Du lebst noch 105 Minuten - Anatole Litvak (1948)

Moderator: jogiwan

Antworten
Benutzeravatar
CamperVan.Helsing
Beiträge: 10910
Registriert: Sa 26. Dez 2009, 12:40

Du lebst noch 105 Minuten - Anatole Litvak (1948)

Beitrag von CamperVan.Helsing »

Bild

USA 1948

OT: Sorry, wrong number

R: Anatole Litvak

D: Barbara Stanwyck, Burt Lancaster


Abends halb zehn in Deutschland New York: Leona Stevenson ist schwerreich, aber auch schwerkrank und ans Bett gefesselt. Ehemann Henry wollte um sechs zuhause sein, ist aber noch nicht da, das Hausmädchen hat gerade, weil Henry pünktlich da sein sollte, frei. Sie ist allein im Haus und versucht erneut, Henry telefonisch zu erreichen. Durch eine Fehlschaltung hört sie stattdessen das Gespräch zweier Männer, die noch einmal die Details eines zu begehenden Auftragsmordes durchgehen, der um 11.15 Uhr durchgeführt werden soll.

Nachdem die Polizei wenig Interesse zeigt, versucht Leona telefonisch weiterhin den Verbleib ihres Gatten ausfindig zu machen. Von dessen Sekretärin erfährt sie, dass am Nachmittag eine Frau im Büro aufkreuzte, Henry sich umgehend mit ihr verabredete und danach nicht mehr ins Büro zurückkehrte. Weitere ein- und ausgehende Telefonate Leonas folgen, wobei die Gesprächsinhalte als ausgiebige Rückblenden erzählt werden. So erfahren wir, dass die aus einer vermögenden Familie stammende Leona den armen Schlucker Henry einst ihrer Freundin Susan wegschnappte und gegen den Willen ihres Vaters heiratete. Nun ist Henry offiziell Vizepräsident im Konzern seines Schwiegervaters, hat aber praktisch weder etwas zu sagen noch etwas zu tun. Versuche, einen anderen Arbeitgeber zu finden, wurden von Leonas Vater sabotiert, und Leonas Herzerkrankung macht sie praktisch zum Pflegefall. Henry kommt sich zu recht vor wie in einem goldenen Käfig.

Bei der Dame, die am Nachmittag in Henrys Büro kam, handelt es sich Susan, die seit Jahren keinen Kontakt mehr zu den Stevensons hatte und nun mit einem Staatsanwalt verheiratet ist. Und in dessen aktuellen Ermittlungen geht es um Vorgänge beim Cotterell-Konzern von Leonas Vater und immer öfter fällt dabei der Name Stevenson. Und genau deshalb wollte Susan mit Henry sprechen. Was geht in der Firma vor? Was hat Henry mit einem heruntergekommenen Haus am Strand von Staten Island zu tun? Und wer ist dieser Mr. Evans, der Stevenson unbedingt kurzfristig sprechen will?

Je mehr Informationen Leona erhält, desto mehr deformieren sie ihre Selbstwahrnehmung. Und dann wird ihr klar: Die beiden Männer am Telefon sprachen über den Mord an ihr!


Da die Handlung des Films sich in Leonas Schlafzimmer konzentriert, handelt es sich mehr oder weniger um eine One-woman-Show von Barbara Stanwyck. Und die meistert sie mit Bravour. Im Luxus aufgewachsen, ist sie daran gewöhnt, zu bekommen, was sie haben will, wie z.B. auch Henry. Leider ist dessen Dressur nicht vollständig geglückt, er zeigt immer noch Spuren selbstständigen Denkens und versucht gar, sich der Umklammerung zu entziehen. Das freilich geht so nicht, was für ein Glück, dass Leona so schwer krank ist. Den Zuschauer von heute wird es nicht großartig überraschen, als sich herausstellt, dass das Herz sehr wohl organisch gesund ist. Psychisch steht es um Leona in der Tat nicht gut, bei dieser Mischung aus schwerer Neurose mit Realitätsverweigerung und reiche-Leute-Gehabe wünscht man sich dann, dass der Killer doch jetzt mal zur Tat schreiten möge...

Das Ende dieses gut gemachten Psychothrillers hält dann noch eine Überraschung parat.

Zum Glück gibt es hier ARTE, denn auf Scheibe gibt es nur hochgradig zweifelhafte Discs, die bitte nicht aus dem Laser-Paradies abgeholt werden möchten.
My conscience is clear

(Fred Olen Ray)
Benutzeravatar
sergio petroni
Beiträge: 8458
Registriert: Sa 2. Feb 2013, 20:31
Wohnort: im Schwarzen Wald

Re: Du lebst noch 105 Minuten - Anatole Litvak (1948)

Beitrag von sergio petroni »

Oh, der hatte hier noch keinen Fred! :-o
DrDjangoMD hat geschrieben:„Wohl steht das Haus gezimmert und gefügt, doch ach – es wankt der Grund auf dem wir bauten.“
Benutzeravatar
buxtebrawler
Forum Admin
Beiträge: 41737
Registriert: Mo 14. Dez 2009, 23:13
Wohnort: Wo der Hund mit dem Schwanz bellt.
Kontaktdaten:

Re: Du lebst noch 105 Minuten - Anatole Litvak (1948)

Beitrag von buxtebrawler »

„Henry, warum bist du jetzt nicht hier...?“

Das zum Film noir zu zählende Kriminaldrama „Du lebst noch 105 Minuten“ verfilmte der in Kiew geborene Regisseur Anatole Litvak („Die Schlangengrube“) auf Grundlage eines beliebten Radiohörspiels Lucille Fletchers. Der Film gelangte im Jahre 1948 in die Kinos.

„Ist der Apparat gestört?“

Die vermögende, aber ans Bett gefesselte New Yorkerin Leona Stevenson (Barbara Stanwyck, „Frau ohne Gewissen“) vermisst eines Abends ihren Gatten Henry (Burt Lancaster, „Zelle R 17“), der eigentlich vor dreieinhalb Stunden nach Hause hätte kommen wollen. Sie versucht, ihn anzurufen, doch die Vermittlungsstelle verursacht eine Fehlschaltung, durch die sie unfreiwillige Ohrenzeugin eines Gesprächs zweier Männer wird, die ein Mordkomplott besprechen. Um 23:15 Uhr – also in 105 Minuten – soll der Mordanschlag stattfinden. Umgehend informiert sie die Polizei, die jedoch keinerlei Anstalten macht, tätig zu werden. Immerhin erfährt sie von Henrys Sekretärin, dass ihr Mann sich offenbar mit einer anderen Frau verabredet hat. Während sie in Erinnerungen an ihre Beziehung zu Henry schwelgt, wird ihr irgendwann unweigerlich klar: Das Mordopfer wird sie selbst sein!

„Dieses schreckliche Telefon!“

Die Grundidee dieses Stoffs ist überaus reizvoll, wenn auch etwas sehr konstruiert. Im Vorspann wirft das Telefon bereits einen langen, unheilschwangeren Schatten. Ein Scrolltext verweist reißerisch auf die Ambivalenz telefonisch übermittelter Nachrichten, bevor wir Leona rauchend im Bett liegend und ins Vermittlungschaos geratend sehen. Während sie nach dem schicksalhaften Telefonat mittels weiterer Telefongespräche erfolglos Hilfe ersucht, tastet die Kamera ihre Wohnung ab. Sie telefoniert mit ihrem Vater, dessen Wohnung ebenfalls von der Kamera abgefahren, doch nicht einmal er nimmt die Bedrohung ernst. Die erste Rückblende, die den Kammerspielcharakter des Films aufbricht, findet während ihres Telefonats mit der Sekretärin ihres Mannes statt. Ein Mr. Evans (Harold Vermilyea, „Spiel mit dem Tode“) ruft für Henry an, weitere Telefonate sind die Folge und die Angelegenheit wird immer verworrener.

„Wenn man etwas will, dann sollte man es sich nehmen!“

Die nächste, nun recht ausgedehnte Rückblende versorgt die Zuschauerschaft mit reichlich Hintergrundinformationen: Leona erinnert sich an ihre Freundin Sally (Ann Richards, „Liebesbriefe“) und wie sie Henry auf einem Ball an einem Frauencollege kennenlernte. Sie grub ihn sehr offensiv an – und spannte ihn damit Sally aus. Doch Henry ist besitzlos und Leonas Vater gegen eine Beziehung seiner Tochter zu einem armen Schlucker. Dennoch heiraten die beiden. Zurück in der Gegenwart ruft Sally an, bevor eine weitere Rückblende zeigt, was diese mit ihrem Mann Fred (Leif Erickson, „Abbott und Costello unter Kannibalen“) erlebt hat. Nun jedenfalls hat Sally ein verdächtiges Telefonat ihres Mannes mitgehört und ihn daraufhin beobachtet, was sie nach Staten Island verschlug. In der nächsten Rückblende berichtet sie von ihrem Treffen mit Henry. Dann klingelt es an Leonas Tür, aber bettlägerig, wie sie ist, kann sie nicht öffnen. Sally ruft wieder an, Leona misstraut ihr, sie erzählt Ungeheuerliches. Nun erhält Leona ein telefonisches Telegramm Henrys. Der Film bleibt seinem Stil treu und man weiß stets beinahe nur so viel wie Leona. Weiteren Aufschluss liefert eine Rückblende in ein Gespräch Henrys mit Leonas Arzt, die in eine weitere Rückblende übergeht: Ehekrise. Unterredung ihres Vaters mit Henry. Aufgrund der sozialen Ungleichheit eine überaus konfliktreiche Ehe. Und möglicherweise ist Leona auch gar nicht herzkrank, sondern eine hypochondrische Simulantin. Mr. Evans unternimmt Telefonterror bei Leona und wird irgendwann noir-gerecht als dunkler Schatten gezeigt. Auch er erhält seine Rückblende und als Henry jemanden zu illegalen Aktivitäten zu überreden versucht, schüttet es – ganz so, wie es die Filmgattung verlangt – aus Kübeln.

Hat man sich erst einmal an die ungewöhnliche, etwas komplizierte Erzählweise des Films gewöhnt, legt man ein Psychogramm eines ungleichen Paars frei, das eine toxische Ehe führt. Und in der jeder für sich seine Methoden findet, mit der Situation umzugehen – oder sie eben zu verändern, es zumindest zu versuchen. Leona ist die etwas andere Femme fatale, egozentrisch und larmoyant, dennoch zu echten Gefühlen fähig – nur nicht in der Lage, aufrecht mit ihnen umzugehen. Leona will über ihren Mann wie über ihren materiellen Besitz verfügen und begibt sich – entgegen ihrer eigentlichen Position – in eine Opferrolle, die sie mit einer solchen Überzeugung spielt, dass sie sie selbst glaubt. Henry wiederum hat sich in eine Ehe verflechten lassen, von der seine Existenz abhängt – weshalb er sie auch nicht mir nichts, dir nichts beenden kann, zumindest nicht auf herkömmlichem Wege. Was beide Parteien darüber vergessen, sind die wahrhaftigen Gefühle füreinander, die sie einst zusammenführten. Dass der Film beide sich gegen Ende doch ihrer erinnern lässt, verleiht dem Film eine besonders tragische Note.

„Du lebst noch 105 Minuten“ versucht angesichts seiner Voice-over-Rückblenden gar nicht erst seine Hörspiel-Herkunft zu verbergen, setzt seine Noir-Elemente aber auch auf der visuellen Ebene effektiv ein. Der Film inszeniert erst das Telefon, dann die Ehe als Hort des Schreckens und ist überaus dialoglastig. Daran muss man sich erst einmal gewöhnen, die ständigen Telefonate können einem auch auf die Nerven gehen. Wer genügend Geduld und Empathie mitbringt, wird mit einem sehenswerten Film noir belohnt, der Mitratekrimi, Thriller und Beziehungsdrama in sich vereint – und Burt Lancaster in einer seiner ersten größeren Rollen zeigt.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)
Diese Filme sind züchisch krank!
Antworten