Human Flowers of Flesh - Helena Wittmann (2022)
Moderator: jogiwan
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Human Flowers of Flesh - Helena Wittmann (2022)
Originaltitel: Human Flowers of Flesh
Produktionsland: Deutschland/Frankreich 2022
Regie: Helena Wittmann
Cast: Angeliki Papoulia, Denis Lavant, Vladimir Vulevic, Mauro Soares, Ferhat Mouhali, Steffen Danek, Gustavo de Mattos
Aus dem zurückliegenden Monat hätte man mehrere machen können. Unabhängig voneinander stirbt jeweils ein Elternteil zweier mir besonders nahestehender Menschen; ich verbringe einen Großteil meiner Zeit in Zügen, auf Friedhöfen, in schluchzenden Umarmungen; ich komme kaum dazu, das Minimalmaß dessen zu tun, was ich eigentlich tun sollte.
Wenn ich heute, dem ersten Tag seit langem, an dem ich allein frühmorgens auf meiner Matratze liege, und dem Regen zuhöre, wie er auf die Fensterbank prasselt, die Augen schließe und mir die letzten drei, vier Wochen vergegenwärtige, rauschen die Ereignisse als Strom an mir vorbei, bei dem es mir schwerfällt, überhaupt genau zu bestimmen, ob der eine Momente vor oder nach dem andern oder ob er überhaupt stattgefunden hat.
Wie jemand, den ich gerade erst kennengelernt habe, bei einer etwa vierzigköpfigen Wanderung durchs Gebirge, die eine Urne voll Asche zu einem Waldfriedhof bringen soll, aus dem Stegreif anfängt, mir Gedichte Louis Aragons auf Französisch vorzutragen; wie ich eine Italienerin aus Monza bezüglich ihrer Präferenzen bezüglich des italienischen Genrekinos auszuhorchen versuche, und sie nie in ihrem Leben von so etwas gehört hat, und mir als Antwort auf die Frage nach ihrem Lieblingsfilm stattdessen erwidert, sie fände Haya Miyazaki und Quentin Tarantino toll; wie eine S-Bahn nach der andern ausfällt, und ich völlig atemlos über einen Zentralfriedhof haste, um exakt fünf Minuten vor Beginn der Abschiednahme an den Krematoriumspforten eintreffe; wie ich die unsensibelste Nachbarin aller Zeiten sagen höre: Tja, wirklich schade, wieder einer weniger auf der Straße, mit dem man quatschen kann!; wie ich an einem Hang in einem PKW sitze, während draußen der Sturm des Jahrhunderts tobt, und Schlammlawinen an dem Fahrzeug vorbeiziehen, und man irgendwann nicht mal mehr die Grabsteine erkennen kann, die dem Wagen am nächsten stehen, ein Regenguss analog zu den Tränen, von denen meine Klamotten irgendwann ganz vollgesogen sind – und irgendwo dazwischen einer der wenigen Filme, die ich mir in dieser Zeit anschaue: HUMAN FLOWERS OF FLESH, der zweite Langfilm von Künstlerin und Regisseurin Helena Wittmann, erschienen bereits 2022 und von mir, nachdem mich ihr Debüt DRIFT von 2017 extrem begeistert hatte, sehnsüchtig erwartet wie ein Licht am Ende des Tunnels.
DRIFT seinerzeit pustete mich ja um, als sei ich ein Spielzeugsoldat. Vielleicht lag es zu Teilen auch daran, dass ich den Film vollkommen unvoreingenommen zu Gesicht bekam, ich tatsächlich rein gar nicht wusste, was mich bei ihm erwarten würde. Seine Geschichte passt auf eine Briefmarke: Zwei Frauen, möglicherweise Liebende, verbringen einige Tage an der Nordsee; man spaziert am Strand, lässt sich den Frischfisch schmecken, schläft bis in den Mittag hinein. Dann kehrt die eine in ihre (südamerikanische?) Heimat zurück, die andere indes fühlt sich mehr und mehr vom Ozean angezogen – so sehr, dass sie ein Schiff besteigt, und als Teil der Crew Richtung Karibik zu segeln beginnt. Und dann purzelt die sowieso rein rudimentäre Handlung vollkommen auseinander und in seinem Mittelteil wird DRIFT zu einer meditativ-experimentellen Aneinanderreihung wunderschöner Aufnahmen davon, wie die Meereswellen einander jagen, wie sie sich am Schiffsbug brechen, wie das Sonnenlicht auf den Wogenkämmen reflektiert.
Auf mich wirkte DRIFT wie eine Offenbarung: Eine Fortschreibung all der herrlichen maritimen Seegedichte, die der französische Stummfilmimpressionismus in Gestalt von Werken André Antoines, Germaine Dulacs und vor allem Jean Epsteins hervorgebracht hat; ein Film durchaus gemäß der Statuten der Berliner Schule, jedoch überhaupt nicht verkrampft, verkopft und sonst wie anstrengend, sondern wirklich emotional aufwühlend, obwohl die Figuren ihre Emotionen hinter stoischen Gesichter verschanzen, der Narrationsfluss von tausendfachen Ellipsen zerklüftet wird, und das Ganze mit seinem semi-dokumentarischen Touch definitiv nicht dafür gedacht ist, irgendwen unterhalten zu wollen; ein Film, wie ich sie liebe, nämlich irgendwo zwischen Spielfilm und Experiment, irgendwo zwischen Erzählen und Schauen, irgendwo zwischen Zugänglichkeit und Hermetik – kurzum: etwas, dem ich ganz leicht verfallen kann.
Um es vorwegzunehmen: HUMAN FLOWERS OF FLESH hat mich angesichts meiner Euphorie für DRIFT tatsächlich ein bisschen enttäuscht. Das liegt natürlich auch hier zuallererst an meinen wolkenkratzerhohen Erwartungen. Denn im Kern bleibt Wittmann ihrem eklektizistischen Stil treu: Die Bilder sind streng komponiert, meist statisch, erinnern an präzise Stillleben; die Figuren sind bloße Skizzen, psychologisch kaum greifbar, sprechen wenig, haben oft ein und denselben Gesichtsausdruck, bewegen sich zeitlupenhaft; die Story entbehrt jedweder Kohärenz, erinnert mehr an eine Sammlung von Fragmenten, Zufallsimpressionen, hauchzart narrativ angehauchten Bröckchen; die Kamera beäugt den Cast distanziert, als handle es sich um Insekten unter einem Labormikroskop; extradiegetische Musik gibt es ebenso wenig wie irgendwelche sonstigen Anbiederungen an den Massengeschmack: HUMAN FLOWERS OF FLESH endet so abrupt wie er beginnt.
Trotzdem die Bilder zum Niederknien sind wie schon in DRIFT, trotzdem Wittmann für die Hauptrolle die griechische Schauspielerin Angeliki Papoulia (bekannt aus den Filmen Giorgios Lanthimos‘) gewinnen konnte und in einer Nebenrolle Leos-Carax-Intimus Denis Lavant auftritt, (der dieselbe Rolle zu verkörpern scheint wie in Claire Denis' BEAU TRAVAIL von 1999), trotzdem ich die meditativen Qualitäten des Films nicht bestreiten kann: HUMAN FLOWERS OF FLESH fügt dem Konzept von DRIFT nichts Wesentliches hinzu, weitet es höchstens in die Breite, also rein quantitativ, aus, statt es qualitativ zu übertrumpfen: Ein größeres Ensemble, mehr zeitgenössische Themen, die angeschnitten, mehr Orte, die bereist werden. Aber irgendwie fehlt die Spannungskurve, die DRIFT auszeichnete - dieser absolut irre Moment, wenn der Spielfilm vor unseren Augen reißt, und zu einem bloßen Montagefilm wird.
Papoulia heißt Ida und befindet sich zu Beginn mit vier Männern auf einem Segeltörn. Über Vlad, Farouk, Carlos und Mauro erfahren wir, wenn überhaupt, lediglich biographische Bruchstücke, denn bevorzugt sitzt man schweigend an Bord der Yacht, starrt auf die Küsten, die an einem vorbeiziehen wie die Zeit, die man zusammen verbringt, ohne wirklich zusammen zu sein. In Marseille wendet sich das Blatt: Ida kommt mit Angehörigen der französischen Fremdenlegion in Kontakt, deren Hauptquartier in einem Vorort der südfranzösischen Hafenstadt liegt. Ohne wirklich nachvollziehbaren Grund fasziniert von dieser Welt kämpferischer Maskulinität möchte unsere Heldin nunmehr unbedingt die algerische Stadt Sidi bel Abbés sehen, wo die Legionäre ihr Zentrum bis Anfang der 60er gehabt haben. Je näher die Yacht der nordafrikanischen Küste kommt, desto deutlicher werden auch die Veränderungen, die mit Ida und ihrer männlichen Crew vor sich gehen…
Ehrlich gesagt musste ich mir, um überhaupt etwas zum konkreten Inhalt von HUMAN FLOWERS OF FLESH sagen zu können, Hilfe bei der offiziellen Homepage zum Film holen. All das, was ich in den obigen vier, fünf Sätzen geschrieben habe, kann man zwar mehr oder weniger in Wittmanns Werk wiederfinden, zwingend ist es jedoch eigentlich nicht, den Film ausgerechnet auf diese Aspekte festzunageln. In anderen Worten: HUMAN FLOWERS OF FLESH erzählt noch weniger als DRIFT, wirkt über weite Strecken wie eine Parade von ästhetisch absolut sehenswerten Aufnahmen, die sich jedoch selten zu einer nachvollziehbaren Geschichte zusammensetzen. Was verbindet Ida mit den vier Männern an Bord ihrer Yacht? Weshalb fasziniert sie das Thema Fremdenlegion so sehr? Was genau hat es mit dem Treffen zwischen Ida und dem von Lavant gespielten Ex-Legionär im kryptischen Finale des Films auf sich? All das sind Fragen, die man an HUMAN FLOWERS OF FLESH stellen kann, die zu beantworten der Film freilich keinerlei Anstalten macht. Zusätzlich zu den dominierenden Spielszenen, (die, wie gesagt, selbst weitgehend wirken, als würden die Darsteller und Darstellerinnen sich primär selbst spielen, und die dabei größtenteils alltäglich-banale Momentaufnahmen präsentieren), gibt es in HUMAN FLOWERS OF FLESH auch noch eine ganze Menge rein dokumentarischer Eindrücke – Landschaftsansichten; Unterwasserbilder; Flora und Fauna in Detailaufnahmen -, dass sich die Frage umso mehr aufdrängt, weshalb Wittmann es überhaupt für nötig hielt, ihrem Zweitling den Anstrich eines Spielfilms geben zu wollen: Weshalb nicht jedwede Konvention über die Reling schmeißen und sich ganz dem non-narrativen Bilderrausch ergeben? So ist HUMAN FLOWERS OF FLESH weder Fisch noch Fleisch: Für einen Erzählfilm viel zu zerfasert, viel zu assoziativ, viel zu lose; für einen Experimentalfilm viel zu fixiert auf Charaktere, auf lineare Handlungsabfolgen, auf die Handvoll hauchzarter Plotpunkte.
Visuell freilich ist auch dieser Film Wittmanns ein Genuss, ein Stück audiovisuelle Lyrik, etwas, das man sich gut und gerne übers Bett des inneren Auges hängen möchte - ein Flecken Sonnenschein an der Holzwand des Bootes, der sich, je nach Seegang, minimal hin und her bewegt, fast zu tanzen scheint; der unendlich weite Ozean, der am Horizont gegen nebelverhangene Berge stößt, die aus dieser Perspektive schauen wie weitere Wellen, die es besonders hoch geschafft haben und dann verknöchert sind; eine Schnecke, die langsam auf einen Teller voller Wassermelonenschnitze zukriecht, und dann, als sie es fast geschafft hat, von einer Menschenhand einfach weggenommen wird - und in dieser Funktion durchaus so etwas wie ein kleines, nach Seetang riechendes, nach Möwengekreisch klingendes, blau wie das Mittelmeer schimmerndes Trostpflaster in Zeiten, wo man eigentlich nicht zum Filmeschauen kommt, und das Gefühl hat, würde man all die diffusen Eindrücke im eigenen Kopf zu einem Neunzigminüter zusammenmontieren, würden sie vielleicht ganz ähnlich ausschauen.
- buxtebrawler
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Re: Human Flowers of Flesh - Helena Wittmann (2022)
Mein herzliches Beileid, Salvatore, und Respekt für deinen bildhaften letzten Absatz - so muss man erst mal assoziieren und formulieren können!
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Diese Filme sind züchisch krank!
- Salvatore Baccaro
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Re: Human Flowers of Flesh - Helena Wittmann (2022)
buxtebrawler hat geschrieben: ↑Do 3. Aug 2023, 08:43 Mein herzliches Beileid, Salvatore, und Respekt für deinen bildhaften letzten Absatz - so muss man erst mal assoziieren und formulieren können!