Letzte Woche im Rahmen der Retrospektive zur „Groupe Panique“, (jenem von Alejandro Jodorowsky, Fernando Arrabal und Roland Topor in den 60ern gegründeten Künstlerkollektiv), in der Black Box des Düsseldorfer Filmmuseums auf 35mm besehen – eben weil nicht nur Topor am Drehbuch von DIE HAMBURGER KRANKHEIT mitwirkte und Arrabal den berollstuhlten „Giftzwerg“ Ottokar verkörpert, sondern weil Fleischmann bereits für seinen 1974er Film DOROTHEAS RACHE von dem Trio mit dem „Prix Panique“ ausgezeichnet und damit zu einem "Bruder im Geiste" geadelt worden ist.
Wie tagesaktuell Fleischmanns Dystopie ist, daran musste mich die Zweitsichtung erst erinnern: Ein neuartiges Virus versetzt Norddeutschland in Angst und Schrecken. Menschen in Zwangsquarantäne; Zwangsimpfungen; Politiker, die die Gunst der Stunde nutzen, um ihren Machtradius zu erweitern; die Vermutung, das Virus könne nur von außen eingeschleppt worden sein, was alle Gastarbeiter und Migranten sogleich unter Generalverdacht stellt; Gewinnler der Krise wie ein Wurstverkäufer, der bald das große Geschäft mit Masken und Schutzanzügen entdeckt. Wenn allerdings ein Enfant Terrible des Neuen Deutschen Films wie Fleischmann Regie führt, und wenn dann auch noch Topor und Arrabal mit im Boot sitzen, ist das Endresultat freilich alles andere als ein geradliniger Science-Fiction-Streifen: Spätestens wenn nach etwa der Hälfte der Hauptdarsteller verstirbt, wird das Werk vollends zu einer Sammlung von Episoden und Fragmenten, deren Tonfall ganz unterschiedlich ausfällt. Gerade diese Disparität aus mythisch überhöhten Passagen, beißender Gesellschaftssatire, Genre-Kino und schlicht kaum zuordenbaren Absonderlichkeiten, (vor allem der lüsterne, pöbelnde, manchmal kindlich-naive, manchmal boshaft-aufbrausende Arrabal im Rollstuhl, dessen Funktion innerhalb des Films mir bis heute Rätsel aufgibt), wird es gewesen sein, die mich damals, mit sechzehn, siebzehn, als ich DIE HAMBURGER KRANKHEIT erstmals gesehen habe, für dieses Werk eingenommen hat – auch wenn es ich von all den verblüffenden Filmen, die Fleischmann in den 70ern gedreht hat, tatsächlich noch als seinen schwächsten, weil konventionellsten empfinde.
Irritierend indes fand ich die kurze Einführung zum Film, in der man meinte, explizit darauf hinweisen zu müssen, dass man Szenen, in denen bspw. darüber spekuliert wird, ob das Virus denn nicht vielleicht aus der Retorte stamme, und ob die Regierung denn nicht das Ausbrechen einer Pandemie für ihre eigene unlauteren Zwecke einspannen würde, ja nicht als Anregung dafür lesen solle, sich anschließend eingehender mit sogenannten "Corona-Verschwörungstheorien" auseinanderzusetzen. Mal abgesehen davon, dass ich mir kaum vorstellen kann, surrealistisches, uneindeutiges, zumal vierzig Jahre altes Kunst-Kino à la DIE HAMBURGER KRANKHEIT wird irgendwen, der die Corona-Maßnahmen bislang primär positiv gesehen hat, plötzlich vom Gegenteil überzeugen: Dass man in einem Programmkino vor Filmgenuss lang und breit moralisch belehrt wird, mit welchem Mindset man anschließend gefälligst aus dem Lichtspielsaal treten solle, hat mir doch sehr unangenehm aufgestoßen.
Die Hamburger Krankheit - Peter Fleischmann (1979)
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