Höre die Stille - Ed Ehrenberg (2016)

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Maulwurf
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Höre die Stille - Ed Ehrenberg (2016)

Beitrag von Maulwurf »

 
Höre die Stille
Deutschland 2016
Regie: Ed Ehrenberg
Lars Doppler, Simon Hangartner, Clarissa Molocher, Antonia Langenohl, Andreas Zahn, Andreas Erb, Ana Sanchez, Marina Koch, Dominik Fenster, Oliver Troska, Jessica Reichert, Emma Jane, Maximilian Grüneisen, Matthias Horn, Vera Stadler, Alexandra Grant, Andreas Wilke, Christa Schreiber, David Jobda


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Was macht den Mensch zum Menschen? Was unterscheidet ihn vom Tier? Und wann, in welcher Situation, und unter wieviel Anspannung, wird der Mensch zum Tier?

Im Winter 1941 kommt eine Gruppe versprengter deutscher Soldaten in ein winziges Dorf, irgendwo in der Ukraine. Man ist tief im Feindesland, es ist kalt, und es die Gruppe besteht nur aus neun Soldaten und einem Leutnant. Also tritt man erstmal martialisch auf. Die Waffen werden gezeigt, die Kinder von den Frauen separiert … Es sind wirklich nur Frauen im Dorf? Zwei alte, ein paar Kinder, und sonst ausschließlich Frauen? In dem Ort leben Russlanddeutsche, und die Bolschewiken, die die Russlanddeutschen eh alle für Verräter halten, haben die Männer schon vor langer Zeit abgeholt. Jetzt warten alle darauf, dass die Russen wiederkommen und die anderen auch noch abholen. Und wegen der deutschen Wurzeln sprechen auch alle fließend deutsch. Und sind den Soldaten gegenüber auch sehr freundlich und aufgeschlossen, schließlich repräsentieren diese das ferne, aber immerhin doch, Vaterland.

Einer der Soldaten ist schwer verletzt, und zwei Frauen kümmern sich um ihn. Es wird Essen geholt, es gibt Schnaps, und Martha, die als einzige die Russen holen will, um zu beweisen dass sie alle eben doch keine Verräter sind, Martha wird gefesselt und in einen Keller gesperrt. Die Deutschen sind wenigstens freundlich, so heißt es.

Am nächsten Tag präsentieren die Frauen einen alten Trecker und einen kleinen Anhänger, und die Soldaten schaffen es tatsächlich das Gerät fahrtüchtig zu machen. Aber für diesen Tag ist es zu spät, eine Nacht bleiben sie noch im Ort. Man fühlt sich wohl, die Avancen der Frauen wachsen sich von Freundschaftsangeboten langsam zu Einladungen zum näheren Beisammen sein aus, und es gibt eine kleine Feier. Schnaps, Musik, liebevolle Blicke, man singt. Man tötet …

Martha. Martha kann sich befreien. Und Martha hat eine Waffe.

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Was macht der Krieg aus den Menschen? Die Soldaten sind ganz normale Männer, und ich wähle diesen Begriff bewusst. Wir erfahren nicht was sie in ihrem früheren Leben gemacht haben, wir wissen nur, dass der Gefreite Willi Grimm genau an dem Tag, „an dem Bremen von uns Fünfnull geputzt wurde“, dass genau an diesem Tag der Einberufungsbescheid kam. Ganz normale Männer eben. Nüssel ist soldatischer als die anderen, der denkt noch dass der Krieg gerecht ist und der Weihnachtsmann wahrscheinlich einen weißen Bart hat, aber sonst? Alle lieb, alle nett.
Die Frauen? Einsam. Sehr einsam, nachdem die Männer schon vor 2 Jahren abgeholt wurden. Die Frauen, alle so zwischen Mitte Zwanzig und Anfang Dreißig, sehnen sich nach Nähe und Wärme. Nach einem freundlichen Blick über einem rauen Stoppelbart, und großen festen Händen, die zärtlich zupacken können. Die Frage nach dem Wiederkommen wird oft gestellt. Ihr seid doch unsere Befreier. Kommt ihr wieder? Ein wenig Abwechslung in der Einöde, die aus Kindern und Arbeit, aus Arbeit und Kindern besteht.

Martha. Martha denkt, dass die Russen, wenn sie benachrichtigt werden, sie als vollwertige Mitglieder des Kollektivs ansehen würden, und nicht nur, wie jetzt, als Abschaum. Martha ist ein wenig wie Nüssel, sie glaubt noch an das Gute im menschenverachtenden Regime. Aber Martha muss mit ansehen, wie der Leutnant Katja tötet. Kaltblütig ermordet. Erwürgt. Katja, die sich so nach Wärme und Nähe gesehnt hat, mehr als die anderen, und die den älteren Leutnant so attraktiv fand.

Nach Jahren des Tötens und des Überlebenwollens, nach Jahren der Gewalt und des Grauens, was passiert da in einem Menschen? An welcher Stelle macht es Klick und irgendein Schalter legt sich um, der den Menschen zum Tier werden lässt? Der den Menschen, der Frau und Kind hat, der soziale Verantwortung trägt und einen Beruf hat, der diesen Menschen die Pistole ziehen und abdrücken abdrücken abdrücken lässt. Noch mal. Und noch mal. Der den Kopf einer Frau in ein Fass voll Eiswasser presst um von ihr zu erfahren wer den Leutnant getötet hat. Also ob sie das wüsste. Aber dies interessiert nicht, denn der Akt des Eintauchens und Festhaltens, der zählt. Genauso wie es zählt, eine Frau an einem Baum aufzuhängen, und sie mit der Schlinge um den Hals dort auf einem Schemel stehenzulassen. Oder einer Frau mit dem Gewehrkolben den Schädel einzuschlagen. Oder einfach nur mit den Fäusten auf das Weibsbild draufzuhauen, immer und immer wieder …

Und dann, als Rechtfertigung vor sich selbst, noch über die verdammten russischen Weiber herzuziehen, die im Dreck leben und nicht in Deutschland …

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Jeder dieser Soldaten hat einen eigenen Schalter, und jeder macht an einer anderen Stelle Klick. Bei dem einen etwas früher, bei dem anderen etwas später. HÖRE DIE STILLE zeigt diese Schalter, und er zeigt, was nach dem Klick passiert. In der Ukraine genauso wie in Syrien oder in Ruanda. Bei Männern genauso wie bei Frauen. Was der Film zeigt ist das Räderwerk einer Uhr, das ohne eine Möglichkeit des Eingreifens abläuft. Die Tragik wird wie mit Sieben-Meilen-Stiefeln angekündigt, das Entsetzen schleicht den Zuschauer sichtbar an, und er möchte so gerne, kann aber nicht entkommen. Es gibt keine Möglichkeit das Grauen zu verdrängen. Für niemanden. Für die Soldaten nicht, für die Frauen nicht, und für den Zuschauer auch nicht. Fassungslos muss er zuschauen wie eine Welt untergeht, wie das Räderwerk der Vernichtung in eine Idylle einbricht, wo wahrscheinlich die meisten von uns sofort ein Häuschen besitzen und die Rente verbringen möchten. Und nach dem Film, nach dem Blutbad und nach dem abschließenden Tiefschlag, den der Regisseur dem Zuschauer verpasst, danach fragt man sich dann nach den Grundlagen der eigenen Existenz. Und man möchte den Partner in die Arme nehmen und ihm sagen dass man ihn lieb hat. Doch die Lähmung, die von den Bildern erzeugt wurde ist stärker. Das Grauen überlagert die Liebe, und damit kommt der Zuschauer auch wieder in der Jetztzeit an. In einer Zeit, die über ein Jahr nach der Sichtung Frühjahr 2022 heißt, und wieder in der Ukraine wieder das Grauen zeigt …

Ich frage mich, wie dieser Film in anderen Ländern aufgenommen wurde. Was die Zuschauer in England empfunden haben. In Frankreich. In … der Ukraine?

HÖRE DIE STILLE war ursprünglich als Abschlussprojekt von Schauspielschülern der München Film Akademie geplant, wurde dann aber, nachdem ein Produzent hinzugezogen wurde, 2012 und 2013 als Kinofilm und in gemeinschaftlicher Arbeit inszeniert. Man hört oft die Unsicherheiten in den Dialogen, auch sitzen nicht alle Gesten perfekt. Die Stimmen wackeln noch ein klein wenig, aber das Gesamtbild, das Gesamtbild ist stark. Vielleicht hier und da ein klein wenig stark aufgetragen in der Dramatik, nicht mit dem Pinsel sondern mit dem Spachtel. DER HAUPTMANN, 2017 entstanden, ist da vielschichtiger und trägt sein entsetzliches Grauen mit einer sonoren Stimme vor, die wahrlich schaudern lässt. So tief geht HÖRE DIE STILLE nicht. Aber man erkennt das Potential bei den Machern und bei den Schauspielern. Und wünscht sich, dass der eingeschlagene Weg weiter beschritten wird. Es gibt in Deutschland (wieder) gute Filmemacher.

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