Originaltitel: Die Reise nach Agatis
Produktionsland: Deutschland 2010
Regie: Marian Dora
Darsteller: Thomas Goersch, Tatjana Lommel, Janna Lisa Dombrowsky
Meine erste Begegnung mit dem Werk Marian Doras war, wie für viele andere auch, seine Verfilmung der Ereignisse um den sogenannten Kannibalen von Rotenburg, Adam Meiwes, der im Jahre 2001 einen Bekannten mit dessen Einvernehmen getötet und verspeist hat. Doras Film ist programmatisch CANNIBAL betitelt und alles, was ich von ihm in Erinnerung behalten habe, das sind inflationäre Großaufnahmen von Insekten und Szenen wie sie kein Schlachthaus überzeugender darstellen könnte. Möglicherweise hat da mein Gedächtnis einiges verloren, für möglich halte ich es nun, wo ich mich etwas weiter in Doras Oeuvre umgeschaut habe, aber auch, dass CANNIBAL wirklich aus nicht viel anderem als Aufnahmen dieser beiden Kategorien zusammengesetzt wurde. Neben seinem Ausflug ins Kannibalen-Genre ist es vor allem sein folgender Film MELANCHOLIE DER ENGEL, der in schöner Regelmäßigkeit auf Listen der verstörendsten Werke der Filmgeschichte auftaucht und dessen Namen Insider flüstern, wenn man sie fragt, was man sich anschauen sollte, wenn man mal etwas wirklich Krankes sehen möchte. Dora selbst bezeichnet das fast dreistündige Epos in seinen seltenen Interviews, bei denen er sich stets das Gesicht verpixeln lässt oder gleich nur am andern Ende einer Telefonleitung in Er-scheinung tritt, als seinen intimsten, persönlichsten Film. Von den dreien, die ich zu sichten vielleicht nicht das Vergnügen, jedoch die Gelegenheit hatte, tanzt er tatsächlich am meisten aus der Reihe. Nicht unbedingt, was seine hauchdünne, wohl bewusst zusammenhanglose Geschichte betrifft. Die rankt sich nämlich lediglich um zwei abgefuckte Typen namens Katze und Brauth – einer von ihnen scheint sterbenskrank zu sein -, die sich mit zwei jungen, in der Disco aufgerissenen Partymäuschen sowie einer etwas reiferen Dame und einem ausgezehrten Greis in Begleitung eines an den Rollstuhl gefesselten Mädchens in einem abgelegenen Landhaus niederlassen, um dort Orgien zu feiern, angesichts derer die Protagonisten von Marco Ferreris LA GRANDE BOUFFE keinen Bissen runterbekommen hätten.
Zunächst überrascht und verwöhnt MELANCHOLIE DER ENGEL einen mit, gemessen an seinem handlichen Budget, durchaus ansehnlichen, manchmal sogar beinahe betörenden Bildern, in denen Dora die Schönheiten und Scheußlichkeiten der Natur zelebriert, und die er zuweilen in einer Weise zusammenmontiert, die zeigt, dass es nicht nur Lippenbekenntnisse sind, wenn er immer wieder Leute wie Alejandro Jodorowsky oder Francois Truffaut als seine liebsten Regisseure nennt. Wenn schauerromantische Klöster voller lasterhafter Nonnen ins rechte Licht gerückt werden, oder Katze und Brauth zum Grab Rainer Werner Fassbinders pilgern und sich diesem zu Füße werfen, oder auch einfach nur mal die Sonne besonders hübsch aufgeht, dann kann ich nicht anders als Dora zu bescheinigen, dass er durchaus mit dem visuellen Medium umzugehen weiß, und sicherlich nicht zu jenen deutschen Independent-Filmemachern gehört, die glauben, eine Kamera irgendwo hinzustellen und ein paar Laien vor ihr Sätze ablesen zu lassen, reiche bereits aus für einen Film mit irgendeinem Mehrwert. Wesentlich öfter steht Dora seiner morbiden Ästhetik und seinem Gespür für poetische Bildkompositionen und Schnittfolgen aber selbst im Wege, und MELANCHOLIE DER ENGEL kann davon ein trauriges Lied singen: Die Post-Synchronisation, die man dem Werk verpasst hat, ist zum Speien, die pseudo-philosophischen Poesiealben-Dialoge, die die Darsteller - darunter die Porno-Legende Zenza Raggi und der unvermeidliche, aus CANNIBAL bekannte Frank Oliver - sprechen müssen, ebenfalls nicht das Gelbe vom Ei, und die Handlung – wenn man die vollkommen sinnbefreite Aneinanderreihung ereignisloser und abstoßender Szene denn als solche bezeichnen möchte – ab einem bestimmten Punkt nur noch schwer verständlich und erträglich. Es gibt da im letzten Drittel ein Segment, das scheinbar ein Rückblick in Katzes Vergangenheit sein soll, und in dem er, ähnlich wie Patrick Süskinds Grenouille in DAS PARFÜM, als Einsiedler irgendwo in den Bergen lebt. Er betet halbverweste Ziegenkadaver an und öffnet einem schon längst erkalteten Vögelchen den Schnabel, um ihm einen Käfer einzuführen, bis dieser – der Schnabel wohlgemerkt, nicht der Käfer - auseinanderbricht. Gerade diese Szene werde ich so schnell nicht vergessen: Fast schon zärtlich, unterlegt mit der für den Film symptomatischen und von Dora eigenhändig komponierten zuckersüßen Klavier- und Streichermusik, illustriert der Film in diesen paar Minuten den ewigen Kreislauf von Leben und Sterben, und nicht viel hält mich zurück, sie in eine Reihe zu stellen mit der Szene in LA CHUTE DE LA MAISON USHER, wo Jean Epstein die Beisetzung einer jungen Frau mit Aufnahmen kopulierender Kröten kontrastiert.
In MELANCHOLIE DER ENGEL sind solche, wenn man so will, würdevollen Grenzüberschreitungen indes nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Mit zunehmender Laufzeit entwickelt der Film sich zu einer tour de force der Transgressionen, die wirkt, als sei sie von einem pubertierenden Jugendlichen geskriptet worden, der die Belastbarkeit seines Publikums - und seine eigene - austesten wollte. In MELANCHOLIE DER ENGEL sieht man vieles, was wohl die wenigsten Menschen jemals sehen wollen werden. Zu den Höhepunkten gehören die Tötung einer Katze per Kehlenschnitt, zahllose Frösche und Lurche, die durch äußeren Druck zum Zerplatzen gebracht werden, on-screen-Darmentleerungen, Erbrochenes auf Frauenkörpern, Messerspiele, die verdächtig echt aussehen, interessante Einblicke in künstliche Darmausgänge sowie eine völlig derangierte Sequenz, in der Dora vier zeitlich und räumlich getrennte Abenteuer seiner Helden virtuos zusammenbringt: Eine junge Nonne masturbiert in der Kirche, Brauth vergewaltigt besagtes querschnittsgelähmtes Mädchen, Katze stellt unaussprechliche Dinge mit einem hoffentlich nicht echten Leichnam an, und eine Sau wird detailverliebt zur Schlachtbank geführt. Man merkt, Dora würde gerne auf den Spuren der großen Skandalfilme von Pasolini oder Bergman oder eben Fassbinder wandeln, kommt aber auf halber Strecke bereits vom Weg ab und verirrt sich in irgendwelchen Sümpfen und Morasten, wo zumindest ich es fast drei Stunden kaum aushalte. MELANCHOLIE DER ENGEL wird seinem Ruf gerecht, denn so viele Sauereien sieht man selten auf einem Haufen, doch ob ihn das zu einem wichtigen oder auch nur guten Film macht, darüber mag ich gar nicht erst streiten, sondern kann nur vehement mit dem Kopf schütteln.
Der lange Blick über die Schulter zurück zu Doras derzeitigem magnus opus ist notwendig, weil DIE REISE NACH AGATIS, obwohl erst 2010 erschienen, bereits im Jahre 2008, und damit mutmaßlich vor MELANCHOLIE DER ENGEL, gedreht worden ist – und zwar, haltet euch fest!, an drei Maitagen. Stilistisch und inhaltlich wirkt DIE REISE NACH AGATIS wie der kleine Bruder oder die kleine Schwester von MELANCHOLIE DER ENGEL. Man könnte vielleicht auch von einer Vorstufe, einem Skizzenentwurf all der Dinge sprechen, die dann im ungemein längeren Folgewerk – beide Filme trennen laufzeittechnisch nämlich etwa hundert Minuten – wesentlich elaborierter umgesetzt wurden. Auch bei DIE REISE NACH AGATIS stellt sich ein, was ich einmal den Maria-Dora-Effekt nennen möchte. Zunächst ist man positiv überrascht davon, dass da jemand imstande ist, aus dem billigen direct-to-video-Look durch ungewöhnliche Kamerapositionen, versierte Schnitte oder formvollendete Nutzung der landschaftlichen Gegebenheiten Bilder hervorzulocken, die sich eigentlich vor nichts und niemandem zu verstecken brauchen, bevor der Film, sobald die ersten Sätze von ausnahmslos unsympathischen Figuren gesprochen und Sex und Gewalt zum Dreh- und Angelpunkt der Handlung werden, umschlägt in ermüdende Langeweile und selbstzweckhafte Gräuel. Die positive Überraschung ist diesmal ein mehrminütiger Prolog, der ohne Spaß aussieht, als habe ein mit durchaus einem Beutelchen Talent ausgestattet Kunsthochschulstudent den Prolog von D’Amatos ANTROPOPHAGUS neu verfilmen wollen. Wir sehen statische Aufnahmen surreal anmutender Naturkulissen irgendwo am Mittelmeer, die mich wieder an den ähnlich sensationellen Auftakt des italienischen Zoophilie-Dramas BESTIALITÁ erinnern. Ein unheimlicher Baum mit krallenartigen Ästen. Ein Torbogen, wohl Überrest einer menschlichen Siedlung. Eine Höhle am Meer. Dann plötzlich läuft ein splitternacktes Mädchen durch die Landschaft. Am Strand angekommen wechselt die Perspektive, und wir dürfen aus der ihres Verfolgers zuschauen wie er sie in der See ertränkt und ihr anschließend mit einem Messer im Mund herumstochert. Das klingt exploitativer als es tatsächlich ist, denn Dora verleiht seinem Prolog beispielweise durch eine unruhige Handkamera und ein ausgeklügeltes Sound-Design – bei der Ertränkung scheint das Opfer zwar zu schreien, doch zu hören sind nur die immer lauter und heftiger brausenden Wellen – etwas fast schon Traumhaftes und Unwirkliches, das dem schlimmen Inhalt gewissermaßen seine Stachel nimmt. Würde DIE REISE NACH AGATIS an dieser Stelle als Kurzfilm enden, hätte Dora vielleicht nicht alles, aber viel richtig gemacht, doch, wie gesagt, das ist nur ein Prolog, der im Übrigen – irgendwie bezeichnend - in keinem erkennbaren inhaltli-chen Zusammenhang zum folgenden Rest steht.
Dieser Rest nämlich präsentiert uns nun die typischen abgefuckten Personen aus Doras Fundus der unangenehmen Anti-Helden. Rafael und Isabella sind ein Pärchen im Urlaub, wo sie sich nur anzicken, beleidigen und sonst wie demütigen. In einer Kneipe gabeln sie die schätzungsweise zehn Jahre jüngere Lisa auf. Sie willigt ein, mit ihnen eine Bootstour zu machen. Bald schon zeigt Rafael sein wahres Gesicht, das das eines lupenreinen Sadisten ist. Lisa wird psychisch und physisch erniedrigt, die Körperflüssigkeiten fließen in Strömen, und natürlich muss auch ein Tier vor laufender Kamera sein Leben lassen, diesmal irgendeine Art von Seeaal, den Rafael bei lebendigem Leib in Scheiben schneidet und dann Teile von ihm, in bester Kannibalenfilm-Manier, verspeist. Überhaupt ist Italien vom Drehort des Films nicht bloß geographisch gleich um die Ecke. Ein weiteres Steckenpferd Doras sind nämlich italienische Genrefilme der 60er und 70er, und wirklich ist DIE REISE NACH AGATIS in seiner handlungsarmen Ödnis nicht nur voller Reminiszenzen an die Urlaubsvideos, die D’Amato am Mittelmeer und in der Dominikanischen Republik Ende der 70er, Anfang der 80er im Dutzend billiger heruntergekurbelt hat, sondern stellt mit der Grundkonstellation von zwei Frauen, einem Mann und ihren zügellosen Leidenschaften im begrenzten Raum eines Boots vor allem so etwas wie ein Update von Ruggero Deodatos UNA ONDATA DI PIACERE dar. Es wundert kaum, im Abspann zu lesen, dass die Idee des Films von einem gewissen Adrian d’Angelo stammt – wer auch immer das nun wieder sein soll.
Hier hört es aber auch schon auf, was ich Lobendes über DIE REISE NACH AGATIS sagen kann – sofern man es denn als Lob auffassen will, dass ein Film spekulative Stiefelstreifen rezipiert. Dass Doras Film, wie es auf der imdb vermerkt ist, angeblich 10.000 Euro gekostet haben soll, kann ich kaum glauben. DIE REISE NACH AGATIS sieht und fühlt sich an wie ein Urlaubsvideo, und zwar eins, bei dem nicht unbedingt, was ich D’Amato wohlmeinend einmal unterstellen möchte, künstlerische Ambitionen im Vordergrund gestanden haben. Gerade weil Dora als Schauplatz nur das Meer und das Boot hat, fehlen naturgemäß die ansprechenden Freiluftaufnahmen, die MELANCHOLIE DER ENGEL wenigstens ein bisschen retteten. Stattdessen fokussiert er das sexuelle Treiben seiner psychologisch am Reißbrett entworfenen Charaktere, die im Grunde genau das tun, was auch die Möchtegern-Libertins in MELANCHOLIE DER ENGEL getan haben, nur ein paar Grade harmloser. Lisa wird von Rafael vergewaltigt, mit gespreizten Armen und Beinen an Deck gefesselt, muss ihre Blase dort entleeren, und sich mit diversen Schneidewerkzeugen kitzeln lassen. Viel mehr geschieht in der ersten Stunde des Films nicht. Weder erfahren wir etwas über die Motivation der Täter noch Näheres über die Beziehung zwischen Rafael und Isabella, stattdessen unterhält Dora uns erneut mit Dialogen und Texten aus dem Off, die sehr gewichtig und weise tun, aber problemlos auch aus dem Poesiealbum einer oder eines Sechzehnjährigen stammen könnten, der oder die mal das eine oder andere Gedicht oder Fremdwort im Deutschunterricht kennengelernt hat. Zu allem Überfluss verschont Dora uns auch nicht mit den lyrischen Ergüssen seiner Hauptdarstellerin Janna Lisa Dombrowsky, von denen ich euch eine Kostpro-be einfach nicht vorenthalten kann. „Wie ist das, auf einem Auge blind zu sein? Mit dem andern nur Blut zu sehen beim Geschlechtsverkehr. Und sich vorzustellen, Blut flösse aus der Mitte der Frau. Blut, das man leckt. Verdaut. Ausscheidet. Frauen, die austrocknen. Zusammenschrumpfen. Zusammenfallen wie Staub. Wie ist das?“, tönt ihre Stimme gleich am Anfang zu – auch darauf ist Verlass! – einer von Doras typischen ziemlich simplen und ziemlich effektiven, weil wunderschönen Kindermelodien, und ich kann nur antworten: Ich weiß es nicht, wie das ist, und irgendwie will ich es auch nicht wissen. Besonders perfide wird es in Lisas finalem Monolog, als sie, bereits von Rafael – übrigens die einzige nennenswerte Splatterszene – graphisch zerhackstückt worden ist, quasi aus dem Totenreich ihr gewaltsames Sterben metaphorisch überfrachtet, und ich einen leichten misogynen Beigeschmack nicht von der Zunge bekomme.
Abgesehen davon, dass DIE REISE NACH AGATIS ausklingt wie eine Apologie auf Mord, Vergewaltigung und andere Missetaten, hat dieser Film auch sonst nichts, von dem ich denke, dass es man es nicht irgendwo anders ebenfalls und dort viel besser sehen kann. Wie gesagt: Es gibt Urlaubsvideos und D’Amato-Pornos, die faszinierender sind, und wer sich die volle Ladung Marian Dora geben will, der sollte sowieso zu MELANCHOLIE DER ENGEL greifen, dem gegenüber DIE REISE NACH AGATIS blass wirkt wie die erste Probe eines Theaterstücks gegenüber der großen Uraufführung. Ich jedenfalls fühle mich, als ob ich jetzt aufatmen kann, denn irgendwie scheint das Thema Marian Dora nach diesen flüchtigen Zeilen für mich endgültig abgehakt, und ich kann mir eine Auszeit in meinem liebsten Kurhotel in Appenzell gönnen, wo mich warme Bäder, sanfte Massagen und gesunde Kräutertees hoffentlich bald auf die Idee bringen, den ganzen Exploitation-Kram doch endlich endgültig linksliegen zu lassen und mich einer umfangreichen Retrospektive des österreichischen und bundesdeutschen Heimatfilms der 50er und 60er Jahre zu widmen.
Zunächst überrascht und verwöhnt MELANCHOLIE DER ENGEL einen mit, gemessen an seinem handlichen Budget, durchaus ansehnlichen, manchmal sogar beinahe betörenden Bildern, in denen Dora die Schönheiten und Scheußlichkeiten der Natur zelebriert, und die er zuweilen in einer Weise zusammenmontiert, die zeigt, dass es nicht nur Lippenbekenntnisse sind, wenn er immer wieder Leute wie Alejandro Jodorowsky oder Francois Truffaut als seine liebsten Regisseure nennt. Wenn schauerromantische Klöster voller lasterhafter Nonnen ins rechte Licht gerückt werden, oder Katze und Brauth zum Grab Rainer Werner Fassbinders pilgern und sich diesem zu Füße werfen, oder auch einfach nur mal die Sonne besonders hübsch aufgeht, dann kann ich nicht anders als Dora zu bescheinigen, dass er durchaus mit dem visuellen Medium umzugehen weiß, und sicherlich nicht zu jenen deutschen Independent-Filmemachern gehört, die glauben, eine Kamera irgendwo hinzustellen und ein paar Laien vor ihr Sätze ablesen zu lassen, reiche bereits aus für einen Film mit irgendeinem Mehrwert. Wesentlich öfter steht Dora seiner morbiden Ästhetik und seinem Gespür für poetische Bildkompositionen und Schnittfolgen aber selbst im Wege, und MELANCHOLIE DER ENGEL kann davon ein trauriges Lied singen: Die Post-Synchronisation, die man dem Werk verpasst hat, ist zum Speien, die pseudo-philosophischen Poesiealben-Dialoge, die die Darsteller - darunter die Porno-Legende Zenza Raggi und der unvermeidliche, aus CANNIBAL bekannte Frank Oliver - sprechen müssen, ebenfalls nicht das Gelbe vom Ei, und die Handlung – wenn man die vollkommen sinnbefreite Aneinanderreihung ereignisloser und abstoßender Szene denn als solche bezeichnen möchte – ab einem bestimmten Punkt nur noch schwer verständlich und erträglich. Es gibt da im letzten Drittel ein Segment, das scheinbar ein Rückblick in Katzes Vergangenheit sein soll, und in dem er, ähnlich wie Patrick Süskinds Grenouille in DAS PARFÜM, als Einsiedler irgendwo in den Bergen lebt. Er betet halbverweste Ziegenkadaver an und öffnet einem schon längst erkalteten Vögelchen den Schnabel, um ihm einen Käfer einzuführen, bis dieser – der Schnabel wohlgemerkt, nicht der Käfer - auseinanderbricht. Gerade diese Szene werde ich so schnell nicht vergessen: Fast schon zärtlich, unterlegt mit der für den Film symptomatischen und von Dora eigenhändig komponierten zuckersüßen Klavier- und Streichermusik, illustriert der Film in diesen paar Minuten den ewigen Kreislauf von Leben und Sterben, und nicht viel hält mich zurück, sie in eine Reihe zu stellen mit der Szene in LA CHUTE DE LA MAISON USHER, wo Jean Epstein die Beisetzung einer jungen Frau mit Aufnahmen kopulierender Kröten kontrastiert.
In MELANCHOLIE DER ENGEL sind solche, wenn man so will, würdevollen Grenzüberschreitungen indes nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Mit zunehmender Laufzeit entwickelt der Film sich zu einer tour de force der Transgressionen, die wirkt, als sei sie von einem pubertierenden Jugendlichen geskriptet worden, der die Belastbarkeit seines Publikums - und seine eigene - austesten wollte. In MELANCHOLIE DER ENGEL sieht man vieles, was wohl die wenigsten Menschen jemals sehen wollen werden. Zu den Höhepunkten gehören die Tötung einer Katze per Kehlenschnitt, zahllose Frösche und Lurche, die durch äußeren Druck zum Zerplatzen gebracht werden, on-screen-Darmentleerungen, Erbrochenes auf Frauenkörpern, Messerspiele, die verdächtig echt aussehen, interessante Einblicke in künstliche Darmausgänge sowie eine völlig derangierte Sequenz, in der Dora vier zeitlich und räumlich getrennte Abenteuer seiner Helden virtuos zusammenbringt: Eine junge Nonne masturbiert in der Kirche, Brauth vergewaltigt besagtes querschnittsgelähmtes Mädchen, Katze stellt unaussprechliche Dinge mit einem hoffentlich nicht echten Leichnam an, und eine Sau wird detailverliebt zur Schlachtbank geführt. Man merkt, Dora würde gerne auf den Spuren der großen Skandalfilme von Pasolini oder Bergman oder eben Fassbinder wandeln, kommt aber auf halber Strecke bereits vom Weg ab und verirrt sich in irgendwelchen Sümpfen und Morasten, wo zumindest ich es fast drei Stunden kaum aushalte. MELANCHOLIE DER ENGEL wird seinem Ruf gerecht, denn so viele Sauereien sieht man selten auf einem Haufen, doch ob ihn das zu einem wichtigen oder auch nur guten Film macht, darüber mag ich gar nicht erst streiten, sondern kann nur vehement mit dem Kopf schütteln.
Der lange Blick über die Schulter zurück zu Doras derzeitigem magnus opus ist notwendig, weil DIE REISE NACH AGATIS, obwohl erst 2010 erschienen, bereits im Jahre 2008, und damit mutmaßlich vor MELANCHOLIE DER ENGEL, gedreht worden ist – und zwar, haltet euch fest!, an drei Maitagen. Stilistisch und inhaltlich wirkt DIE REISE NACH AGATIS wie der kleine Bruder oder die kleine Schwester von MELANCHOLIE DER ENGEL. Man könnte vielleicht auch von einer Vorstufe, einem Skizzenentwurf all der Dinge sprechen, die dann im ungemein längeren Folgewerk – beide Filme trennen laufzeittechnisch nämlich etwa hundert Minuten – wesentlich elaborierter umgesetzt wurden. Auch bei DIE REISE NACH AGATIS stellt sich ein, was ich einmal den Maria-Dora-Effekt nennen möchte. Zunächst ist man positiv überrascht davon, dass da jemand imstande ist, aus dem billigen direct-to-video-Look durch ungewöhnliche Kamerapositionen, versierte Schnitte oder formvollendete Nutzung der landschaftlichen Gegebenheiten Bilder hervorzulocken, die sich eigentlich vor nichts und niemandem zu verstecken brauchen, bevor der Film, sobald die ersten Sätze von ausnahmslos unsympathischen Figuren gesprochen und Sex und Gewalt zum Dreh- und Angelpunkt der Handlung werden, umschlägt in ermüdende Langeweile und selbstzweckhafte Gräuel. Die positive Überraschung ist diesmal ein mehrminütiger Prolog, der ohne Spaß aussieht, als habe ein mit durchaus einem Beutelchen Talent ausgestattet Kunsthochschulstudent den Prolog von D’Amatos ANTROPOPHAGUS neu verfilmen wollen. Wir sehen statische Aufnahmen surreal anmutender Naturkulissen irgendwo am Mittelmeer, die mich wieder an den ähnlich sensationellen Auftakt des italienischen Zoophilie-Dramas BESTIALITÁ erinnern. Ein unheimlicher Baum mit krallenartigen Ästen. Ein Torbogen, wohl Überrest einer menschlichen Siedlung. Eine Höhle am Meer. Dann plötzlich läuft ein splitternacktes Mädchen durch die Landschaft. Am Strand angekommen wechselt die Perspektive, und wir dürfen aus der ihres Verfolgers zuschauen wie er sie in der See ertränkt und ihr anschließend mit einem Messer im Mund herumstochert. Das klingt exploitativer als es tatsächlich ist, denn Dora verleiht seinem Prolog beispielweise durch eine unruhige Handkamera und ein ausgeklügeltes Sound-Design – bei der Ertränkung scheint das Opfer zwar zu schreien, doch zu hören sind nur die immer lauter und heftiger brausenden Wellen – etwas fast schon Traumhaftes und Unwirkliches, das dem schlimmen Inhalt gewissermaßen seine Stachel nimmt. Würde DIE REISE NACH AGATIS an dieser Stelle als Kurzfilm enden, hätte Dora vielleicht nicht alles, aber viel richtig gemacht, doch, wie gesagt, das ist nur ein Prolog, der im Übrigen – irgendwie bezeichnend - in keinem erkennbaren inhaltli-chen Zusammenhang zum folgenden Rest steht.
Dieser Rest nämlich präsentiert uns nun die typischen abgefuckten Personen aus Doras Fundus der unangenehmen Anti-Helden. Rafael und Isabella sind ein Pärchen im Urlaub, wo sie sich nur anzicken, beleidigen und sonst wie demütigen. In einer Kneipe gabeln sie die schätzungsweise zehn Jahre jüngere Lisa auf. Sie willigt ein, mit ihnen eine Bootstour zu machen. Bald schon zeigt Rafael sein wahres Gesicht, das das eines lupenreinen Sadisten ist. Lisa wird psychisch und physisch erniedrigt, die Körperflüssigkeiten fließen in Strömen, und natürlich muss auch ein Tier vor laufender Kamera sein Leben lassen, diesmal irgendeine Art von Seeaal, den Rafael bei lebendigem Leib in Scheiben schneidet und dann Teile von ihm, in bester Kannibalenfilm-Manier, verspeist. Überhaupt ist Italien vom Drehort des Films nicht bloß geographisch gleich um die Ecke. Ein weiteres Steckenpferd Doras sind nämlich italienische Genrefilme der 60er und 70er, und wirklich ist DIE REISE NACH AGATIS in seiner handlungsarmen Ödnis nicht nur voller Reminiszenzen an die Urlaubsvideos, die D’Amato am Mittelmeer und in der Dominikanischen Republik Ende der 70er, Anfang der 80er im Dutzend billiger heruntergekurbelt hat, sondern stellt mit der Grundkonstellation von zwei Frauen, einem Mann und ihren zügellosen Leidenschaften im begrenzten Raum eines Boots vor allem so etwas wie ein Update von Ruggero Deodatos UNA ONDATA DI PIACERE dar. Es wundert kaum, im Abspann zu lesen, dass die Idee des Films von einem gewissen Adrian d’Angelo stammt – wer auch immer das nun wieder sein soll.
Hier hört es aber auch schon auf, was ich Lobendes über DIE REISE NACH AGATIS sagen kann – sofern man es denn als Lob auffassen will, dass ein Film spekulative Stiefelstreifen rezipiert. Dass Doras Film, wie es auf der imdb vermerkt ist, angeblich 10.000 Euro gekostet haben soll, kann ich kaum glauben. DIE REISE NACH AGATIS sieht und fühlt sich an wie ein Urlaubsvideo, und zwar eins, bei dem nicht unbedingt, was ich D’Amato wohlmeinend einmal unterstellen möchte, künstlerische Ambitionen im Vordergrund gestanden haben. Gerade weil Dora als Schauplatz nur das Meer und das Boot hat, fehlen naturgemäß die ansprechenden Freiluftaufnahmen, die MELANCHOLIE DER ENGEL wenigstens ein bisschen retteten. Stattdessen fokussiert er das sexuelle Treiben seiner psychologisch am Reißbrett entworfenen Charaktere, die im Grunde genau das tun, was auch die Möchtegern-Libertins in MELANCHOLIE DER ENGEL getan haben, nur ein paar Grade harmloser. Lisa wird von Rafael vergewaltigt, mit gespreizten Armen und Beinen an Deck gefesselt, muss ihre Blase dort entleeren, und sich mit diversen Schneidewerkzeugen kitzeln lassen. Viel mehr geschieht in der ersten Stunde des Films nicht. Weder erfahren wir etwas über die Motivation der Täter noch Näheres über die Beziehung zwischen Rafael und Isabella, stattdessen unterhält Dora uns erneut mit Dialogen und Texten aus dem Off, die sehr gewichtig und weise tun, aber problemlos auch aus dem Poesiealbum einer oder eines Sechzehnjährigen stammen könnten, der oder die mal das eine oder andere Gedicht oder Fremdwort im Deutschunterricht kennengelernt hat. Zu allem Überfluss verschont Dora uns auch nicht mit den lyrischen Ergüssen seiner Hauptdarstellerin Janna Lisa Dombrowsky, von denen ich euch eine Kostpro-be einfach nicht vorenthalten kann. „Wie ist das, auf einem Auge blind zu sein? Mit dem andern nur Blut zu sehen beim Geschlechtsverkehr. Und sich vorzustellen, Blut flösse aus der Mitte der Frau. Blut, das man leckt. Verdaut. Ausscheidet. Frauen, die austrocknen. Zusammenschrumpfen. Zusammenfallen wie Staub. Wie ist das?“, tönt ihre Stimme gleich am Anfang zu – auch darauf ist Verlass! – einer von Doras typischen ziemlich simplen und ziemlich effektiven, weil wunderschönen Kindermelodien, und ich kann nur antworten: Ich weiß es nicht, wie das ist, und irgendwie will ich es auch nicht wissen. Besonders perfide wird es in Lisas finalem Monolog, als sie, bereits von Rafael – übrigens die einzige nennenswerte Splatterszene – graphisch zerhackstückt worden ist, quasi aus dem Totenreich ihr gewaltsames Sterben metaphorisch überfrachtet, und ich einen leichten misogynen Beigeschmack nicht von der Zunge bekomme.
Abgesehen davon, dass DIE REISE NACH AGATIS ausklingt wie eine Apologie auf Mord, Vergewaltigung und andere Missetaten, hat dieser Film auch sonst nichts, von dem ich denke, dass es man es nicht irgendwo anders ebenfalls und dort viel besser sehen kann. Wie gesagt: Es gibt Urlaubsvideos und D’Amato-Pornos, die faszinierender sind, und wer sich die volle Ladung Marian Dora geben will, der sollte sowieso zu MELANCHOLIE DER ENGEL greifen, dem gegenüber DIE REISE NACH AGATIS blass wirkt wie die erste Probe eines Theaterstücks gegenüber der großen Uraufführung. Ich jedenfalls fühle mich, als ob ich jetzt aufatmen kann, denn irgendwie scheint das Thema Marian Dora nach diesen flüchtigen Zeilen für mich endgültig abgehakt, und ich kann mir eine Auszeit in meinem liebsten Kurhotel in Appenzell gönnen, wo mich warme Bäder, sanfte Massagen und gesunde Kräutertees hoffentlich bald auf die Idee bringen, den ganzen Exploitation-Kram doch endlich endgültig linksliegen zu lassen und mich einer umfangreichen Retrospektive des österreichischen und bundesdeutschen Heimatfilms der 50er und 60er Jahre zu widmen.