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The curious Case of Benjamin Button.jpg (56.33 KiB) 205 mal betrachtet
Originaltitel: The curious Case of Benjamin Button
Herstellungsland: USA / 2007
Regie: David Fincher
Darsteller(innen): Brad Pitt, Cate Blanchett, Taraji P. Henson, Julia Ormond, Jason Flemyng, Mahershala Ali, Jared Harris, Elias Koteas, Phyllis Somerville, Tilda Swinton, Faune Chambers Watkins, Donna Duplantier u. A.
Menschen werden geboren, wachsen heran, machen Erfahrungen, reifen und altern, so ist es immer und wird es immer bleiben. Abgesehen mal von der einen Ausnahme, von Benjamin Button (Brad Pitt), der zu Zeiten des 1.Weltkriegs auf die Welt kommt. Benjamin ist nicht wie jedes andere Baby, er erblickt das Licht der Welt mit dem Gesicht eines Greises. Und während er innerlich heranwächst, wird sein Körper mit der Zeit immer jünger. Damit will sein Vater nach dem Tod seiner Mutter im Kindbett nichts zu tun haben und setzt den Jungen aus, doch seine Finderin Queenie nimmt ihn stattdessen auf, wo der Junge in einem Altersheim unter seinesgleich (zumindest optisch) heranwächst. Dort begegnet er auch der jungen Daisy (Cate Blanchett), die die große Liebe seines Lebens werden soll, doch Benjamins junger Geist steckt in einem alten Körper und es steht zu befürchten, daß er als körperlich junger Mann schon von geistigem Verfall befallen sein wird. Button zieht in die Welt hinaus in dem Bewußtsein, daß er nur an einem Punkt in seinem Leben mit Daisy auf einer Höhe sein wird - doch das ist kein Grund, ein Leben nicht zu leben...
„Wie alt bist du?“ – „Sieben! Aber ich sehe viel älter aus.“
Zwischen „Zodiac – Die Spur des Killers“ und „The Social Network“ kam im Jahre 2008 US-Regie-Genie David Finchers hochbudgetierte Adaption einer Kurzgeschichte F. Scott Fitzgeralds in die Kinos: „Der seltsame Fall des Benjamin Button“, ein Fantasy-Märchen und Liebesdrama.
„Ulkig!“
Benjamin Button (u.a. Brad Pitt, „Fight Club“) ist ein Wunder – oder ein Fehler? – der Natur: Als er während des Ersten Weltkriegs geboren wird, hat er das Gesicht eines altes Mannes. Während er im Laufe der Jahre geistig eine normale Entwicklung vornimmt, wird sein wachsender Körper von Tag zu Tag ein wenig jünger. Benjamins Mutter ist bei seiner Geburt verstorben und seinem Vater (Jason Flemyng, „Mirrors“) war er unheimlich, weshalb er ihn aussetzte. Benjamin wurde von Queenie (Taraji P. Henson, „Vier Brüder“) gefunden, die ihn in ihrem Altersheim unterbrachte. Dort wächst er unter Greisen auf und beobachtet den Lauf des Lebens bzw. dessen Vergänglichkeit, lernt jedoch auch das kleine Mädchen Daisy (ganz jung: Elle Fanning, „Phoebe im Wunderland, zehnjährig: Madisen Beaty, „Family Man“, erwachsen: Cate Blanchett, „Aviator“) kennen, in das er sich später verlieben wird – und sie sich nach einigen Umwegen in ihn. Doch gibt es unter diesen Voraussetzungen neben gegenseitigem Gefallen ein stabiles Fundament für eine Partnerschaft? Benjamin jedenfalls lässt sich von seinen biologischen Besonderheiten weder von der Liebe zu Daisy noch von seiner Neugier und seinem Entdeckerdrang abhalten und erkundet die große, weite Welt...
„Du bist anders als andere Kinder...“
Es gibt verschiedene Gründe, sich „Der seltsame Fall des Benjamin Button“ anzusehen: Das Mainstream-Publikum möchte sich eventuell an Brad Pitt erfreuen oder einer ungewöhnlichen Romanze mit viel Herzschmerz beiwohnen, andere sind aufgrund der außergewöhnlich Prämisse neugierig oder erwarten interessante philosophische Perspektiven auf das Leben und Sterben. Nachdem ich den Film jahrelang ignoriert hatte, überwogen bei mir zwei Aspekte: 1. Es ist ein Fincher, von dem ich fast alles andere bereits mit einiger Begeisterung gesehen hatte. Und 2.: Wie zur Hölle würde man das Ende gestaltet haben? Würde man in mikroskopischer Vergrößerung zu sehen bekommen, wie sich ein Spermium von einer Eizelle trennt? Oder was?
„Es ist nichts Schlimmes am Alter!“
Finchers Film etabliert zunächst eine Rahmenhandlung, die zwei Jahre nach Benjamins Tod einsetzt und im August 2005 spielt, während der Hurrikan Katrina wütet. Daisy, inzwischen eine alte Frau, liegt im Sterben. Ihre Tochter Caroline (Julia Ormond, „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“) sitzt an ihrem Bett und lässt sich von ihrer Mutter die Geschichte vom blinden Uhrmacher Mr. Gateau (Elias Koteas, „Gattaca“) erzählen, der eine gegen den Uhrzeigersinn laufende Uhr entwickelt habe. Anschließend liest sie aus Benjamin Buttons Tagebuch vor, woraus sich die eigentliche Handlung in Form einer Rückblende entwickelt, zunächst noch von Daisy per Voice-over kommentiert. Daisy verstummt schließlich, dafür stößt Benjamin als gelegentlicher Off-Sprecher hinzu. Dass es sich bei den Geschehnissen um eine Erzählung Daisys handelt, wird durch eingestreute Unterbrechungen, die das Mutter-Tochter-Gespann in der Gegenwart zeigen, im weiteren Verlauf wiederholt ins Gedächtnis gerufen.
„Unser Leben wird von Gelegenheiten bestimmt – sogar von denen, die wir verpassen.“
In der Rückblende stechen die bizarren Masken und Make-up-Effekte ebenso ins Auge wie die schöne Rekonstruktion der 1920er-Jahre in New Orleans, Louisiana, wo sie zunächst angesiedelt wurde. Stilistisch wirkt das alles nicht nur aufgrund des Vorlesekonzepts sehr märchenhaft, Benjamin heuert auf einem Schlepper an und entdeckt seine Leidenschaft fürs Reisen. Allerdings scheint der Film Prostitution sehr unkritisch zu betrachten, was ihm tatsächlich kurzzeitig einen leicht sleazigen Touch verleiht. Benjamin lernt im weiteren Verlauf unwissentlich seinen Vater kennen, noch skurriler mutet es allerdings an, dass seine Adoptivmutter viel jünger aussieht als Benjamin. Von diesem Durcheinanderbringen von Familienstandards geht ein bizarrer Reiz aus, den der Film auszukosten versteht. 1936 zieht er 17-jährig aus dem Altersheim aus; der Film hat sich zu einem opulenten, viele verschiedene Zeitebenen umfassenden Ausstattungsepos entwickelt und man ahnt, weshalb Fincher fast 160 Minuten Laufzeit für diese Geschichte benötigte. Benjamin wird in seinen unterschiedlichen Altersstufen von Charles Henry Wyson („Journeyman - Der Zeitspringer“), Chandler Canterbury („Powder Blue“), Spencer Daniels („The Least of These“), Peter Donald Badalamenti II („Full Grown Men“), Robert Towers („Masters of the Universe“), Tom Everett („Leatherface: Texas Chainsaw Massacre III“) und eben Brad Pitt gespielt – welch ein Aufwand!
„Wir alle enden mal in Windeln!“
Verantwortlich für diese Adaption zeichnen die Drehbuchautoren Eric Roth und Robin Swicord, wobei von Roth auch das Drehbuch zu Forrest Gump stammt – was die Parallelen zu jenem Kino-Welterfolg erklärt. Wie einst Gump klappert auch Button mehrere Jahrzehnte ab, wenngleich hier weit weniger historische Ereignisse abgehandelt werden. Dennoch begibt man sich mit Benjamin in Kriegsszenen auf dem Wasser, bevor sein Vater ihm reinen Wein einschenkt und ihm seine Knopffabrik vererben will. In den 1950ern besucht man zusammen mit dem Protagonisten New York und Paris, leidet mit ihm, wenn Daisy zunächst nicht mit ihm zusammen sein will, bestaunt wunderbare Landschaftsaufnahmen, als er 1962 dann doch mit ihr zusammenkommt, und kann sich schließlich vergewissern, dass es sich bei Caroline, die all dies vorgelesen bekommt, um die gemeinsame Tochter handelt. Nach ihrer Geburt wird sie im Tagebuch gar direkt angesprochen. Mitunter fühlt man sich selbst direkt aufgefordert, beispielsweise beim Appell, die Freiheiten des Lebens zu nutzen und auszukosten. So weit, so gut, so Allgemeinplatz. Bis hierhin war Benjamin stets Sympathieträger, wenn auch einer ohne nennenswerte Ecken oder Kanten, ohne wirkliche Fehler, handfeste moralische Verfehlungen oder sonst irgendetwas in diese Richtung. Nun jedoch nimmt sein „Charakter“, sofern man der, von ihren biologischen Besonderheiten einmal abgesehen, etwas eindimensionalen Figur einen attestieren kann, eine eigenartige Wendung, von der ich mir nicht sicher bin, ob sie seitens der Filmemacher überhaupt als frag- und kritikwürdig angesehen wurde: Benjamin entzieht sich der Verantwortung für seine Tochter, was er mit seiner zunehmenden Verjüngung begründet – die geistig aber doch gar nicht stattfindet. Stattdessen geht er ausgiebig seine Freiheit auskosten…
Da dies offenbar Teil der Aussage, Teil des Ergebnisses der zuvor immer wieder aufgeblitzten philosophischen Überlegungen des Films ist, bleibt ein etwas fader Nachgeschmack, der jeglichen Bemühungen um Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern in die Beine grätscht. Fincher und sein Team arbeiten indes viel mit gedeckten Farben, mit Braun- und Sepiatönen, bescheren ihrem Publikum ein auf technischer und ästhetischer Ebene mitunter ein bisschen wie Fincher goes Tim Burton wirkendes, nahezu perfektes sowie hochkarätig besetztes audiovisuelles Vergnügen und haben glücklicherweise dann auch doch etwas mehr zu sagen. Denn „Der seltsame Fall des Benjamin Button“ ist allen Kritikpunkten zum Trotz ein berührender und verständnisvoller Film über Abschied und Verlust geworden, dessen Finale Parallelen zwischen Altersdemenz und frühem menschlichem Entwicklungsstadium zieht und mit einem Plädoyer für Diversität schließt.
Seine Oscars für Szenenbild, Make-up und Effekte seien ihm gegönnt. Um nicht alles zu spoilern, lasse ich meine eingangs erwähnte Frage nach Spermium und Eizelle unbeantwortet, erlaube mir aber noch anzumerken, dass, so sehr ich mittlerweile den Reiz dieser Mischung Märchen, Fantasy, Biografie, Romanze, Drama, Ausstattungskino und ein wenig Geschichtsunterricht auch nachvollziehen kann, ich weniger Mainstream-taugliche oder kontroversere Filme Finchers dann doch bevorzuge.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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