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Originaltitel: Kulenkampffs Schuhe
Regie: Regina Schilling
Die Dokumentarfilmerin Regina Schilling wirft - mit Hilfe alter privater Filmaufnahmen und Ausschnitten aus Fernsehshows und Interviews - auf ein Stück deutsche Nachkriegs- und eigene Familiengeschichte zurück.
Erzählt wird die Geschichte ihres Vaters, der nach einem Einsatz im zweiten Weltkrieg eine Familie gründet und den Beruf des Drogisten ergreift. Er macht sich selbstständig und wird Vater, während um ihn das Wirtschaftswunder zu blühen beginnt. Aber das, was die Deutschen nun ausmachen soll, frisst ihn nach und nach auch auf, während Schilling noch ihre Kinderjahre verlebt.
Gleichzeitig entdeckt sie bemerkenswerte Parallelen zu drei populären Showmastern der Nachkriegszeit, die aus derselben Generation entstammten und den Krieg auf unterschiedlichste Weise durchlebt und durchlitten hatten: Hans-Joachim Kulenkampff, bekannt aus "Einer wird gewinnen", Hans Rosenthal, der Radiomoderator und populäre Gastgeber von "Dalli Dalli" und Peter Alexander, dem vielgeliebten Entertainer des Nachkriegskino.
Alle waren geprägt vom Krieg, der sie auch später stets begleitete, auch wenn das im TV nur in kleinen, fast unbemerkten Momenten durchschien. Mit ihren Unterhaltungsshows waren sie Opfer und Therapeuten des leichten "Vergessens" zugleich...
„...und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben.“
Dokumentarfilmerin Regina Schilling („Geschlossene Gesellschaft – Der Missbrauch an der Odenwaldschule“) beschäftigt sich in ihrem fürs öffentlich-rechtliche Fernsehen produzierten Essayfilm „Kulenkampffs Schuhe“ vordergründig mit den Samstagabendshows der deutschen TV-Nachkriegsunterhaltung, doch eigentlich geht es um viel mehr.
„Kulenkampff brachte die große weite Welt in unser Zuhause.“
Schon lange ist es in Dokumentarfilmen en vogue, auf eine Voice-over-Erzählinstanz weitestmöglich zu verzichten, stattdessen werden meist Statements aus verschiedenen Gründen Berufener aneinandergereiht, die das jeweilige Thema und das für den Film ausgewählte Bildmaterial kommentieren oder einordnen. Einen radikal anderen Ansatz wählt Schilling: Sie, 1962 geboren, erzählt aus ihrer Kindheit als Teil einer typischen deutschen Familie, als Tochter eines früh verstorbenen Drogisten, mit dem sie und ihre Mutter gern vor dem Fernseher saß, um sich „Einer wird gewinnen“ oder „Dalli Dalli“ anzusehen – frisch gebadet im Pyjama. Die urgemütliche Familienidylle, wie sie so oft von den Mitgliedern jener Generation beschrieben wird, wenn es um die gemütlichen Fernsehabende mit der Familie geht. Als kleine Einschränkung ist nicht Schillings eigene Stimme zu hören, in ihre Rolle schlüpfte die Schauspielerin Maria Schrader.
„Für mich waren sie Familienmitglieder.“
Doch davon ausgehend setzt sie sich nicht nur mit der Vita ihres Vaters auseinander, der aufgrund eines Herzinfarkts verstarb, als sie gerade elf war, sondern auch mit der Hans-Joachim Kulenkampffs, Hans Rosenthals und des Österreichers Peter Alexander – und letztlich mit einem ganzen Land, der BRD der Nachkriegszeit. Hierfür befragt sie keine Zeitzeug(inn)en oder lässt Wissenschaflter(innen) oder Expert(inn)en zu Wort kommen, sondern kontextualisiert aus dem ihr zur Verfügung stehenden Archivmaterial von privaten Super-8-Aufnahmen und Fotos ihrer Familie über Spiel- und Talkshow-Ausschnitte und das Werbefernsehen bis hin zu Propagandareden Hitlers, dokumentarischem Kriegsmaterial – und ihren persönlichen Erinnerungen.
„Hätte man miteinander arbeiten können, wenn man alles vom anderen gewusst hätte?“
Auf dieser Grundlage reflektiert Schilling Zeitgeist und Populärkultur und arbeitet eine Art Porträt einer kriegstraumatisierten Generation heraus. Sie begann nachzudenken, als ihr bewusst geworden war, dass sowohl Kulenkampff als auch ihr Vater Soldaten im Zweiten Weltkrieg waren. Kulenkampff amputierte sich im Krieg eigenhändig vier Zehen. Rosenthal verlor aufgrund seiner jüdischen Herkunft beinahe alles und jeden an den Holocaust und überlebte nur, weil er sich mithilfe einer Nichtjüdin verstecken konnte. Peter Alexander hatte sich gar im letzten Kriegsjahr freiwillig zur Marine gemeldet. Bei ihren Recherchen stieß Schilling auf Fernsehmomente, in denen diese Männer über den Krieg sprachen, obwohl man eigentlich nicht über den Krieg sprach, im Unterhaltungsfernsehen ebenso wenig wie in der Gesellschaft oder in Schillings Familie: Peter Alexander singt ein berührendes, zweckoptimistisches Lied, in dem er seiner Erleichterung über das Kriegsende Ausdruck verleiht, Rosenthal öffnet sich in einem TV-Gespräch gegenüber Joachim Fuchsberger und berichtet von seinem Überleben des Naziterrors und Kulenkampff bringt galgenhumoristische Anspielungen auf den Krieg unter, die die kleine Regina natürlich nicht verstand, das damalige erwachsene Publikum aber ebenso wie die mittlerweile längst erwachsene Frau Schilling.
Daraus leitet sie die These ab, dass diese Sendungen, diese Form der Unterhaltung, eine therapeutische Wirkung auf die Gesellschaft intendierte – und somit auch auf ihren Vater, der an Adenauer und das Wirtschaftswunder glaubte und CDU wählte, obwohl diese bald den Markt für das Großkapital öffnete und sämtliche Protektionen für den Berufsstand der Drogistinnen und Drogisten abschaffte, wodurch ihr Vater als selbständiger Mittelständler bankrottging und nach seinem Tod einen Haufen Schulden hinterließ. Zuvor war ein Herzfehler diagnostiziert worden und er hatte Kette geraucht. Wahrscheinlich auch, um sich wie das HB-Männchen aus der Werbung zu beruhigen – angesichts unverarbeiteter Traumata und Existenzsorgen. Sein beruflicher Niedergang wies dabei Parallelen zum Spielfilm „Industrielandschaft mit Einzelhändlern“ aus dem Jahre 1970 auf, in dem Horst Tappert („Derrick“) einen Drogisten spielte. Jener Horst Tappert, der, wie sich später herausstellen sollte, SS-Mitglied war. Auch darüber war zu dessen Lebzeiten nicht geredet worden.
So tragisch die Geschichte ihres Vaters, so sehr ringt zumindest mir, der ich diese Entertainer nur aus Archivmaterial kenne und eher der TV-Generation Gottschalk & Co. angehöre, dieser Film Respekt vor Kulenkampff, Rosenthal und Alexander ab, die, von Kritik und „Intellektuellen“ häufig belächelt bis verdammt, eine wichtige gesellschaftliche Funktion erfüllten. Insbesondere Rosenthal als vom NS-Terror Verfolgter gebührt meine höchste Anerkennung. 40 Jahre nach der Reichspogromnacht wurde ihrer Opfer erstmals gedacht. Exakt an diesem Tag wurde eine „Dalli Dalli“-Episode ausgestrahlt, womit Rosenthal haderte. Wie er letztlich damit umging, zeugt von einer Sensibilität, Souveränität und Professionalität, wie sie im Fernsehen selten geworden ist. Auch dies ist Schilling aufgefallen. Jedes Erscheinen Rosenthals auf dem Bildschirm dürfte seinen ehemaligen Peinigern „Ich lebe noch! Mich habt ihr feige Mörderbande nicht gekriegt!“ ins Gesicht geschrien haben. Ob das zu seiner Entscheidung beigetragen hatte, das deutsche Volk nach dem Zweiten Weltkrieg zu unterhalten, weiß ich nicht. Aber ich hoffe, es war ihm eine Genugtuung.
Schillings streng subjektive, persönliche bis geradezu intime Perspektive gefällt mir ausgezeichnet und passt prima zu ihrem einfühlsamen Film, an dessen Ende ich ein paar Tränchen verdrücken musste. Schilling erhielt für ihren Film den Grimme- und den Deutschen Fernsehpreis.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)
Ich bin mit Kulenkampff, Alexander und Rosenthal groß geworden (und mit dem genialen Peter Frankenfeld natürlich!), und die Geschichte von Rosenthal kannte ich, die haben mir meine Eltern auch erzählt. Was für ein Mensch muss das gewesen sein, der nach solchen Erlebnissen da geblieben ist und Unterhaltung für seine früheren Verfolger gemacht hat ...
Aber was Du über Kulenkampff und Alexander schreibst war mir neu. Irgendwie waren die halt einfach immer da - Mit 40 Jahren auf die Welt gekommen und gleich perfekte Entertainer gewesen, so ist das Gefühl. Alle drei waren für mich immer die Garanten perfekter Fernsehunterhaltung. Alle drei waren in erster Linie ihrem Publikum verpflichtet, und Kulenkampff und Alexander waren sich auch nicht zu schade mehr oder weniger platte Filme zu drehen, Hauptsache sie konnten den Menschen Freude bringen. Filme wie IMMER DIE RADFAHRER oder KRIMINALTANGO sind für mich auch heute noch einfache und umso mehr perfekte Unterhaltung.
Von daher interessiert mich diese Doku ganz extrem, nicht nur weil sie ein Ausflug in meine Kindheit ist, sondern offensichtlich auch die Hintergründe einer Zeit beleuchtet werden, die für mich eine glückliche und unbelastete Zeit war, ganz im Gegensatz zu so vielen Älteren.
Darf ich fragen wo Du die Doku gesichtet hast?
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
Die Doku habe ich auch gesehen als sie damals rauskam. Sehr gelungen und sensibel mit guten Denkanstößen.
Kulenkampff war eh eine super interessante Figur. Belesen, klug, schlagfertig und mit einer starken Meinung, aber auch einer Portion Selbstironie ohne sich dabei klein zu machen. Dazu immer elegant, mit vollendenten Manieren und einem fast subversiven Charme. Einmal habe ich ihn in Person gesehen, da sein Segelboot an der Lesum lag, wo wir früher oft mit unserem Motorboot vorbeigekommen sind. Da hat er gerade aufgemistet, schön mit Anglerhose und Gummistiefeln. Für mich war er immer so etwas wie ein Vorbild. Interessant auch sein Disput mit Heiner Geißler, den er in einer Talkshow den "schlimmsten Hetzer seit Göbbels" nannte.
Früher war mehr Lametta
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Maulwurf hat geschrieben: ↑Sa 25. Nov 2023, 10:16
Darf ich fragen wo Du die Doku gesichtet hast?
Die lief 2018 im Ersten (mit überraschend hoher Quote, heißt es), die Wiederholung auf 3Sat ein Jahr später hatte ich mir aus der Mediathek heruntergeladen (und seitdem ungesehen liegengelassen... ). Soll ich dir die mal zur Verfügung stellen?
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)
Arkadin hat geschrieben: ↑Sa 25. Nov 2023, 18:08
. Interessant auch sein Disput mit Heiner Geißler, den er in einer Talkshow den "schlimmsten Hetzer seit Göbbels" nannte.
Leider hat er einen Ausspruch Stoibers Geißler zugeordnet.
Und irgendwie passt das: als Kind mochte ich ihn als Moderator, weltgewandt und komisch ironisch. Doch mehr und mehr fand ich ihn schmierig und selbstherrlich.
Die Doku habe ich auch gesehen. Fand ich auch toll, und hat schöne Momente mit meiner Oma wieder in Erinnerung gebracht.
jogiwan hat geschrieben: solange derartige Filme gedreht werden, ist die Welt noch nicht verloren.
buxtebrawler hat geschrieben: ↑Mo 27. Nov 2023, 09:27
Maulwurf hat geschrieben: ↑Sa 25. Nov 2023, 10:16
Darf ich fragen wo Du die Doku gesichtet hast?
Die lief 2018 im Ersten (mit überraschend hoher Quote, heißt es), die Wiederholung auf 3Sat ein Jahr später hatte ich mir aus der Mediathek heruntergeladen (und seitdem ungesehen liegengelassen... ). Soll ich dir die mal zur Verfügung stellen?
Vielen Dank für das Angebot, ich hab den gerade in der Mediathek gefunden und versuche ihn mir runterzuladen. Mal sehen was daraus wird ...
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi