Originaltitel: Drift
Produktionsland: Deutschland 2017
Regie: Helene Wittmann
Darsteller: Theresa George, Josefina Gill
Ich muss gestehen, zunächst geglaubt zu haben, an eins dieser seelenlosen Experimente der sogenannten Berliner Schule geraten zu sein. Ihr wisst schon: Unsere sowieso selten einmal expressiv geäußerten Alltagsemotionen werden noch einmal erheblich heruntergekocht; ohne Dramaturgie, ohne Plot, ohne Figuren, mit denen zu identifizieren es einem nicht mal ansatzweise möglich ist, werden außerordentlich fragmentierte Befindlichkeitsbeschreibungen abgeliefert; tja, und die Verweigerungshaltung dem potentiellen Publikum gegenüber ist eine derart verkopfte, unterkühlte, beinahe schon bösartige, dass ich selten einmal mit einem ihrer Exponenten wirklich warmgeworden bin, und mir gerade beim Oeuvre Angela Schanelecs in schöner Regelmäßigkeit den Kopf kratzen muss, mich fragend, was genau an ihnen denn nun ganze Generationen von Feuilletonkritiker zu Freudensprüngen veranlasst. Zugegeben, DRIFT teilt mit Werken wie MARSEILLE oder DER TRAUMHAFTE WEG nicht nur eine im Grunde undurchschaubare Heldin, die ihre Gefühle eher rigide in sich einsperrt statt uns über weite Strecken des Films auch nur einen Fußbreit von ihnen anzudeuten, sowie eine Story, die derart mit Verkürzungen und Verrätselungen arbeitet, dass man sie im Prinzip auch als eine bloße Ansammlung von Momentaufnahmen bezeichnen könnte, deren Synthese zwangsläufig erst im Kopf des Betrachters erfolgen muss. Auch zahlreiche formale Kongruenzen sind nicht von der Hand zu weisen: In DRIFT bewegt sich die Kamera kaum einmal; die Bilder sind statisch, streng. DRIFT wird dominiert von Originalgeräuschen, und wenn einmal so etwas wie ein Soundtrack ertönt, dann besteht er aus düsteren Drones, die sich mehr bereitwillig der allgemeinen Atmosphäre unterordnen, als dass sie sie selbst heraufbeschwören würden. Die Schnitte sind hart und kantig; Dialoge so gut wie nicht vorhanden; die Grenzen zwischen Dokumentation und Fiktion permeabel. Gerade letzterer Aspekt aber scheint mir genau der Trumpf zu sein, den mir DRIFT wie ein Ass hat zufliegen lassen, mit dem meine Neigung für ein Kino, das irgendwo an der Schnittstelle zwischen Experimentalfilm und Spielfilm balanciert, im Falle von Wittmanns Debut den Hauptgewinn hat einstreichen können.
Wenn man ein so großer Verehrer von Robert Bresson ist wie ich, sieht man wahrscheinlich überall Referenzen auf den französischen Meister eines Kinos, dessen paradoxe Qualität gerade im Nicht-Zeigen, sprich, in der Absenz jedweder Schauwerte, liegt. Andererseits haben in der Vergangenheit derart viele unterschiedliche Regisseure ebenfalls ihren Kranz vor Bressons niedergelegt, dass es mir nicht vermessen scheint, Frau Wittmann zu unterstellen, ebenfalls die eine oder andere Lehreinheit aus Schätzen des Kinos wie PICKPOCKET oder AU HASARD BALTHAZAR mitgenommen zu haben. Wenn DRIFT plötzlich unvermittelt von der Nordseeszenerie auf eine Mittelmeerinsel springt, wo eine der beiden Frauen (Theresa Gregor, die ebenfalls am Drehbuch mitgearbeitet hat) nunmehr mutterseelenallein in einem Jeep eher triste Landstraßen entlangcruist, während die andere (Josefina Gill) längst zurück in ihrer argentinischen Heimat weilt, und damit einfach mal einen essentiellen Konflikt der Beziehung der beiden Frauen und einen erheblichen Batzen Zeit unter den Tisch fallen lässt, dann erinnert das beispielweise überdeutlich an jene Ellipse in PICKPOCKET, die uns Michels Odyssee quer durch Europa schlicht verschweigt – wir erinnern uns: stattdessen sehen wir nämlich lediglich den Zug, der ihn aus Paris fortbringt, und gleich darauf den Zug, der ihn wieder nach Paris zurückbringt. Auch Theresa Gregors gesamtes Schauspiel, das tatsächlich weniger ein Spiel ist, sondern eine Absage an jedes Spiel, ruft bei mir unweigerlich Erinnerungen wach an automatenhafte Frauenfiguren Bressons wie Marie in AU HASARD BALTHAZAR, an deren versteinertem Gesicht sich höchstens mal zufällig irgendeine decodierbare Emotion ablagert, und die im Grunde neunzig Minuten lang mit der gleichen ausdruckslosen Miene, großen Augen und halboffenem Mund ins Nichts starrt.
Aber, natürlich, trotz aller Überschneidungen, ist DRIFT nicht einfach ein Bresson-Derivat, von denen es sowieso schon viel zu viele, und meist eher schlechte, gibt. Wie angedeutet: Nach einer etwa halben Stunde trennen sich die Wege unserer Heldinnen. Eine kehrt nach Argentinien zurück, die andere zieht es noch weiter fort von Deutschland. Was sie dazu führt, ihr bisheriges Leben zu chanceln, und was es ist, das sie scheinbar eine regelrechte Obsession für die See entwickeln lässt, bleibt ihr Geheimnis. Wir sehen sie in einem karibischen Swimming Pool unter Sternenhimmel. Wir sehen sie wie sie am Meeresstrand einer namenlosen Insel Steine sammelt, und sehnsüchtige Blicke aufs Meer hinauswirft. Wir erfahren nicht, wie sie auf ihre Insel gelangt ist, und woher die Verletzungen stammen, die ihr Gesicht plötzlich aufweist, so, als würde ihre großangelegte Sinnsuche sie der Fremde gegenüber regelrecht physisch verletzbar machen. Schließlich besteigt sie ein Schiff, um noch weiter hinaus auf die hohe See zu fahren, und schließlich verliert der Film sein letztes Fundament im Narrationskino: Der Ozean überwältigt nicht nur unsere Heldin metaphysisch. Nein, auch DRIFT als ästhetisches Artefakt selbst wird regelrecht vom Meer überschwemmt, so, als habe der Film Leck geschlagen, und die Wassenmassen dringen ihn in ein, durch jede verfügbare Luke. Für etwa zwanzig Minuten bekommen wir Theresa Gregor nicht mehr zu Gesicht. Was wir stattdessen sehen: Das Spiel der Wellen zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten, dem sich die Kamera allmählich annähert, ebenfalls zu schlingern anfängt, rhythmisch, meditativ, während ich irgendwann vergessen habe, dass es immerhin die Rudimente eines Plots gegeben hat, und die Bilder mich verschlingen – (oder ich sie) –, als sei ich, wie unsere Heldin, ebenfalls hineingeraten in eine Symphonie aus tiefblauen Wogen, weißer Gischt, und Sternenlicht, das die Wasseroberfläche mit einem flirrenden Flaum bekränzt. Über diesen Weg kommen die Schauwerte dann doch in den Film hinein, nur sind es natürlich Schauwerte, die vollkommen seinem minimalistischen Charakter entsprechen: Die schlichte Schönheit eines Blicks auf den uferlosen Ozean hinaus, ohne Begrenzung, ohne Rahmung, ohne einen Fixpunkt, an dem das Auge sich ausruhen könnte, so, als habe man mir die Kutte von Caspar David Friedrichs Kapuziner über die Schultern geschleudert.
Heftig fällt mir die Kutte indes von den Schultern, wenn wir unvermittelt wieder im hektischen Großstadtleben sind. Mit der S-Bahn reist unsere Heldin zu ihrer Wohnung, wo sie per Live-Chat mit ihrer Freundin in Argentinien connectet. Plötzlich – und wie heftig besticht das auf einmal! – bewegt sich die Kameralinse doch, während die beiden Frauen Belanglosigkeiten austauschen. Das Ziel ihres Zooms ist das Küchenfenster, vor dem saftig grüne Bäume stehen wie die, die wir auf der namenlosen Insel kennengerlernt haben. Nein, nicht das Fenster, was rede ich. Es ist ein Photo, das an der Scheibe klebt, worauf es der Zoom abgesehen hat. Größer und größer wird es bis es die gesamte Leinwand ausfüllt. Der Ozean, natürlich, blau, dahinter der Horizont, blau, und eine kecke Welle, die sich links im Bild höher als die übrigen hinaufwagt, in einer Spitze wie einem Schnabel gipfelnd. Ein ephemerer Augenblick im Zeitstrom, der, hätte unsere Heldin nur einen Lidschlag später den Auslöser ihrer Kamera gedrückt, schon unwiderruflich verlorengegangen wäre. Diese Welle wird sich nicht nur nie wieder auf diese spezielle Art türmen, es wird diese Welle überhaupt niemals mehr geben. Im Radio läuft derweil „Baby“ von Donnie & Joe Emerson, und: Abspann. Ohne Spaß, seit den Filmgedichten, die Jean Epstein in den 20ern, 30ern und 40ern über die Küste seiner bretonischen Heimat gedreht hat, ist mir wohl keine schönere Liebeserklärung an den Ozean begegnet als diese.