O Vampiro da Cinemateca - Jairo Ferreira (1977)

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Salvatore Baccaro
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O Vampiro da Cinemateca - Jairo Ferreira (1977)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Originaltitel: O Vampiro da Cinemateca

Produktionsland: Brasilien 1977

Regie: Jairo Ferreira

Darsteller: Jairo Ferreira, José Mojica Marins, Jards Macalé, Carlos Reichenbach, Lygia Reichenbach
Vor circa einem Jahr tüftle ich mit zwei Freunden am Rande einer wirklich bizarren Konferenz im Wendland folgenden Plan aus: Wieso nicht einmal eine noch bizarrere Konferenz, inklusive Film-Screenings, zum Themenkomplex „Unwatchable Movies“ initiieren? Die Filme, die uns spontan einfallen, gehören natürlich allesamt zu der Fraktion, die mit Tabubrüchen nur so um sich schmeißt, und gelten deshalb gemeinhin als unansehnlich, weil in ihnen abjekte Phänomene bebildert werden, von denen unsere moderne Gesellschaft partout nichts wissen möchte: Die Kotz-Orgien von Lucifer Valentines SLAUGHTERED VOMIT DOLLS beispielweise, oder die weder mit Tierleid noch mit Fäkalien geizenden mitgefilmten Performance-Aktionen der Wiener Aktionisten um Otto Mühl. Würde man den Rahmen weiter fassen, und auch Werke mit ins Programm nehmen wollen, die deshalb fernab jedweder Konsumierbarkeit liegen, weil sie sich ganz bewusst mit dem Rücken zu ihrem Publikum stellen, um es nicht etwa zu unterhalten, sondern psychisch und physisch fertigzumachen, dann habe ich einen wirklich wie die Faust aufs Auge passenden Kandidaten in Form eines obskuren brasilianischen Streifens aus dem Jahre 1977 namens O VAMPIRO DA CINEMATECA gefunden. Nein, was der hauptamtliche Filmkritiker und Buchautor (unter anderem über die „Cinema-Marginal“-Epoche des brasilianischen Kinos) Jairo Ferreira uns hier vorsetzt, das ist nicht etwa ein vergessenes Horrorstück im Geiste José Mojica Marins und hat schon gar nichts mit Roland Lethems gleichnamigem, vergleichsweise zugänglichem Experimentalfilm LE VAMPIRE DE LA CINÉMATHÈQUE von 1971 zu tun. In einem Satz zusammengefasst: O VAMPIRO DA CINEMATECA ist selbst für jemanden wie mich, der sich in den obskureren Nischen der Filmgeschichte inzwischen wie zu Hause fühlt, das härteste kinematographische Brot, das meine armen Zähne sich vorstellen können…

Worum es geht, diese Frage macht im Hinblick auf Ferreiras einstündiges, wie es im Vorspann heißt, „seltsames kinematographisches Abenteuer“ genauso viel Sinn, wie eine Inhaltsangabe eines aktuellen Godard-Films zu verfassen. Dass die imdb das Werk unter dem Genre-Tag „Comedy“ listet, leistet ebenfalls keine Hilfestellung, denn, um ehrlich zu sein, angesichts des Gewitters aus zusammenhanglosen Bildern, Ideen und Referenzen, mit denen Ferreira mich beschießt, erstirbt mir das Lachen bald in der Kehle. O VAMPIRO DA CINEMATECA kann man am ehesten wohl mit den Ikonoklasmen der jungen Wilden von der sogenannten „Zanzibar-„Bewegung – Philippe Garrel, Serge Bard, Jackie Raynal – vergleichen, die Ende der 60er der, ihrer Meinung nach, längst in Konventionen und Kommerz erstarrten Nouvelle Vague den Kampf erklären, indem sie sich in Filmen mit ungewöhnlichen Laufzeitlängen, ohne Ton, ohne kohärente Narration, ohne die geringsten Zugeständnisse an den Massengeschmack verausgaben. Wenn eine Sache bei O VAMPIRO DA CINEMETACA jedenfalls klar ist, dann, dass wir es hier mit einem steif emporreckten Mittelfinger gegen alles und jeden zu tun haben: Dass ich mich nach „Genuss“ des Films also wie gerädert fühlte, dürfte durchaus der Agenda des Filmemachers entsprechen.

Was sehen wir? In Lichtspieltheatern werden der Vincent-Price-Schocker DR. PHIBES RISES AGAIN, die Geburtsstunde Zé do Caixaos À MEIA-NOITE LEVAREI SUA ALMA, Leni Riefenstahls TRIUMPH DES WILLENS direkt von der Leinwand abgefilmt. Ein Mann sitzt im Projektionsraum herum, und rezitiert Sätze wie aus einem vulgären Porno, wozu dann sinnfällig auch eine Hardcore-Penetration eingespielt wird. Lange fährt man nachts mit dem Auto durch Sao Paulo und zelebriert das irisierende Spiel der Reklamelichter und Straßenlaternen einfach um seiner selbst willen auf 8mm-Material. Ein anderer Mann steht vor seinem eigenen Spiegelbild und spuckt diesem Blut ins Gesicht. Ein dritter Mann liest uns einzelne Einträge aus der „Film Buff’s Bible“ vor. Zwischendurch werden Interviewszenen mit Glauber Rocha eingeblendet, wobei Ferreira seine Verachtung diesem Heros des Cinema Novo gegenüber zum Ausdruck bringt, indem er ihn sinnentstellend nachsynchronisiert und einige ordinäre Worte in den Mund legt. Eine Dziga-Vertov-Hommage, den Ferreira wohl ganz in Ordnung findet, darf in einer Szene, in der sich eine Kamera eigenständig zusammenbaut und auf ihren Stelzen herumstolziert, ebenso wenig fehlen wie an anderer Stelle unmotivierte Auftritte schlechter Spezialeffekte, die einen Ufo-Flug simulieren sollen.

Was bekommen wir zu hören? Eine tiefgemischte Geisterbahn-Stimme kommentiert über weite Strecken den disparaten Bilderbogen mit Pennälerhumor. Im Off droppt man Namen wie Marcel Duchamp oder Oswaldo de Andrade, rezitiert Lautréamont und William Blake. Im auditiven Tohuwabohu erhascht man den einen oder anderen vertrauten Song: Alice Coopers „No More Mr. Nice Guy“, oder „Mao Mao“, den Godard in LA CHINOISE verwendet, oder Händels Sarabande, die das akustische Erkennungsmerkmal von Kubricks BARRY LYNDON darstellt. Viel wird gesprochen in O VAMPIRO DA CINEMETACA, und dennoch, meinem Gefühl nach, wenig wirklich Relevantes gesagt. Was ich mitgenommen habe, das sind Schlagwortthesen wie, dass jedes Drehbuch per se bereits ein Meta-Film sei, oder dass der große Makel des Cinema Novo es bedeute, sich für politisch links zu halten, obwohl es, im Gegenteil, eher rechts ausgerichtet gewesen sei, oder den immerhin einprägsamen Slogan: FILMING FILMS THAT FILM FILMS! Was genau Ferreira nun ernstmeint und was nicht, lässt sich kaum eruieren: Hält er Orson Welles CITIZEN KANE wirklich für eine Meilenstein der Kinohistorie, oder verstehe ich die Ironie einfach nicht? Soll ich seine Anklage eines popkulturellen Kolonialismus, der die genuin brasilianische Kultur bedrohe, für bare Münze nehmen, oder greift er einfach konservative Argumente auf, um sie zu karikieren? Nur bei einem bin ich mir sicher: Dass der Film mit Aufnahmen von José Mojica Marins „Coffin Joe“ endet, das hat etwas mit ehrlicher Begeisterung diesem Maverick des lateinamerikanischen Kinos gegenüber zu tun, der dann auch außerhalb der Leinwand zu Ferreiras Freundeskreis zählte.

Was bleibt hängen von O VAMPIRO DA CINEMATECA? Ich fürchte, vom eigentlichen Film nicht viel mehr als verwaschene Aufnahmen von Fernsehschirmen und Kinoleinwänden, ein paar obszöne Kalauer und das Gefühl, eine der anstrengendsten audio-visuellen Kakophonien meiner gesamten Laufbahn als Cineast beigewohnt zu haben. Ob es jemandem, der vertrauter mit der brasilianischen Popkultur ist als ich es bin, anders ergehen wird, kann ich nicht beurteilen, mag es dann aber doch bezweifeln. Es kommt wirklich nicht oft vor, dass ich bei einem Film, (der, wie gesagt, nur etwas mehr als sechzig Minuten dauert!), gleich mehrmals versucht bin, die Sichtung einfach abzubrechen und mich angenehmeren Dingen zuzuwenden. Allein dafür, dass er es geschafft hat, mich derart aus der Fassung zu bringen, muss man Jairo Ferreira jedoch beinahe schon wieder ehrlichen Tribut zollen.
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