Tabeta hito - Kazufumi Fujino (1963)

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Salvatore Baccaro
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Tabeta hito - Kazufumi Fujino (1963)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Tabeta hito

Produktionsland: Japan 1963

Regie: Kazufumi Fujino

Darsteller: Kazuo Tai, Daigo Kusano, Ayako Takahashi, Tamaro Araki, Tadashi Terasawa, Shin Kishida
Offenbar herrscht Uneinigkeit darüber, wer denn nun eigentlich Regisseur des japanischen Experimentalfilms TABETA HITO aus dem Jahre gewesen sein soll. Während manche Quellen den dreiundzwanzigminütigen Streifen dem surrealistischen Maler Kazufumi Fujino zuschreiben, (dessen einziger Ausflug in die Kinematographie TABETA HITO damit darstellen würde), wird mindestens genauso häufig Nobuhiko Obayashi als Regisseur genannt, also jener im April 2020 verstorbene Avantgardist, dem wir mit HAUSU (1977) eine der atemberaubendsten Liaisons zwischen narrativem und experimentellem Kino zu verdanken haben. Dass Obayashi in das Projekt involviert gewesen ist, scheint verbürgt, denn selbst die Quellen, die Fujino zur Hauptantriebsfeder hinter TABETA HITO machen, nennen ihn meist mindestens als Kameramann oder küren ihn gleich kurzerhand zum Co-Regisseur.

Ich persönlich tendiere dazu, TABETA HITO zuallererst als ein Werk Fujinos zu betrachten – und das nicht nur, weil es so auch in Amos Vogels unverzichtbarem Standardwerk „Film as subversive art“ steht, sondern tatsächlich aus rein empirischen Gründen: Wenn man sich das Frühwerk Obayashis anschaut – insgesamt acht zwischen 1960 und 1966 entstandene Kurzfilme –, dann tanzt TABETA HITO doch auffällig aus der Reihe. Obayashis Werke wie NAKASENDO (1963), ONOMICHI (1963) oder COMPLEXE (1964) sind non-narrative, sich an Formen, Farben und Filmtricks ergötzende Abstraktionen, die die Partikel der außerfilmischen Realität vorrangig nutzen, um sie zu verfremden und zu verbiegen. Selbst Obayashis opus magnum EMOTION (1966) nutzt seine hauchdünnen Anflüge einer Geschichte letztlich nur, um diese großflächig dekonstruieren zu können: Ganz anders hingegen TABETA HITO, dessen Inhalt man nicht nur ziemlich problemlos nacherzählen kann, sondern der außerdem – erneut im Unterschied zu den einerseits viel persönlicheren und andererseits, was ihre Referenzen angeht, viel breitgefächerten Visionen Obayashis – augenscheinlich primär in der Bildsprache des klassischen Surrealismus der 20er und 30er Jahre beheimatet ist.

TABETA HITO beginnt mit der Schwarzweißgroßaufnahme eines Fleischwolfs, der seine zerkleinerte Fracht dicht vor der Kameralinse ausspeit.(Ich komme nicht umhin, an den Darm verlassende Fäkalien zu denken.) Begleitet wird die Szene von dezentem Maschinenlärm. Könnte ich Japanisch, würden mir eingeblendete Schriftzeichen wahrscheinlich Aufschluss darüber geben, wer denn nun vom Vorspann als Regisseur des Films ausgewiesen wird.

Der Fleischwolf gehört zu einem Restaurant gehobener Güteklasse. In der Küche ist der Koch damit beschäftigt, Fleisch zu zerschneiden, Gemüse auf Tellern anzuordnen, Zutaten in Pfannen zu streuen, oft und gerne in Großaufnahme; im Speisesaal wiederum sind die Gäste damit beschäftigt, zu verputzen, was zuvor fein säuberlich auf ihren Tellern angeordnet worden ist, auch das oft und gerne in Großaufnahme, und untermalt von einem Schmatzen und Schlürfen, dass es einem übel werden kann. (Tatsächlich hat jenseits von Jan Svankmajer möglicherweise kein Filmemacher den Akt des Essens jemals derart widerlich dargestellt wie es Fujino in TABETA HITO tut, und zwar wohlgemerkt ohne dafür irgendwelcher brachialer Effekte zu bedürfen. Es reicht, dass ich den Männern und wenigen Frauen zusehe, wie sie wurmartige Nudeln, klebrige Suppen und fettige Steaks runterschlingen, um mir den Appetit fürs Erste vergehen zu lassen.) Beobachtet wird das alltägliche Treiben von einer Kellnerin: Stoisch, statuenhaft hält sie sich am Rande der Szene auf, wenn sie nicht gerade neue Mahlzeiten auftischt oder die leeren Teller abräumt. Sie ist jung, hübsch, irgendwie fehl am Platz. Falls sie sich vor dem Grunzen und gierigen Schlingen genauso ekelt wie ich, lässt es sich ihr verschlossener Gesichtsausdruck nicht anmerken. Andererseits, wirkt nicht gerade ihr monotones Starren wie eine einzige Anklage? Nachdem sich das Prozedere mehrere Minuten hingezogen hat – der feiste Koch; die hastig spachtelnden Gäste; die umherwuselnden Bedienungen; allesamt im Akkord funktionierenden Maschine zur Füllung gähnender Mägen –, bringt die Frau ihren Widerwillen dann doch unmissverständlich zum Ausdruck: Sie kippt ohnmächtig um, so, als habe weder ihre Psyche noch ihre Physis das große Fressen länger ertragen können.

Body-Horror im Stile eines David Cronenberg hätte sich vom nachfolgenden Segment eine Scheibe abschneiden können: Unsere Heldin erwacht in der Küche, drapiert auf einem Tisch. Obwohl bei vollem Bewusstsein, wirkt es, als habe sie ihre Bewegungsfähigkeit verloren. Mit offenen Augen, dpch ansonsten reglos schaut sie zu, wie der Koch sich an ihr zu schaffen macht. Das Setting ist minimalistisch; Großaufnahmen des immer noch recht emotionslosen Frauengesicht wechseln sich mit einer Halbtotalen, die uns den Koch zeigt, der ihr (im Off) den Bauch öffnet, und daraus allerhand Dinge hervorzieht, die er danach einer dabeistehenden Assistentin reicht: Organe, Rückstände von Verzehrtem, schließlich ein Männergesicht, das jeden Finger, den man ihm hinstreckt, abzubeißen versucht. Doch der Koch hat ein probates Mittel, dem bissigen Mitesser unserer Heldin zu Leibe rücken: Nachdem der Koch das Männergesicht in eine Art Pampe oder Teig verwandelt hat, löffelt er ihn aus der Bauchhöhle der Kellnerin, die danach, sozusagen geheilt, wieder ihren Dienst antreten darf, als sei nichts geschehen.

Zurück im Speisesaal liefert der Film eins der eindrucksvollsten Beispiele für die surrealistische Tradition, in der er seinen Bilderreigen verortet: Die Szene, in der die Gäste beim Genuss der Leckereien aus dem Inneren unserer Heldin plötzlich menschliche Augen in ihren Münder entdecken, die könnte sich tatsächlich auch ein Bunuel, ein Dalí, ein Magritte oder ein Hans Richter ausgedacht haben. Die Kellnerin hat sich indes vermeintlich zurück ins Gefüge der Dienstleistungsgesellschaft gepresst: Erneut steht sie am Rande der Szenerie, stoisch guckend. Es wird gemampft, geschinppelt und der Soundtrack streut atonale Klopfgeräusche hinzu. Dann aber bricht eine Pointe über den Film herein, die den Bogen zurück zum Fleischwolf vom Anfang schlägt: Die Kellnerin beginnt nämlich, Stoffbänder hervorzuwürgen. (Die Stop-Motion-Tricks, mit denen das realisiert wird, lassen es einmal mehr plausibel erscheinen, dass Obayashi durchaus maßgeblich an TABETA HITO beteiligt gewesen ist, denn sie ähneln verdächtig den Spezialeffekten, mit denen später gerade COMPLEXE und EMOTION operieren werden.) Eins nach dem andern entrollen sich die Bändchen aus dem Frauenmund und spinnen ihre Netze im Gastraum, umwinden girlandenhaft die Speisenden, vereinen sich zu komplexen Arrangements, werden dabei zunächst untermalt von wortlosem Frauengesang, dann von Kammermusik, (die wiederum ebenso Obayashis Handschrift trägt, denn genau solche Klänge zieren auch die meisten seiner anderen Frühwerke und nicht zuletzt auch HAUSU.) Endlich ist die Welt eine abstrakte Landschaft aus Gespinsten, Fäden und sich bauschenden weißen Stoffen, - und die Kellnerin hört noch immer nicht zu kotzen auf.

Während man sich, meiner Meinung nach, bei den erwähnten Obayashi-Frühwerke im Grunde gar nicht großartig die Mühe machen muss, sich an einer Interpretation zu versuchen, da sich das, was sie uns erzählen wollen, auf Ebenen abspielt, die jenseits des Zugriffs von menschlicher Logik abspielt – es geht bei ihnen primär um abstrakte, rein emotional zugängliche Konzepte wie Melancholie oder Nostalgie, die vermittelt werden sollen, nicht um einen Intellekt, der stimuliert werden soll –, macht es TABETA HITO einem, wie meine Inhaltsangabe zeigt, doch durchaus möglich, den Filminhalt an die „reale“, sprich "erzählbare" Welt zu koppeln. Eine politische Interpretation würde lauten: Das ist das Aufbegehren der ausgebeuteten Arbeitermasse gegen das System – sie werden verheizt und ausgenommen wie Weihnachtsgänse, um die inneren und äußeren Repressionen durch das Auskotzen genau jener Stricke zu vernichten, die sie zeitlebens gebunden haben. Auch eine feministische Interpretation fände ich nicht weit hergeholt: Die junge Kellnerin als Inbegriff einer Weiblichkeit, die eine vorrangig männlich dominierte Gesellschaft dazu degradiert, das Essen auf den Tisch zu stellen, und gegebenenfalls ihren Bauch herzugeben, um daraus für diese Gesellschaft essentielle Dinge zu gebären. Noch handfester könnte man sagen: TABETA HITO seziert die moderne Leistungs- und Konsumgesellschaft, in der wirklich alles eingespeist werden kann in den akkumulativen Kreislauf der Verwertung und Verzehrung, und in der selbst die Nahrungsaufnahme ein unter Zeitdruck bewerkstelligtes Spektakel der Entmenschlichung darstellt.

Jedwede Interpretationen, so vielfältig sie auch ausfallen mögen, werden aber nicht den Blick darauf verstellen, dass TABETA HITO ein wirklich wundervoller Experimentalfilm ist, der nicht nur den Geist vergangener Avantgarden atmet, sondern diesen Geist auch zugleich witzig und verstörend, weniger verkopft, sondern vielmehr verspielt, und letztlich sogar ziemlich wegweisend in die 60er transportiert. Genossen werden sollte er allerdings nicht, wenn man vorhat, sich kurz darauf an den Trog zu begeben...
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Salvatore Baccaro
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Re: Tabeta hito - Kazufumi Fujino (1963)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Guten Appetit!

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