Mondo Siam - René Wiesner (2020)

Moderator: jogiwan

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Salvatore Baccaro
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Mondo Siam - René Wiesner (2020)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Mondo Siam

Produktionsland: Deutschland 2020

Regie: René Wiesner

Cast: Buddhistenmönchmumien, Bettler, Schlachtvieh, arglose Passanten


Abt.: „Lasciate ogne speranza, voi ch'intrate"

Auf den Namen René Wiesner bin ich in der Hochphase meiner Recherche zum Mondo-Film regelmäßig gestoßen, allerdings hat mich die Muse diesbezüglich nie leidenschaftlich genug geküsst, dass ich mir seinerzeit jemals eins der Werke des anscheinend im weiteren Umfeld Marian Doras verorteten Independent-Filmers zu Gemüte geführt hätte. Dabei deuten Titel wie ADDIO UOMO (2018), MONDO SHOCK 3 (2021) oder THE WORST FACES OF DYING (2022) durchaus darauf hin, dass Wiesner die einschlägigen Genreklassiker kennt wie die eigene Westentasche, und noch weit ins 21. Jahrhundert hinein die eignetlich längst erstickte Mondo- und Shockumentary-Fackel hochhält. Als ich kürzlich auf einer alten Festplatte eher zufällig über MONDO SIAM stolpere, jene 2020 veröffentlichte Ausgeburt eines Asien-Trips, bei dem Wiesner hemmungslos aufzeichnete, was ihm an Kuriositäten und Extremitäten vor die Camcorder-Linse geriet, halte ich die Zeit endlich für reif, doch einmal einen Blick zu riskieren – und wünsche mir im Anschluss, ich hätte die knappe Stunde Laufzeit, die MONDO SIAM beansprucht, vielleicht doch besser dazu genutzt, die Fliesen in meinem Badezimmer, die Eselsohren in all meinen Büchern oder die Blätter der Bäume gegenüber des Küchenfensters zu zählen…

Eine der Thesen im Finalsegment meiner Doktorarbeit, für die ich mir vor Jahren überhaupt in all diese Untiefen der verfemten Filmgeschichte hinabbegeben hatte, lautete ja, dass es mit dem Mondo-Genre spätestens ab den 2000ern nicht mehr weit her ist, weil die Grenzerfahrungen, die einem in den 60ern und 70ern noch im Bahnhofskino und ab den 80ern dann im Heimkino via VHS offeriert wurden, nunmehr in die virtuelle Welt abgewandert sind, wo sich dezidierte Shock Sites wie rotten oder bestgore derart effektiv daran erweisen, den Connaisseur transgressiver audiovisueller Inhalte mit jedweden erdenklichen (und unerdenklichen) Gräueln zu beschmeißen, dass Leute wie Jacopetti oder John Alan Schwartz davon wahrscheinlich nicht mal zu träumen wagten. Jemand wie Wiesner wirkt angesichts dieses Trends wie ein regelrechter Anachronismus, wenn er weiterhin Aufnahmen von, aus eurozentrischer Sicht, „eigenartiger“ Rituale, von Toten und Sterbenden, von tierleidinduzierender Kulinarik in ein klassisches Filmformat presst- denn während im World Wide Web die Clips von IS-Hinrichtungen, Tierschlachtungen, todbringenden Unfällen in so vielen Tabs wie möglich parallel nebeneinander herlaufen können, reiht MONDO SIAM seine Schauwerte, als hätte es nie einen Digital Turn gegeben, in sturer Diachronie aneinander.

Auch rein inhaltlich bewegt sich Wiesners filmisches Reisetagebuch auf klassischem Mondo-Terrain: Episodenhaft und fragmentarisch wird hier eine Parade von Dingen präsentiert, die westlichen Augen befremdlich erscheinen müssen – obwohl sie, und diesen Aspekt kann man gar nicht genug betonen - in den Regionen, die Wiesner bereist, ganz selbstverständlich zum Alltag gehören. Der Katalog an Sonderbarkeiten, die Wiesner für uns auffächert, beinhaltet dabei vor allem religiöse und kulinarische Praktiken: Erstere manifestieren sich insbesondere in Gestalt diverser buddhistischer Pilgerstätten, wo bedeutende Mönche nach ihrem Tod mumifiziert aufgebahrt worden sind. Kaum sattsehen kann sich Wiesners Kamera an den ausgemergelten, vertrockneten, oftmals lediglich noch von einer hauchdünnen Hautschicht überzogenen Menschenskeletten, die in kostbar geschmückten Schreinen drapiert sind, und den Eindruck erwecken, würde man die Deckel ihrer gläsernen Sarkophage öffnen, genügte ein Lufthauch, sie zu Staub zerfallen zu lassen. In Großaufnahme schweift das Objekt an den hölzern wirkenden Körpern entlang, fokussiert ihre eingefallenen Gesichter, betont Körperteile, die Reliquienstatus zu besitzen scheinen, und vor denen die Gläubigen in andachtsvolle Meditation verfallen. Das zweite Themenfeld wiederum beackert Wiesner, indem er sich in lokale Schlachthäuser begibt oder aber sich als voyeuristischer Gast an der Tafel eines Familienschmauses niederlässt, wo er dann erneut in unvermeidlicher Großaufnahme beispielsweise minutenlang filmt, wie Frauen frischgeschlachtete Schweine tranchieren, ihre Köpfe dekorativ inmitten von Banketten anordnen, ihnen mit bloßen Fingern die Augen aus den Höhlen zupfen.

Abseits davon ergänzt Wiesner sein Material noch mit einer Flut an Aufnahmen bettelnder Menschen, die ohne Arme, Beine oder sonst wie missgebildet durch die Gassen ihrer Slums robben und die westlichen Touristen um ein Almosen anflehen, einem Ausflug in einen Zoo, dessen Tierhaltungsbedingungen definitiv nicht europäischen Standards entsprechen, und wo wir zum Beispiel einer Krokodilsfütterung beiwohnen dürfen, bei der die hungrigen Reptilienmäulern mit lebenden Kleinsäugetieren gestopft werden, oder aber reichlich unmotiviert wirkenden Einsprengseln, in denen der Regisseur irgendwelche Passanten filmt, die ihm aufgrund ihres Äußeres skurril erscheinen, oder es einmal auch für nötig hält, einen Hund zu begaffen, der ungeniert auf offener Straße seine Blase leert.

Formal und inhaltlich mag MONDO SIAM ja dem Genre Tribut zollen, dem er seinen Titel entlehnt hat, durch seine Urlaubsvideo-Ästhetik weist er sich aber eindeutig als Film des 21. Jahrhunderts aus. Im Klartext: MONDO SIAM schafft es zu keinem Laufzeitpunkt, (und möchte es vielleicht auch gar nicht schaffen), seine Produktionsbedingungen auch nur ansatzweise zu verhehlen. Man muss sich das wohl so vorstellen: Wiesner bucht ein Ticket ins historische Siam, läuft dort mit dem Camcorder ziellos herum, zoomt auf alles, von dem er denkt, dass die Menschen daheim sich davor ekeln, sich darüber amüsieren, oder sonst in irgendeiner Weise davon affiziert werden könnten. Im Grunde tut er also tatsächlich nichts anders als das, was zahllose Mondo-Filmer vor ihm getan haben – mit dem Unterschied aber, dass diese immerhin noch auf Analogfilm drehten, und allein durch die Kostspieligkeit des Materials gezwungen waren, etwas mehr Sorgfalt darauf zu verwenden, für welche Bilder sie ihre teuren Filmrollen verheizten. Wiesner muss sich solche Gedanken im digitalen Zeitalter freilich nicht machen – und scheint auch gar kein Interesse daran zu haben, dass MONDO SIAM einen anderen Eindruck erweckt als den, dass wir die Urlaubsimpressionen zu sehen bekommen, die unser etwas derangierter Onkel beim letzten Thailand-Trip schnappschussartig auf die SD-Karte gebannt hat: Hey, Kids, schaut euch mal diesen armseligen Kerl an, der sich kaum auf seiner Prothese aufrichten kann, schon krass, wie zurückgeblieben die dort sind! Und, hier, guckt, in Asien essen sie wirklich Affenhirne! Ah, und das, das war wieder so eine olle Mumie, höhö!

Dass zwei Tugenden des Mondo-Kinos Wiesners Film komplett ermangeln, macht MONDO SIAM nicht erträglicher: Davon, dass Wiesners Bilder aufregend montiert wären, kann keine Rede sein, vielmehr fließen die einzelnen, teilweise überlangen und dadurch meist ermüdenden Segmente monoton ineinander – wobei der latent asiatisch angehauchte New-Age-Synthie-Score aus dem Off nicht dazu beiträgt, das Ganze irgendwie aufregend zu gestalten. Von den an Eisenstein geschulten Schockmontagen Jacopettis und Prosperis ist Wiesner meilenweit entfernt, wenn er, wie gesagt, minutenlang einfach nur in einschläfernder Stasis zeigt, wie eine thailändische Köchin mit einem Schweinekopf hantiert, oder wenn er die gefühlt hundertste Buddhistenmönchmumie mit der Kamera auf fast schon unangenehme Art und Weise mit der Kamera Zentimeter für Zentimeter abtastet.

Der furchtbare Soundtrack nimmt auch deshalb so viel Raum ein, weil Wiesner auf jedweden Off-Kommentar verzichtet beziehungsweise darauf, seine Aufnahmen auch nur in Grundzügen irgendwie einzuordnen: Somnambul wanken wir von einem Ort zum nächsten, ohne dass uns wenistens Zwischentitel erklären würden, wo wir uns überhaupt gerade geographisch befinden - in Laos?, in Kambodscha?, in Thailand? - oder was die konkreten kulturellen Hintergründe dieses oder jenes Vorgangs sind. Ernsthafte Didaktik ist freilich auch niemals die Zielsetzung von MONDO CANE & Co. gewesen, jedoch besaßen Wiesners Vorbildern dadurch, dass ihre Off-Kommentare Hohn und Spott gleichermaßen über indigene Fruchtbarkeitsriten, japanische Sexpraktiken oder westlichen Starkult ausschütteten immerhin noch so etwas wie eine nihilistische, kulturpessimistische, zivilisationskritische Qualität. Bei MONDO SIAM sind wir mit dem, was Wiesner uns zeigen möchte, komplett allein – und weil jedweder Zusammenhang fehlt, fehlt es zumindest mir nach nur wenigen Minuten schon an der Lust, mir den unbeholfen montierten, visuell miserabel in Szene gesetzten, grauenhaft vertonten Reigen überhaupt bis zum Ende anzuschauen.

Interessante Bilder oder Beobachtungen sind Mangelware in dieser, wie es auf der OFDB heißt, „Kuriositätenschau aus dem Leben und dem Alltag Südostasiens“, bei der angeblich „der Himmel zum Zirkuszelt“ wird: Einmal erspäht Wiesner im Umfeld eines buddhistischen Tempels Disney-Figuren, die durchaus pointiert den Einbruch der westlichen Konsumgesellschaft selbst in die heiligsten Haine Asiens symbolisieren; ein anderes Mal filmt er Strohhalme in leergetrunkenen Gläsern einer Bar, die vom Wind synchron zueinander hin und her geworfen werden, dass es wie ein einstudiertes Tänzchen anmutet. Generell kann man es jenseits solcher flüchtigen Momente spannend finden, wie sehr Tod und Sterben augenscheinlich in den Kulturen der von Wiesner bereisten Regionen noch Teil der alltäglichen Lebenspraxis sind – und sich im selben Atemzuge daran stören, wie sehr Wiesner sein Sujet exploitativ ausbeutet: Sicher, durch das Fehlen einer Erzählerstimme enthält sich MONDO SIAM direkter rassistischer, neo-kolonialistischer, exotisierender Sentenzen, absprechen kann man dem Film aber natürlich trotzdem nicht, dass seine Attitüde eine genau solche ist: Die deformierten Obdachlosen, auf deren offene Wunden, fehlende Gliedmaßen, leprös entstellte Gesichter Wiesner schamlos zoomt, dürften wohl kaum um Erlaubnis gefragt worden zu sein, ob sie als Monstrositäten in einem Neo-Mondo auftauchen möchten, und generell zeichnet MONDO SIAM allein durch die Wahl dessen, was Wiesner uns vor Augen führt, ein Bild von Südostasien, bei dem man im Jahre 2020 nur den Kopf schütteln kann, und sich tatsächlich eher in einer Freakshow wähnt als in einer ernsthaften ethnographischen Annäherung an eine fremde Kultur.

Wobei ich es aus ethnographischer Sicht eigentlich gewinnbringender fände, einmal den Fokus auf Wiesners Publikum zu legen. Die Frage jedenfalls, die mich nach der Sichtung verfolgt, ist: Wer zur Hölle nimmt denn ernsthaft sein sauer verdientes Geld in die Hand, um sich MONDO SIAM als überteuerte Hardbox ins DVD-Regal zu stellen? Diese Menschen muss es ja geben, denn sonst wäre der Streifen wohl niemals (wenn auch limitiert auf 25 Stück!) in einer solchen Edition auf den Markt geworfen worden. Andererseits bringt mich Wiesners Strategie, einfach einen Urlaubstrip in einen Mondo-Schocker umzumünzen auf eine Idee: Wieso nicht selbst ab jetzt auf jeder Reise einfach immer eine Digicam mitlaufen lassen und die Resultate als Mondo-Filme vermarkten? Im April plane ich nach Lodz zu fahren: MONDO POLONIA. Im Sommer steht hoffentlich Bologna an: MONDO BOLOGNESE. Oft bin ich ja auch in der Pfalz unterwegs: MONDO PALATINATO. Möglicherweise kann man sogar das Forentreffen im Herbst hierfür funktionalisieren: MONDO DELIRIA. Das wären schon mal 100 Hartboxen, und wenn ich für jede, sagen wir, 40 Euro verlange…

Nein, im Ernst: Avoid At Any Cost! (Wobei wahrscheinlich außer mir sowieso niemand jemals auf den Gedanken verfallen wäre, sich freiwillig dieses Machwerk anzuschauen, ergh…)
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buxtebrawler
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Re: Mondo Siam - René Wiesner (2020)

Beitrag von buxtebrawler »

Salvatore Baccaro hat geschrieben: Di 13. Feb 2024, 15:41 Möglicherweise kann man sogar das Forentreffen im Herbst hierfür funktionalisieren: MONDO DELIRIA.
:shock:

Das Ergebnis wäre nun wirklich zu schockierend, selbst für härteste Mondo-Fans...
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)
Diese Filme sind züchisch krank!
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Dick Cockboner
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Re: Mondo Siam - René Wiesner (2020)

Beitrag von Dick Cockboner »

Danke für die Warnung, Salvatore.
Obwohl ich mit aller höchster Wahrscheinlichkeit diesen Film sowieso nie zu Gesicht bekommen würde :D
Gestern Abend sah ich sogar 2 pissende Hunde und am anderen Ende der Leinen 2 pissende Herrchen, einer davon hatte eine Gipsarm...Mondo Berlino :pfeif:
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Reinifilm
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Re: Mondo Siam - René Wiesner (2020)

Beitrag von Reinifilm »

Dick Cockboner hat geschrieben: Di 13. Feb 2024, 22:03 Danke für die Warnung, Salvatore.
Obwohl ich mit aller höchster Wahrscheinlichkeit diesen Film sowieso nie zu Gesicht bekommen würde :D
Gestern Abend sah ich sogar 2 pissende Hunde und am anderen Ende der Leinen 2 pissende Herrchen, einer davon hatte eine Gipsarm...Mondo Berlino :pfeif:
:lol: :lol: :lol:
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