Disorder - Huang Weikai (2009)

Moderator: jogiwan

Antworten
Benutzeravatar
Salvatore Baccaro
Beiträge: 3072
Registriert: Fr 24. Sep 2010, 20:10

Disorder - Huang Weikai (2009)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Disorder-Documentaire-2009.jpg
Disorder-Documentaire-2009.jpg (723.2 KiB) 409 mal betrachtet

Originaltitel: Xianshi shi guoqu de weilai

Produktionsland: China 2009

Regie: Huang Weikai

Darsteller: Polizisten, Passanten, freilaufende Schweine in chinesischen Großstädten


Abt.: "It's getting faster, moving faster now / It's getting out of hand / Lights are flashing, cars are crashing / Getting frequent now!"

Ende der 20er entdeckt das Stummfilmkino die Großstadtsymphonie für sich. Den Grundstein legt Walter Ruttmann 1927 mit BERLIN – SYMPHONIE EINER GROSSSTADT, einem Panoramaschwenk über die pulsierende Hauptstadt des Deutschen Reichs, bei dem sowohl dem industriellen Aufschwung Berlins Rechnung getragen wird, aber auch die Arbeitsverhältnisse und sozialen Bedingungen seiner Bewohnen abgebildet werden und vor allem der hektische Alltag seinen Niederschlag in einer atemberaubenden, virtuosen Montage findet. Für Ruttmann ist Berlin ein lebender Organismus, ein großes Tier, in dem es wuselt und pumpt, eine Maschine, zusammengesetzt aus tausenden Rädchen, die sie am Laufen halten – ein Lobgesang auf die moderne Metropole, die beispielweise Siegfried Kracauer zu der scharfen Kritik reizt, dass es Ruttmann primär um Ästhetik ginge, und nicht darum, mit seiner Kameralinse wirklich in den Problemen der Zeit zu stochern. Trotzdem – oder gerade deshalb – wird Ruttmanns BERLIN-Film zur Blaupause etlicher Projekte, die sich an dem Film abarbeiten: 1929 huldigt Joris Iven dem verregneten Amsterdam in REGEN (1929); Adalberto Kemeny und Rudolf Rex Lustig wenden Ruttmanns Konzept auf die bevölkerungsreichste Stadt Brasiliens an und drehen SAO PAULO, SINFONIA DA METRÓPOLE (1929); Corrado d’Errico wählt einen experimentell-futuristischen Ansatz, wenn er abtaucht in die Nachtclubs und Fabriken von Mailand in STRAMILANO (1929). Achtzig Jahre später ist das Genre noch immer nicht tot: Der chinesische Filmemacher Huang Weikai montiert mit XIANSHI SHI GUOQU DE WEILAI die audiovisuelle Symphonie eines chinesischen Großstadtmolochs – und könnte mit seinen Bildern von Chaos, Anarchie, Gewalteruptionen kaum weiter entfernt sein von seinen Vorbildern am Ende der Stummfilmzeit…

Ein Restaurantkunde alarmiert die Polizei, da er in seinem Essen eine Kakerlake zwischen den Essstäbchen findet, und tatsächlich ist der gesamte Laden durchseucht von den Krabbeltieren; bei einem Verkehrsunfall liegt ein Mann jammernd und meckernd auf der Fahrbahn und sämtliche Passanten sowie die Polizei vermuten in ihm einen Simulanten, fordern ihn auf, sich endlich aufzurichten, tragen ihn schließlich davon; ein Schweinelaster hat die Leitplanke gerammt, worauf seine Lebendfracht sich aus dem Staub macht und über die Autobahn spaziert; ein Mann steht halbnackt auf einem Brückengeländer und droht, sich in die Tiefe zu stürzen, wenn nicht irgendwelche Forderungen seinerseits erfüllt werden sollten.

In DISORDER, wie Huang Weikais Film im internationalen Verleih heißt, hat der Regisseur ein Dutzend Videos zusammenmontiert, die scheinbar von Amateuren in chinesischen Großstädten aufgenommen worden sind, und sie, nehme ich an, nachträglich verfremdet, um ihnen einen einheitlichen grobkörnig-grießigen Look zu verpassen. Freilich wird nicht eine Episode fein säuberlich nach der andern abgehakt, sondern die Gesamtschau sozialer Dysfunktion auch innerhalb der Montage verwirklicht: In kleine Fetzen zerrissen wirbeln die einzelnen Segmente wild durcheinander, verknoten sich, gehen in einer Weise ineinander über, dass wir als Zuschauer selbst zwischenzeitlich genauso die Orientierung verlieren wie die unruhig filmenden Amateurkameramänner, die überforderten Vertreter der Staatsmacht, die verwirrten, unruhigen Menschen, die durch eine vollends aus den Angeln gehobene Welt stolpern, - falls diese Welt denn überhaupt einmal fest in ihren Angeln gesessen haben sollte.

In einem Lebensmittelgeschäft werden massenweise Pfoten von Braun- und Ameisenbären gefunden, was zu dem begründeten Verdacht führt, der gesamte Laden sei lediglich eine Tarnkappe für den Handel mit illegaler Ware animalischen Ursprungs; zwei Männer gehen sich auf offener Straße beinahe an die Gurgel, weil der eine behauptet, vom andern mit Falschgeld übers Ohr gehauen worden zu sein; ein offenkundig desorientierter Mann geistert auf einer mehrspurigen Stadtautobahn herum, wird von einem Polizisten auf den sicheren Seitenstreifen geleitet, spricht kein Wort und verweigert auch das Essen, das man ihm in der Annahme reicht, es handle sich um einen hungrigen Obdachlosen.

Wie genau es möglich gewesen ist, dass all die Amateurkameramänner sich derart dicht an die Fersen von Polizeibeamten heften konnten, bleibt mir schleierhaft, - zumal in einem Land wie China, von dem ich angenommen hätte, dass dieses besonders darauf bedacht ist, kein negatives Bild von sich entstehen zu lassen. Natürlich wurde aber DISORDER im Heimatland seines Regisseurs nicht öffentlich aufgeführt, - und natürlich kann man Weikais Sammelsurium an manchmal komischen, manchmal tragischen, manchmal brutalen Alltagsabsurditäten auch als Kritik an autokratischen Staaten lesen, die nach außen hin ein Saubermann-Image pflegen, in deren Herzen es aber nur so brodelt vor Unausgesprochenem und Verdrängtem. Andererseits würde ich DISORDER gar nicht so sehr darauf reduzieren, eine Zustandsbeschreibung des zeitgenössischen Chinas zu sein. Würde man sich daranmachen, ähnliche Aufnahmen des modernen Berlins, New Yorks, Tokios, Paris, Bombays zu suchen, würde wohl ein ganz ähnlicher Cocktail aus grundlosen Feindseligkeiten – (die Szene, in der mehrere Polizisten scheinbar ohne erkennbaren Anlass einen Mann mit ihren Schlagstöcken niederknüppeln) – , surrealem Wahnwitz – (die Szene, in der sich ein Krokodil in die Innenstadt verirrt hat, und die Polizei sich bei seinem Forttragen mit Passanten herumschlagen muss, die unbedingt den Kopf des Tiers streichen wollen) –, und gesellschaftlichen Verwerfungen – (die Bilder von Menschen, die beim Versuch, eine der vibrierenden Stadtautobahnen zu überqueren, unter die Räder gekommen sind und als blutige Klumpen auf dem Asphalt zurückbleiben) – entstehen.

Ein halbes Stadtviertel ist überschwemmt, weil irgendwelche Rohre geplatzt sind, und im allgemeinen Durcheinander waten sowohl die ihre Häuser in den Fluten ertrinken sehenden Bewohner wie die hilflosen Polizisten knietief im Wasser; ein Archäologe wendet sich an die Polizei da eine historische Stätte kurz davor stünde, von skrupellosen Bauherren dem Erdboden gleichgemacht zu werden; ein alter Mann versucht in waghalsiger Weise, eine mehrspurige Straße zu überqueren, schiebt sich Zentimeter für Zentimeter zwischen den an ihm vorbeischießenden Fahrzeugen vorbei, während ein Polizist auf der gegenüberliegenden Seite ihm eine Moralpredigt hält, er dürfe das doch nicht, ob er denn lebensmüde sei, kommen Sie sofort zurück!

Trotz der Tatsache, dass sie aus disparatestem Bildmaterial zusammengesetzt sind, besitzen Filme wie Ruttmanns BERLIN eine kohärente Struktur, einen dramaturgischen Aufbau, sind klassischen Spannungsbögen verpflichtet: Wir beginnen mit dem Sonnenaufgang und wir schließen mit dem Sonnenuntergang, und dazwischen sehen wir Menschen, die vielleicht nicht immer grenzenlos glücklich sind, aber doch ihre Aufgabe im Leben haben und vor allem teilhaben an einem größeren Ganzen, das ihrem Dasein einen Sinn stiftet. DISORDER demgegenüber erzählt von einer Welt, in der nichts mehr Sinn macht, die Menschen ziellos umhertreiben, und, wenn sie einmal zufällig gegeneinanderstoßen, nur noch mehr chaotisch-destruktive Funken sprühen.

Die möglicherweise aufwühlendste Szene hält Weikai für die letzten Minuten seines Films bereit: Eine Frau wird von Polizeibeamten aus Gründen, die wir nie erfahren, relativ brutal in ihren Mannschaftswagen befördert. Widerstand und Kritik regt sich in der gaffenden Menge. Ein Mann tritt vor, verlangt, dass man die Frau besser behandle, dass man sie freilasse, sie habe nichts getan. Das schaukelt die sowieso schon angespannte Lage nur noch mehr hoch. Als der Mann vordrängt und versucht, die Frau auf eigene Faust zu befreien, wird auch er verhaftet. Nun werfen sich weitere Männer und Frauen dazwischen. Ein Gerangel entsteht. Die Polizei wird von den Passanten überschwemmt, droht mit ihren Schlagstöcken. Die Szene geht unter in einem tosenden Wogen aus Köpfen, Uniformen, Schreien. Ein Rücken gerät vor die Linse des immer hektischer filmenden Kameramanns. Schwarzblende.
Antworten