während sich die Geschichte wenig differenziert auf ihre Seite schlägt und für die Nöte sowie berechtigten Forderungen ihrer Angestellten nicht viel übrig hat. Nicht seinen besten Tag erwischt hatte offenbar auch das Lektorat, dem ein Anachronismus wie Facebook-Nutzung (die damals noch gar nicht möglich war) ebenso durchrutschte wie „Katheder“ (statt Katheter), „ein Paparazzi“ u.ä. So hinterlässt die Lektüre einen letztlich unbefriedigenden Eindruck, was schade ist, da das Konzept – realistische konfliktreiche Geschichten „aus der Nachbarschaft“ mit Insider-Wissen vor realer Kulisse erzählt – durchaus vielversprechend erscheint.
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buxtebrawler
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Beitrag von buxtebrawler »

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Jürgen Teipel – Verschwende deine Jugend

Der ehemalige Fanziner und hauptberufliche Journalist Jürgen Teipel veröffentlichte 2001 im Berliner Suhrkamp-Verlag seine Oral History of Punk 1976-1983, den Doku-Roman „Verschwende deine Jugend“, für den er drei Jahre lang über 100 Zeitzeug(inn)en interviewte und ihre Antworten zu einem in drei Teile plus Vorwort(e), Pro- und Epilog unterteilten, in etliche Kapitel gegliederten Band zusammenfügte, sodass sie sich wie transkribierte Gesprächsrunden lesen. 2012 erschien eine revidierte und erweiterte Neuauflage des Überraschungserfolgs, deren zweite Auflage aus dem Jahre 2017 mir vorliegt.

Seinem vierseitigen Originalvorwort fügte er in der Neuauflage ein weiteres an, wobei er bereits im ersten gut daran tat, zu betonen, sich keinerlei Repräsentativität anzumaßen. Damit nimmt er vielen möglichen Kritiker(inne)n den Wind aus den Segeln, die sich daran stören könnten, dass er zwar Düsseldorf sehr ausführlich abhandelt, Berlin und Hamburg jedoch nur in Auszügen und andere deutsche Ballungszentren des Punks erst gar nicht aufgreift. Mit seinen Anhängen kommt die Neuauflage auf über 450 Seiten im Taschenbuchformat. Los geht’s im Prolog mit den Hippies, gegen die man war, von denen man sich radikal abzugrenzen suchte. Teil 1, „Innenstadtfront“, behandelt den Zeitraum vom Sommer 1976 bis zum Herbst 1978, Teil 2, „Ich und die Wirklichkeit“, setzt sich mit der Phase vom Herbst 1978 bis zum Winter 1980 auseinander, Teil 3, „Die Guten und die Bösen“, hat den Frühling 1980 bis zum Winter 1982 zum Thema. Biografische Angaben zu den zahlreichen zu Wort kommenden Personen, eine Zeittafel und Bildnachweise runden den Band ab.

Mit seiner Art der Montage erinnert „Verschwende deine Jugend“ stilistisch an diverse sich ausschließlich aus O-Tönen zusammensetzende Dokumentarfilme, die komplett auf eine(n) Sprecher(in) verzichten und – wie hier – die Interview-Fragen aussparen, sodass die Antworten wie von etwaigen Fragestellungen autarke Aussagen wirken. Teipel konstruiert gewissermaßen eine Handlung, was das Buch erzählerisch interessant und sehr flüssig lesbar macht.

Zunächst dreht sich alles um Düsseldorf und die Szene um den Ratinger Hof, innerhalb derer Bands wie CHARLEY’S GIRLS, S.Y.P.H., DER PLAN, MITTAGSPAUSE, MALE, ZK, FAMILY 5, KFC, FEHLFARBEN, DAF, NICHTS und DIE TOTEN HOSEN entstanden, deren Protagonist(inn)en ausführlich zu Wort kommen und neben ihrer persönlichen Entwicklung jene der Punkszene nachzeichnen – und verdeutlichen, dass sich beides nicht voneinander trennen lässt. Später kommen Berlin (MANIA D., MALARIA, IDEAL und EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN) und Hamburg (ABWÄRTS, CORONERS und PALAIS SCHAUMBURG) als Schauplätze hinzu. Punk als damals jüngstes Phänomen der Pop- und Subkultur wandte sich gegen Hippies, Pomp- und Art-Rock und zur Pose erstarrte Rock-Attitüde sowie autoritäre gesellschaftliche Strukturen, war aber bei Weitem noch nicht ausdefiniert (sofern er es jemals wurde). Damit einher ging eine sehr experimentelle Phase, in der vieles möglich war und entsprechend vieles ausprobiert wurde. Anhand der hier versammelten Aussagen wird belegt, dass sich Punk damals noch nicht als diejenige politisch linke oder anarchistische Bewegung verstand, als die sie heute gemeinhin wahrgenommen wird und sich in größeren Teilen der Szene auch selbst so definiert. Vor allem ging es um die Infragestellung alles Bisherigen und die Schaffung von etwas komplett Neuem.

Daher wird aus heutiger Perspektive sicherlich die eine oder andere Aussage, Anekdote oder Erinnerung irritieren, die der damaligen Selbstfindungsphase geschuldet ist. Offen treten auch Widersprüche, gerade auch untereinander, sowie Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit zutage. Überraschend ist, wie unreflektiert man sich auch während der Interviews noch gab – und vorweggenommen sei, dass längst nicht jede(r) Interview-Partner(in) zum/r Sympathieträger(in) taugt. Neben Bandgründungen, -umbesetzungen, ersten Konzerten und Tonträgerveröffentlichungen werden Haltungen zu Drogen (Ablehnung von Cannabis als Hippiedroge, hoher Speed-Konsum, Abstinenz vs. Alkoholmissbrauch), Gewalt und Vandalismus, Provokation und Neonazis thematisiert. Besonders extrem werden die Unterschiede der Düsseldorfer Szene im Vergleich zur proletarischer geprägten Hamburger Szene deutlich. In Düsseldorf rannten schon mal 200 Luschen-Punks vor 20 Rockern weg, statt sich ihrer zu erwehren. Düsseldorfs Punk der ersten Stunde, Jäki Eldorado (beim Erscheinen des Buchs TOKIO-HOTEL-Tourmanager!), stellt unhaltbare Behauptungen über Hamburg auf („Und dann gab es hier auch nie interessante Punkbands.“) und „Sounds“-Redakteur Kid P. sondert Unfug ab wie „Im Gegensatz zu dieser ganzen Hamburger Punkszene war der KFC richtig schillernd. Glamrock. Punk war ja nichts anderes als linksradikaler Glamrock.“ DER KFC waren offenbar wilde Rüpel, die kaum in die modische Düsseldorfer Punk-Schickeria passten; MITTAGSPAUSE-Gitarrist und „Rondo“-Label-Betreiber Franz Bielmeier beschwert sich beispielsweise über KFC-Sänger Tommi Stumpf, der ihn dafür angerotzt habe, dass er sich eine sündhaft teure Lederjacke gekauft und getragen habe. Schnell hatte DER KFC seinen Ruf als besoffene Prollpunks weg, mit ihm hielt die szeneinterne Gewalt Einzug. Bizarrerweise konnte Bielmeier „das auch immer noch akzeptieren“, vom KFC verprügelt und angerotzt zu werden, weil „das immer so eine ästhetische Abgrenzung gewesen“ sei. DER-PLAN-Frontmann Moritz R® hingegen begann, verstärkt mit Ironie und Humor zu arbeiten und schließlich das Humorvolle im Kontrast zum immer ernster und härter werdenden Punk bis zur Albernheit zu übertreiben. Die Geburtsstunde des Funpunks?

Die Vision einer eigenen Popkultur schildert ebenfalls Moritz R®, was so etwas wie Anspruch und Selbstverständnis der Neuen Deutschen Welle wurde. Dieser Begriff wurde von „Zickzack“-Label-Inhaber Alfred Hilsberg geprägt, der ebenfalls ausführlich zu Wort kommt. Die Musikindustrie griff diese Bezeichnung auf und nutzte sie zur Vermarktung der „kommerziellen“ NDW, an der diejenigen, die in diesem Buch zu Wort kommen, kein gutes Haar lassen – wenngleich sie teilweise selbst zugeben müssen, Hilsberg habe mit seinem massiven Tonträger-Output vor allem reichlich Katzenmusik herausgehauen, die quasi unhörbar war. Das kann ich anhand dessen, was ich aus diesem Bereich bisher so zu hören bekommen habe, nur bestätigen, weshalb ich die die ersten NENA- oder EXTRABREIT-Alben sowie manch anderes massenkompatiblere Zeug, das damals (und heute) als NDW gehandelt wurde und wird, dem meisten deutschsprachigem New-Wave-Zeug eindeutig vorziehe (für Teipels Interview-Partner(innen) natürlich ein absolutes No-go), zumal sich da auch inhaltlich, in Bezug auf die Texte, einiges hören lassen kann. Nichtsdestotrotz ist es interessant, diese Übergänge vom orientierungslosen frühen deutschen Punk zum New-Wave/NDW-Kram einmal aus erster Hand nachzulesen – zweifelsohne ein wichtiges Stück hiesiger Musikgeschichte.

Schauspieler Ben Becker, der in Berlin auch mal eine Punkphase hatte, nutzte diese – darf man seinen Aussagen Glauben schenken – in erster Linie, um seiner Zerstörungswut freien Lauf zu lassen. Anders DAF, die – aus dem Punk kommend – zu Pionieren der Elektro-Musik avancierten, mehr noch als andere mit faschistischer Ästhetik spielten und sich dabei nicht entblödeten, in England offenbar für ein sich aus mit Faschismus sympathisierenden Hirnis und Nazi-Skins zusammensetzenden Publikum zu spielen – und das auch noch toll fanden und „Mein Kampf“-Miniaturausgaben an es verteilten. DAF wurden schwul, lebten als Penner auf den Straßen und bezeichnen das als „paramilitärisch“. Ein ganz seltsamer Haufen, nicht ganz dicht und offenbar tatsächlich mit Vorsicht zu genießen. Und wie Peter Hein, der mit dem FEHLFARBEN-Album „Monarchie und Alltag“ die vielleicht beste Düsseldorfer Platte jener Ära entscheidend mitzuverantworten hat, seine äußerst vielversprechende Bandkarriere wegwarf, ist nicht nur unverständlich, sondern wirkt regelrecht arrogant. Umso spannender liest sich hier die Entstehung dieses Meilensteins.

Durchaus faszinierend und inspirierend ist es auch, die Anfänge der EINSTÜRZENDEn NEUBAUTEN nachzuvollziehen, wenngleich auch sehr anschaulich der fehlende Zusammenhalt der Berliner Szene und die gegenseitige musikalische Geringschätzung wiedergegeben werden. Selbst zwischen den Humpe-Schwestern (IDEAL und DÖF) herrschte krasses Konkurrenzdenken vor. Generell scheinen viele der damaligen Punk/NDW/Whatever-Schaffenden menschlich ziemliche Nulpen gewesen zu sein – eine Entromantisierung gewissermaßen, die Teipel & Co. hier betreiben, während sie aufschlussreiche authentische Einblicke in die Entstehung und erste Entwicklung des deutschsprachigen Punks und seiner Bastarde liefern. Die Verantwortlichen wirken häufig furchtbar desorientiert und sprunghaft, als habe man „Hauptsache dagegen“ sein wollen, sich zwanghaft über Abgrenzung definiert und sei damit letztlich ja doch abhängig vom Gegebenen gewesen, statt einfach sein Ding durchziehen zu können. Die Schizophrenie des Punks. Gegenseitig war man sich nur selten wirklich grün; die unterschiedlichen Klüngel haben sich missgünstig beäugt und schlechtgemacht. Das liest sich oft arg undifferenziert und aus heutiger Sicht wenig souverän.

Punk is still alive and kicking, vieles hat sich seit damals geändert, aber ganz sicher nicht zum Schlechten. Nach Lektüre dieses Bands weiß ich jedenfalls umso mehr, was ich an der heutigen Hamburger Punkszene habe, wo sicherlich auch nicht alles Gold ist, was glänzt, man sich aber um ein solidarisches Miteinander bemüht und gegenseitigen Respekt lebt, wodurch die eigene Infrastruktur am Leben erhalten wird und es Spaß macht, an ihr zu partizipieren. Allein schon, um dies zu untermauern, lohnt sich die Auseinandersetzung mit „Verschwende deine Jugend“, die zudem Lust macht, in die eine oder andere Band noch mal mit anderen Ohren hineinzuhören und schlicht manch Klassiker noch mal auszugraben – wohlwissend, dass da keine über den Dingen stehenden Pioniere am Werk waren, sondern mitunter ganz schön wirres Volk auf der schwierigen Suche nach einer eigenen Identität.

Mit gemischten Gefühlen liest sich dann auch das letzte Kapitel, in dem man reflektiert, wie viel von diesem Punk-Ding noch in einem steckt. Timo Blunck von PALAIS SCHAUMBURG hat gutes Geld mit Werbemusik verdient, dem exakten Gegenteil von Punk also – und er fände es „schrecklich“, wie Frank Z. von ABWÄRTS ein Solo-Album herauszubringen, das sich „gerade mal 30.000“ mal verkauft… Da scheinen sich die persönlichen Wertevorstellungen ganz schön verschoben zu haben, sofern sie jemals andere waren. Das lässt tief blicken. Diverse Zeitgenossen teilen ganz kräftig gegen DIE TOTEN HOSEN aus, was ich schon eher nachvollziehen kann, gern aber auch mehr nach Neid als nach allem anderen klingt. Auch die kolportiere Annahme, der Technoschrott der 1990er (dem sich manch ehemaliger Punk hingegeben hat) sei die logische Weiterentwicklung des Punks gewesen, lässt einen mindestens mit der Stirn runzeln. Gabi Eldogado (MITTAGSPAUSE, DAF) gibt damit an, wie viel Kohle er damit gemacht – darum scheint es hauptsächlich zu gehen. Für Jürgen Engler (MALE, DIE KRUPPS) bestand „diese ganze Szene […] vor allem aus Lug, Trug und Fassade“ – wenig verwunderlich also, dass er sich mit den KRUPPS bald von ihr emanzipieren sollte. Robert Görl ist nach einer Nahtoderfahrung zum Buddhismus konvertiert und sucht sein Seelenheil in der Spiritualität. Er hat keine Wohnung mehr und will als Mönch nach Thailand gehen. Ein positives Beispiel sei hier aber auch angemerkt, das sich indirekt auf die „Gegen den Staat“-Attitüde des Punks bezieht. So sagt Padeluun etwas sehr Schlaues: „Heute trete ich für partizipatorische Demokratie ein. Und in vielen Bereichen für mehr Staat. Weil ich erkannt habe, dass, wenn man dem Staat die Macht entzieht, nicht unbedingt das Volk die Macht bekommt.“

Einige großformatige Schwarzweiß-Fotos runden Teipels Buch ab, bei denen man jedoch gut daran getan hätte, Bildunterschriften zu verwenden, statt die Bildinhalte erst im Anhang aufzuschlüsseln – das hätte einige Blätterei erspart. Im Anhang finden sich, wie eingangs erwähnt, auch die biografischen Notizen zu jeder/m Gesprächspartner(in), die dabei helfen, diese einzuordnen und die anscheinend relativ komplett sind – bereits aus ihnen erfährt man eine Menge über die Zusammenhänge untereinander und die unterschiedlichen Werdegänge. Die Zeittafel fasst die Ereignisse noch einmal grob und übersichtlich zusammen.

Wer sich für die deutsche Punkgeschickte interessiert, sollte „Verschwende deine Jugend“ mal gelesen haben – sofern er mit Desillusionierung umgehen kann. Und jetzt habe ich Bock auf die „Monarchie und Alltag“…
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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karlAbundzu
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR LOUNGE

Beitrag von karlAbundzu »

Ich fand Teipels Buch auch ziemlich gut und spannend, klar wird hier auch viel nostalgische Selbstbeweihräucherung betrieben und einige Zentren fehlen, auch der Aspekt der Entwicklung jenseits der Städte, das interessante in den Kleinstädten, wo einiges abging, und manche Städte wie München und Hannover fehlen halt auch, obwohl sie wichtig waren. Aber das wäre dann wohl 2000 Seiten und 20 Jahre Interviews geworden.
Und: Macht Lust auf die Musik, neben Fehlfarben (ich fand immer lustig, das sie dachten, sie machen Ska...) das ganze DÜ-Zeug (Male, Mittagspause, SYPH, DAF, Plan, KFC, ZK undundund), und die frühen X-mal Deutschland!
Das Buch kam ja auch nicht aus dem Nichts, es wurde ja von Legs McNeils PLEASE KILL ME - The oral history of Punk inspiriert, da geht es um US-Punk, Schwerpunkt NY. Auch sehr empfehlenswert. Und natürlich auch John Robbs PUNK ROCK, die englische Variante, die wohl aber nach der deutschen rauskam.
Teipels Buch ist es auch zugute zu haten, dass überall die Geschichten gesammelt wurden, so sah ich mal ein Oral History Film, eine KuWi Abschlußarbeit über den Punkbeginn in Bremen mit den frühen Protagonisten, und woanders gab es wohl auch Zeug, oder zumindest Plattensampler.



Ich selbst habe gerade die TRISOLARIS TRILOGIE von Liu Cixin durch, sehr schöne Sci Fiction, bei der es um Jahrhunderte Entwicklung der Erde geht, nachdem sie von der Existenz anderen Lebens im Weltall erfährt und diese Kontakt zur Erde hat. Es wird sowohl wissenschaftlich wie auch soziologisch einiges durchgespielt, doppelt interessant bei den Außerirdischen, durch deren chaotischen Lebensbedingungen durch ein Sonnensystem mit drei Sonnen. Alles sehr spannend und intensiv geschrieben, auch lan aber nicht langweilig.
Nur das Ende gefiel mir nciht, es wird wieder auf eine streng heterosexuelle Adam und Eva Konstruktion zurückgegriffen, obwohl in der Geschichte andere Spuren zu anderen Lebensentwürfen gelegt wurden. Schade. Aber das macht den vielen stundenlangen Lesevergnügen vorher keinen Abbruch.
jogiwan hat geschrieben: solange derartige Filme gedreht werden, ist die Welt noch nicht verloren.
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sid.vicious
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR LOUNGE

Beitrag von sid.vicious »

Teipels Buch hat mir (vor ca. 15 Jaren gelesen) wirklich gut gefallen. Ich bekomme irgendwie auch wieder große Lust, es noch einmal zu lesen.
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karlAbundzu
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR LOUNGE

Beitrag von karlAbundzu »

buxtebrawler hat geschrieben:[img]Auch die kolportiere Annahme, der Technoschrott der 1990er (dem sich manch ehemaliger Punk hingegeben hat) sei die logische Weiterentwicklung des Punks gewesen, lässt einen mindestens mit der Stirn runzeln.
Zu Beginn der Techno-Bewegung gab es tatsächlich einige Paralellen zum frühen Punk: viel DIY - Gedanken, selbstgemachte Clubs irgendwo, wo es einem gefällt, ob legal oder nicht, jeder kann Musik machen, eigene Vertriebswege schaffen, Bewußtsein gepaart mit Hedonismus, der Hang zu wachhaltenen Drogen, und auch : No More Heroes. Auch mir und einigen von uns schien das interessant, um sich das anzusehen: in den Berlinern Clubs hingegen merkte ich, dass die Musik nix für mich war. Noch ein wenig später, als ich bei einem größeren Event war, merkte ich , dass auch das No More Heroes Konzept hier genau wie im Punk) sehr schnell begraben wurde: Die DJs hingen weit oben und liessen sich zujubeln, und das, wo sie nur ein paar Knöpfchen drehten. Hm.


Nachtrag Urlaubslektüre, neben Liu Cixin:
Patrck deWitt: The Sisters Brohters
Harter und spannender Western um zwei Brüder, die als Auftragskiller arbeiten. Auf ihrem Ritt zu einem Auftrag teilt uns de eine Bruder seine Gedanken mit. Und das ist herrlich und ungewöhnlich. Ebenso wie die Story und was den beiden so passiert und umtreibt.
Empfehlung.
Dann gesehen, dass der verfilmt wurde, mit John C Reilly in der Hauptrolle. Und der läuft demnächst bei uns im Kino. *freu
jogiwan hat geschrieben: solange derartige Filme gedreht werden, ist die Welt noch nicht verloren.
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FarfallaInsanguinata
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR LOUNGE

Beitrag von FarfallaInsanguinata »

karlAbundzu hat geschrieben:
buxtebrawler hat geschrieben:[img]Auch die kolportiere Annahme, der Technoschrott der 1990er (dem sich manch ehemaliger Punk hingegeben hat) sei die logische Weiterentwicklung des Punks gewesen, lässt einen mindestens mit der Stirn runzeln.
Zu Beginn der Techno-Bewegung gab es tatsächlich einige Paralellen zum frühen Punk: viel DIY - Gedanken, selbstgemachte Clubs irgendwo, wo es einem gefällt, ob legal oder nicht, jeder kann Musik machen, eigene Vertriebswege schaffen, Bewußtsein gepaart mit Hedonismus, der Hang zu wachhaltenen Drogen, und auch : No More Heroes. Auch mir und einigen von uns schien das interessant, um sich das anzusehen: in den Berlinern Clubs hingegen merkte ich, dass die Musik nix für mich war. Noch ein wenig später, als ich bei einem größeren Event war, merkte ich , dass auch das No More Heroes Konzept hier genau wie im Punk) sehr schnell begraben wurde: Die DJs hingen weit oben und liessen sich zujubeln, und das, wo sie nur ein paar Knöpfchen drehten. Hm.
Nicht nur ehemalige Punks, sondern durchaus auch ex-Skinheads wechselten in die Rave-Szene. :lol:
Ich habe das ähnlich wahrgenommen wie Karl. Die Frühzeit war ziemlich undergroundig und innovativ, leider begann sehr schnell der Ausverkauf, an dessen Ende Auswüchse wie die "Love Parade" standen. Nicht vergessen werden sollte aber, dass wir das Überleben der von der Industrie totgesagten und totgewollten Vinylschallplatte zu einem nicht unerheblichen Teil den DJs in den Techno-Clubs zu verdanken haben!
Rein musikalisch war es auch eher weniger mein Ding, da ich gitarrenorientierte Musik vorziehe. Ebenso konnten die elektronischen Spielarten von Punk und Wave (Industrial, EBM etc.) mich nie wirklich begeistern.
Diktatur der Toleranz

Die Zeit listete den Film in einem Jahresrückblick als einen der schlechtesten des Kinojahres 2023. Besonders bemängelt wurden dabei die Sexszenen, die von der Rezensentin als „pornografisch“ und „lächerlich“ bezeichnet wurden.
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Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR LOUNGE

Beitrag von buxtebrawler »

karlAbundzu hat geschrieben:Zu Beginn der Techno-Bewegung gab es tatsächlich einige Paralellen zum frühen Punk: viel DIY - Gedanken, selbstgemachte Clubs irgendwo, wo es einem gefällt, ob legal oder nicht, jeder kann Musik machen, eigene Vertriebswege schaffen, Bewußtsein gepaart mit Hedonismus, der Hang zu wachhaltenen Drogen, und auch : No More Heroes. Auch mir und einigen von uns schien das interessant, um sich das anzusehen: in den Berlinern Clubs hingegen merkte ich, dass die Musik nix für mich war. Noch ein wenig später, als ich bei einem größeren Event war, merkte ich , dass auch das No More Heroes Konzept hier genau wie im Punk) sehr schnell begraben wurde: Die DJs hingen weit oben und liessen sich zujubeln, und das, wo sie nur ein paar Knöpfchen drehten. Hm.
Sicher, das gab's, aber die totale Inhaltsleere und pure Synthetik hatte für mich nichts mehr mit Punk zu tun. Zumal ich in den '90ern gesehen habe, welche Menschen diese Musik konsumierten: Inhaltsleere, synthetische. Von Punk-Attitüde oder Rebellion keine Spur.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Beitrag von buxtebrawler »

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Rocko Schamoni – Dorfpunks

„Sie hatten Angst vor uns und machten sich gleichzeitig Sorgen. Geile Mischung.“

Tobias Albrecht alias Rocko Schamoni ist nicht nur Entertainer, Musiker, Telefonstreichspieler mit „Studio Braun“ und Mitglied der Partei Die PARTEI, sondern auch Roman-Autor. Im Jahre 2000 debütierte er mit „Risiko des Ruhms“, einer autobiographisch anmutenden Kurzgeschichtensammlung, die jedoch angeblich frei erfunden ist. Bis heute habe ich noch keine Lust verspürt, mir jenen Schmöker einmal vorzuknöpfen. Anders verhielt es sich da mit dem Nachfolger, dem 2004 bei Rowohlt erschienenen und zum Überraschungserfolg avancierten „Dorfpunks“. Erneut könnten die Kapitel als autobiographische Kurzgeschichten bezeichnet werden – und diesmal haben sie sich anscheinend tatsächlich so oder so ähnlich zugetragen. Mir liegt die zweite Auflage aus dem Januar 2006 vor.

Schamoni scheint in „Dorfpunks“ seine Jugend zwischen dem zwölften und dem 22. Lebensjahr im schleswig-holsteinischen Lütjenburg, das er hier Schmalenstedt nennt, aufzuarbeiten. Dorthin hatten ihn seine Eltern gepflanzt, nachdem sie ebenda ein altes Bauernhaus erworben und renoviert hatten. Der in 47 kurze, maximal achtseitige Kapitel und einen Epilog unterteilte, rund 200-seitige Roman beginnt mit ungezwungenen Schwänken aus dem Leben eines Dorfkinds hippieesker Pädagogen – beide Elternteile waren Lehrer. Dazu gehörte offenbar auch das Misshandeln wehrloser Tiere, was der Ich-Erzähler nonchalant beschreibt. Das alles liest sich zunächst wie eine ungeschönte Anekdotensammlung, in der es zunehmend um Härte und Männlichkeit geht – Pubertät eben. Mir gefällt die mitschwingende positive Konnotation des Wörtchens „Hass“ als Antriebskraft und Aufputschmittel. Gehört wird Hardrock und Artverwandtes. Die NWOBHM-Band Saxon schreibt Schamoni versehentlich mit Doppel-x, wie man AC/DC schreibt, weiß er aber – und verfasst den besten Konzertbericht über die Australier, den ich jemals gelesen habe. „I’m a live wire“, Digger!

Lange darüber zu sinnieren, wie es der Begriff „Mordsgaudi“ in den Sprachschatz eines Schleswig-Holsteiners geschafft hat, lohnt sich nicht, denn nach dem ersten Viertel beginnt Schamonis Punkwerdung. Auf dem Dorf ist es selbstverständlich, betrunken ein Kfz zu steuern, als Punk erst recht. Roddy Dangerblood wird er sich bald nennen und damit seine alte Identität abstreifen wie eine lästig, weil zu eng gewordene Jacke. Sehr anschaulich werden die Gründe nachlassender Leistungen in der Schule geschildert, wovon auch der Verfasser dieser Zeilen ein Lied singen kann. Natürlich gibt es eine dilettantische erste Band und natürlich auch Ärger mit den Dorfprolls, teils herrlich absurd. Als man beginnt, sich auf dem örtlichen Marktplatz zu treffen, wird’s dann auch so richtig punkig. Nun war man wer. Eigenartigerweise schien das Meier’s so etwas wie eine okaye Dorfdisse zu sein, in der die Punks willkommen waren und weitestgehend unbehelligt blieben. Ich erkenne in „Dorfpunks“ ja einiges aus meiner eigenen Vita wieder, aber das gab es zu meiner Zeit bereits nicht mehr. Beim Angriff der „Born to be Wild“-Rocker aufs Meier’s allerdings blieb kaum ein Stein auf dem anderen.

„Der Sommer 1983 war der Höhepunkt der Punkrockbewegung in Schmalenstedt. Sechs Jahre nach dem Höhepunkt in England.“

Irgendwann wird Dangerblood ins Jugendaufbauwerk der Heilsarmee gesteckt, wo man ihn grundgesetzwidrig erpresst: Nietenarmbänder oder Mittagessen. Später zieht es ihn in seiner Freizeit nach Berlin, wo er als Wohlstandsjunge einen Schnorrpunk spielt. Gute Punktexte zu schreiben bekommt er leider nicht hin, widmet sich daher schließlich irrelevanter Stimmungsmusik. Anders als manch urbaner Arroganzpunk (vgl. „Verschwende deine Jugend“) war Schamoni aber musikalisch schon immer breiter aufgestellt und interessiert, wie er immer wieder auch in „Dorfpunks“ fallen lässt. Nach einer Science-Fiction-Episode lernt er Alfred Hilsberg kennen, außerdem die Goldenen Zitronen, damals Timmendorfer, und Die Toten Hosen. Mit seiner Zwei-Mann-Band, den Amigos, verpasst er die große Chance, direkt im Anschluss an einen Hosen-Gig vor großem Publikum zu spielen. Ein tragikomisches Kapitel, wie so viele.

Obligatorisch sind diverse Schwärmer-, Schmachter- und Liebeleien in Bezug aufs weibliche Geschlecht, insbesondere, wenn der Autor zum Ende hin seine erste ernsthafte Beziehung Revue passieren lässt, doch nach meiner x Jahre zurückliegenden Erstlektüre war vor allem eines bei mir hängengeblieben: Die unheimliche Tristesse, die Schamonis Alltag bestimmt, als er auf Drängen seiner Mutter hin eine Töpferlehre beginnt – und durchzieht. Unfassbar! Auch jetzt schaudert es mich, wenn ich an diese Episoden zurückdenke, derart anschaulich und nachvollziehbar hat er seine damalige Gefühlswelt in Worte gefasst. Das sagt aber natürlich auch etwas über mich aus, was ich schon vorher wusste: Meine eigene Angst davor, zu einem solchen oder ähnlichen Job verdammt und von der Außenwelt isoliert zu sein. Andererseits gelingt es Schamonis jüngerem Ich, aus dieser Langeweile Kreativität entstehen zu lassen und D.I.Y.-Projekten nachzugehen, was sicherlich gern als Empfehlung gelesen kann, sollte man sich einmal selbst in einer ähnlich unwirtlichen Situation befinden.

Schamoni räumt kräftig mit urbaner Arroganz auf, beherrscht einen humorvollen und zugleich melancholischen Schreibstil und stellt seinen Hang zur Selbstironie und zu überspitzten Metaphern unter Beweis. Im Präteritum hangelt sich sein autobiographischer Erzähler nach einer Art Prolog chronologisch an seiner Sozialisation entlang, die in einen Entfremdungsprozess von seinen Eltern und deren Welt sowie von gesellschaftlichen Erwartungen mündet. Es wird ein Gefühl dafür vermittelt, wie schön und zugleich einengend das Dorfleben sein kann, paradox und widersprüchlich wie der Punk. Der stilistisch abweichende Epilog übers Loslassen und den Abschied von Jugend und alter Liebe legt die Deutung nahe, er habe mit „Dorfpunks“ beides verarbeiten und hinter sich lassen können. Ob er das wirklich hat...?
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)
Diese Filme sind züchisch krank!
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