Wir sind deine Community rund ums Thema Film mit Schwerpunkt auf italienischem bzw. europäischem Genre-Kino. Vom Giallo über den Poliziesco/die Poliziotteschi, den Italo-Western, den Horror und der Science-Fiction bis hin zum Eurospy, zur Commedia sexy all'italiana, zu Barbaren und Endzeit, Sex- und Nunploitation, Sleaze und Trash – tausch dich bei uns gratis mit Gleichgesinnten aus, werbefrei und unkommerziell.
mutter_kuesters_fahrt_zum_himmel.jpg (142.9 KiB) 360 mal betrachtet
Originaltitel: Mutter Küsters' Fahrt zum Himmel
Herstellungsland: Deutschland / 1975
Regie: Rainer Werner Fassbinder
Darsteller(innen): Brigitte Mira, Ingrid Caven, Margit Carstensen, Karlheinz Böhm, Gottfried John, Irm Hermann, Kurt Raab, Peter Chatel, Volker Spengler, Peter Kern, Gustav Holzapfel, Lilo Pempeit u. A.
Hermann Küsters erschießt seinen Vorgesetzten, dann sich selbst. Im Werk hatten Massentlassunge gedroht. Seine Frau, Mutter Küsters steht der Katastrophe zunächst hilflos gegenüber. Ihr Sohn Ernst wendet sich von ihr ab. Ihre Tochter Corinna, Nachtclub-Sängerin, nützt die unerwartete Publizität für ihre Karriere. Die Medien berichten sensationell-aufgebauscht über den Fall. Zuspruch findet Mutter Küsters bei Karl Tillmann, einem Journalisten der DKP-Zeitung…
Das im Jahre 1975 entstandene Drama „Mutter Küsters' Fahrt zum Himmel“ des deutschen Autorenfilmers Rainer Werner Fassbinder („Angst essen Seele auf“), der das Drehbuch zusammen mit Kurt Raab verfasste, lehnt sich offenbar an den (mir unbekannten) 1929 veröffentlichten sog. Arbeiterfilm „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“ an bzw. wirkt wie eine Replik auf dessen politischen Optimismus. Die Handlung wurde unter Fassbinder in die Gegenwart verlegt und skizziert ein eher pessimistisches Bild der Nachkriegs- und Post-‘68er-Gesellschaft Deutschlands.
Emma Küsters (Brigitte Mira, „Das Stundenhotel von St. Pauli“) ist eine einfache, unpolitische Frau im reiferen Alter, deren geregeltes, kleinbürgerlich proletarisches Familienleben komplett aus den Fugen gerät, nachdem ihr Mann Hermann den Sohn des Besitzers der Reifenfabrik, in der er angestellt war, getötet und anschließend Suizid begangen hat. Als Grund werden die anstehenden Massenentlassungen vermutet, die im Raum standen. Die Folge ist ein riesiger Presserummel, dem Sohn Ernst (Armin Meier, „Schattenboxer“) und Schwiegertochter Helene (Irm Hermann, „Fontane Effi Briest“) entgehen wollen und Emma kurzerhand alleinlassen, während Tochter Corinna (Ingrid Caven, „Nea – Ein Mädchen entdeckt die Liebe“) sich als Nachtclubsängerin in einem verruchten Etablissement durchschlägt und nun ihre Chance wittert, vom plötzlichen Boulevard-Interesse an ihrer Familie zu profitieren. Verzweifelt versucht Emma, ihre Familie zusammenzuhalten und den Ruf ihres Mannes zu verteidigen, doch insbesondere eine sensationslüsternen Illustrierte gibt ihre Aussagen vollkommen verzerrt wieder. Als sie die Eheleute und DKP-Mitglieder Thälmann (Karlheinz Böhm, „Augen der Angst“ und Margit Carstensen, „Die Zärtlichkeit der Wölfe“) kennenlernt, scheint sie Rückhalt und Unterstützung zu bekommen, jedoch sehen die Tillmanns in erster Linie die Chance, die Tragödie propagandistisch auszuschlachten. Schließlich ist es der junge Anarchist Knab (Matthias Fuchs, „Ulrich und Ulrike“), der sich Mutter Küsters annimmt und mit ihr eine Aktion in den Redaktionsräumen des schlimmsten Hetzblatts durchführen möchte. Diese verläuft jedoch nicht friedlich…
Fassbinders Film wirkt über weite Strecken tatsächlich wie eine Art kommunistischer Propagandafilm, kippt dann jedoch in die Erkenntnis, dass schlichtweg alle Seiten versuchen, den Vorfall für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Bei den DKP-Leuten handelt es sich um Salonkommunisten und wohlsituierte Bildungsbürger, die die Probleme, über die sie reden, gar nicht aus eigener Erfahrung kennen. Wie sie Mutter Küsters umgarnen und zu indoktrinieren versuchen, hat etwas Sektenhaftes, Emmas persönliches Schicksal scheint jedoch allen gleichgültig zu sein – ob der Presse oder den Kommunist(inn)en. Fast alle verharren in ihren Posen und sind nie authentisch, statt auch nur einmal echte Menschlichkeit zu zeigen. Nicht einmal Emmas Familie lässt sich davon ausnehmen: In einer der beeindruckendsten Szenen des Films geriert sich Tochter Corinna wie ein Star, als sie von der Beerdigung ihres Vaters kommt, umgarnt von Journalisten, denen sie Interviews gibt, ohne sie eines Blickes zu würdigen, aber stolz dahinschreitend – Kopf hoch und Brust raus. Schließlich hat jeder seine eigene Meinung über Vater Hermann, während Emma Küsters Deutungshoheit zu erlangen versucht – obwohl der Bericht in der Illustrierten strenggenommen zwar unseriös überspitzt, aber eben auch nicht komplett erlogen war.
Es gibt zwei verschiedene Finals: eines für den deutschsprachigen Markt, eines fürs US-Publikum. Der gewalttätige Ausgang der deutschen Fassung wird in seiner Konsequenz nicht mehr gezeigt, lediglich in Form von Texttafeln erzählt, ist dafür jedoch sehr zynisch ausgefallen und wirkt wie eine Allegorie auf die Verständnislosigkeit, mit der viele damals den RAF-Anschlägen begegneten. Im US-Ende hingegen ist ein Sitzstreik in den Redaktionsräumen das Mittel der Wahl, der jedoch kaum Eindruck hinterlässt. Nachdem alle Mitarbeiter(innen) Feierabend gemacht haben, geht auch Knab und lässt die renitente Emma Küsters allein zurück. Als der Hausmeister auf der Bildfläche erscheint und die Räume abschließen will, ist er der einzige, der sich ehrlich und herzlich Mutter Küsters annimmt und sie zum „Himmel und Erde“-Essen einlädt. Dieser zum Teil mit anderen Darsteller(inne)n nachgedrehte Schluss illustriert die Machtlosigkeit friedlicher Protestler(innen) und bekommt satirische Züge. Sein Happy End wirkt kitschig, beinahe wie eine Persiflage auf harmlose deutsche TV-Produktionen, die niemandem wehtun wollen, und scheint den entpolitisierten Rückzug ins Private der deutschen Spießbürgerlichkeit aufs Korn zu nehmen.
Somit ist „Mutter Küsters' Fahrt zum Himmel“ ein schöner Rundumschlag, der dementsprechend seinerzeit auch fast durchgehend von allen Seiten abgelehnt wurde – was wiederum die Unfähigkeit zur Selbstkritik eben jener durch den Film kritisierten Gruppen und Grüppchen widerspiegelt. In Wirklichkeit ist Fassbinders Film jedoch ein beißender, auf die deutsche Gesellschaft bezogener Zeitkommentar, der mit einer famosen Brigitte Mira in der Hauptrolle aufwartet, die die etwas naive, dadurch verführbare Familienmutter aus der buckelnden, aber eigentlich nie aufbegehrenden Kriegsgeneration, die zum Spielball unterschiedlicher Interessen wird, glaubwürdig verkörpert. Das Plakative des Films mag heutzutage irritieren, verglichen mit manch damaliger Agitation ist er jedoch fast schon als subtil zu bezeichnen. Ein wenig schade ist indes, dass er inszenatorisch und in seiner Ausstattung mehr wie eine preisgünstige TV-Produktion denn wie ein Kinofilm wirkt – wobei die Texttafeln der deutschen Fassung vermutlich ein Indiz dafür sind, dass Fassbinder sich dem bewusst verweigerte. Doch wozu nur?
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)