Die Buntkarierten - Kurt Maetzig (1949)

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Maulwurf
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Die Buntkarierten - Kurt Maetzig (1949)

Beitrag von Maulwurf »

 
Die Buntkarierten
Deutschland 1949
Regie: Kurt Maetzig
Camilla Spira, Werner Hinz, Friedrich Gnaß, Carsta Löck, Ursula Diestel, Yvonne Merin, Kurt Liebenau, Brigitte Krause, Hanni Herter, Yvonne Sturm, Liselotte Lieck, Hans Alexander, Walter Bluhm, Susi Deitz, Lothar Firmans, Ilya Günten, Walter Gross


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Die Familie Schmiedecke. Genauer gesagt Auguste Schmiedecke. Geboren im Berlin des Jahres 1884 als Tochter einer Dienstbotin, die Mutter bei der Geburt verstorben und Klein-Guste kommt zur Großmutter. Der Lebenslauf scheint vorgegeben: Die Oma sitzt Tag und Nacht an der Nähmaschine, der Opa säuft (und kommt nur von der Matratze, wenn der Tagesschläfer sein Recht auf das Bett verlangt), die Geschwister wollen ebenfalls essen. Doch Guste ist nicht dumm, und sie will später nicht in der Fabrik stehen und sie will auch kein Dienstmädchen werden. Wird sie aber doch, ein Dienstmädchen. Die Herrin ist eine arrogante Schnepfe die ihre frivole Jugend hinter sich lassen will, und der Herr ist aufdringlich und will einen Kuss. Da ist der freche Maler Paul ganz anders. Der erzählt ihr beim Schwof in Schönesee erstmal, warum er in der Gewerkschaft ist. Und als ihr Paul, zu dieser Zeit bereits trauter Ehemann, dann 1914 in den Krieg muss, und Guste lernt, dass die Granaten, die sie in der Fabrik herstellt, dazu dienen, den Krieg zu verlängern und den Gewinn von Krupp zu vergrößern, da bildet sich zunehmend ein politisches Bewusstsein heran. Was ihr beim Schlangestehen für Brot für die Kinder im Moment noch nicht hilft, aber spätestens, wenn Paul wieder da ist und die Weimarer Republik die Wurzel des Bösen bereits in sich trägt, spätestens dann zeigt sich, dass Guste überhaupt kein Dummer August ist und ihren ganz eigenen Kopf hat. Sie kann die Kinder groß ziehen und durch das Elend der späten Republik bis in das Dritte Reich bringen. Doch dann wird alles anders. Alles? Elend, Armut und Krieg hat sie auch früher schon erlebt …

Es gibt nicht viele Filme, bei denen mir die Tränen gekommen sind. DIE BUNTKARIERTEN ist so einer, und da kann sich Regisseur Kurz Maetzig verdammt was drauf einbilden! Die Geschichte Deutschlands in den Jahren 1884 bis 1949 am Beispiel einer ganz normalen Arbeiterfamilie und in 96 Minuten, das ist ein Vorhaben das leicht in den Sand hätte gesetzt werden. Kaiserreich, Erster Weltkrieg, Weimarer Republik, Drittes Reich, Zweiter Weltkrieg … Ereignisse hatte es viele, die Zeiten war bitter und dramatisch, und heutzutage würde das wahrscheinlich in einem Fernseh-Mehrteiler stattfinden mit einer schier unüberschaubaren Anzahl an Rollen und völlig ohne Dramatik.

Kurt Maetzig schafft das Kunststück, die Geschichte zwar mit großen Zeitsprüngen zu erzählen, dabei aber den roten Faden nie aus den Augen zu verlieren. Guste ist und bleibt die zentrale Figur, die historischen Ereignisse sind immer nur das Hintergrundgeräusch, und erst zum Schluss, wenn sie von der Gestapo verhaftet wird, stellt sich die ernsthafte Frage was mit ihr passieren wird. Aber bis dahin sind Guste und ihr Paul ein Bollwerk narrativer Größe, werden die Lebensläufe der Geschwister, Kinder und Enkel immer wieder beleuchtet, ohne aber den Fokus auf den beiden Hauptfiguren aus den Augen zu verlieren. Und auch wenn Guste mit ihrer wachen Intelligenz vielleicht ein wenig zu sehr wie eine Kunstfigur wirken könnte, so wird so ein möglicher Eindruck durch das geerdete Spiel der umwerfenden Camilla Spira geradezu hinweggefegt. Erschreckend ist in dem Augenblick eigentlich nur, dass der todkrank geschminkte Werner Hinz in einem Film aus dem Jahr 1949 tatsächlich genauso aussieht, wie ich ihn aus einer Fernsehserie der 70er-Jahre in Erinnerung habe …

Zugegeben könnte man sich an den eingestreuten politischen Botschaften stören, die öfters mal einen breiten Raum einnehmen. Gerade Paul als überzeugter Gewerkschafter darf seine Weltsicht immer wieder mal präsentieren, und Guste zeigt sich schon als junges Dienstmädchen überraschend sozialistisch orientiert – Ein Umstand, der in einem Herrenhaus des Jahres 1912 natürlich gar nicht gerne gesehen wird. Auch später haben es sozial(istisch)e Lebenseinstellungen nicht immer leicht, und tatsächlich wirken diese Momente oft etwas merkwürdig. Aus heutiger Sicht wohlgemerkt, wo doch jedes Kind mittlerweile weiß, dass der Sozialismus böse böse böse war. War er das? Die einfach gehaltenen Botschaften mögen simpel klingen, aber der wahre Kern kann dabei nicht verleugnet werden, und die Gegensätzlichkeit der Weltanschauungen Sozialismus versus Kapitalismus erfährt bei einem Gespräch eines desillusionierten Soldaten und der wachen Guste eine klare Richtung, der man auch und gerade heute schwerlich etwas entgegensetzen kann.

Nicht immer ist das Timing perfekt, und nicht immer sind die zeitlichen Bezüge vollkommen klar. Der Film richtet sich natürlich an ein Publikum aus dem Jahr 1949, welches die vorhergehenden 20 bis 40 Jahre selber miterlebt hat, und das nun, nach Kaiserreich, Republik und Diktatur, zu einer sozialistischen Überzeugung erzogen werden soll. Aber solche Nebensächlichkeiten schaden dem Film kaum, der Kern ist die Geschichte der Familie Schmiedecke, und dieser Kern fesselt und rührt an. Ganz ganz großes Geschichtskino mit Botschaft und einem Volltreffer fürs Herz. Schwerste Empfehlung!!

9/10
Der Sieg des Kapitalismus ist die endgültige Niederlage des Lebens.
(Bert Rebhandl)
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