Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt - Rosa von Praunheim (1970)

Moderator: jogiwan

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Adalmar
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Re: Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern... (1970)

Beitrag von Adalmar »

Habe den Film mal vor längerer Zeit im Fernsehen teilweise angeschaut und finde ihn schon ein sehr interessantes Zeitdokument, versehen mit einem sehr scharfzüngigen und schonungslosen Kommentar.
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jogiwan
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Re: Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern... (1970)

Beitrag von jogiwan »

Rosa von Praunheim hat sich mit „Nicht der Homosexuelle…“ ja nicht sehr viele Freunde gemacht und der Streifen über das Leben von Schwulen in der Großstadt bietet Stereotype und Klischees ohne Ende, die dann noch einmal hübsch überzeichnet und mit einem bissigen Kommentar versehen werden. Getreu dem Motto „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert“ hat sich der schwule, deutsche Mann Anfang der Siebziger nach der Liberalisierung eines Gesetzes ja ganz bequem gemacht und vögelt lieber durch die Gegend und pflegt einen unreflektierten Körper- und Jugendkult, als sich über seine eigene Lage Gedanken zu machen um diese gesellschaftlich zu verbessern. Erst im letzten Abschnitt bekommt „Nicht der Homosexuelle…“ ja dezent die Kurve und portraitiert politisch aktive Männer, die nicht mehr bereit sind, ein Leben im gesellschaftlichen Abseits zu verbringen und bereit sind, für ihre Ideale und ihre Recht aufzustehen. Damit es aber soweit kommt, muss man den Schwulen wohl zuerst einen Arschtritt verpassen, was Rosa von Praunheim mit diesen doch sehr polarisierenden Werk auch sehr eindrucksvoll gelungen ist. Auch das Bonusmaterial der DVD ist sehr interessant und zeigt neben der Podiumsdiskussion in der ARD, die eher einem Tribunal gleicht auch eine Diskussion mit New Yorker Aktivisten, die von dem bewusst überzeichneten Werk ja so gar nicht angetan waren und die mehrfach an der Kippe zum Abbruch steht. Rückblickend natürlich ein sehr wichtiger Film, der viel für die Akzeptanz homosexueller Menschen bewirkt hat, auch wenn Rosa von Praunheim einen Weg wählt, der nicht vielen gefällt.
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buxtebrawler
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Re: Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern... (1970)

Beitrag von buxtebrawler »

„Raus aus den Toiletten, rein in die Straßen!“

Der gebürtige Lette Holger Bernhard Bruno Mischwitzky ist wohl besser unter seinem Künstlernamen Rosa von Praunheim bekannt, unter dem er als explizit und offensiv homosexueller Künstler in Erscheinung tritt und mit seiner Mischung aus TV-Dokudrama, Aufklärungsfilm und filmischer Agitationspropaganda „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ im Jahre 1971 für zahlreiche Kontroversen sorgte. Von Praunheim führte die Regie und hatte das Drehbuch zusammen mit dem Sexualforscher Martin Dannecker verfasst. Angedacht war der Film seitens des WDR, der als Produzent in Erscheinung trat, als fiktionaler Film – vom analytischen Kommentar und den soziologischen Thesen, die zur Sprache kommen, wusste man indes nichts. Erstaufgeführt wurde der 67 Minuten lange Film 1971 auf der Berlinale, ein halbes Jahr später lief er im Fernsehen, wo er entgegen der ursprünglichen Planung auf einem unattraktiven Sendeplatz zu später Stunde im dritten Programm ausgestrahlt wurde. Ein weiteres Jahr später zeigte ihn die ARD überregional, wobei sich Bayern ausgeklammert und stattdessen einen anderen Spielfilm gezeigt hatte.

„Wir müssen versuchen, freier bumsen zu können!“

Der junge homosexuelle Daniel (Bernd Feuerhelm) zieht aus der Provinz nach Berlin und geht dort eine Beziehung mit Clemens (Berryt Bohlen) ein, die jedoch bald zerbricht. Daraufhin klappert Daniel diverse Stationen schwulen Großstadtlebens ab, sucht entsprechende Etablissements auf, lässt sich auf sexuelle Abenteuer ein und frönt Oberflächlichkeiten, wird aber auch Zeuge offener Homophobie, als er beobachtet, wie andere Schwule von Rockern brutal zusammengeschlagen werden. Doch nachdem er in einer Kneipe Paul kennengelernt hat, nimmt ihn dieser mit in seine ausschließlich aus homosexuellen Männern bestehende Wohngemeinschaft. Dort wird er in politische Diskussionen um die Emanzipation Homosexueller verwickelt, die ihn seinen bisherigen Umgang mit seiner Sexualität überdenken lassen…

Der Low-Budget-Film wurde komplett mit Laiendarstellern sowie ohne Originalton gedreht und anschließend nicht synchronisiert, es wurde schlicht über die Bilder drübergesprochen. Bei den zwei verschiedenen Off-Sprechern (einer für den kritisch-analytischen Kommentar, der andere für die episodische Handlung) ist das kein Problem, bei den Figurendialogen jedoch arg gewöhnungsbedürftig – wirklich synchron ist hier nämlich kaum etwas. Das wirkt leider sehr billig und dahingeschludert. In Verbindung mit dem kritischen Off-Kommentar macht der Film aber auch einen sehr selbstkritischen (Praunheim ist, wie bereits erwähnt, ja selbst Teil der homosexuellen Gemeinschaft), vor allem aber provokanten Eindruck. Der Kommentar behauptet, alle Schwulen sehnten sich nach Zweierbeziehungen, auch im weiteren Verlauf wird die Formulierung „der Schwule“ stets mit verallgemeinerndem Absolutheitsanspruch verwendet.

Darunter finden sich einige verdammt steile Thesen; in demagogischem, aggressivem, abwertendem Tonfall, der unangenehm an Propaganda aus dem Dritten Reich oder auch an eine Karikatur derselben erinnert, werden alle abgewatscht: Die Schwulen, die feste Partnerschaften eingehen wollen ebenso wie diejenigen, die lediglich auf Sex aus sind. Für Mode hat man sich gefälligst nicht zu interessieren, Fetischen wird jegliche Existenzberechtigung abgesprochen usw. Der mit Kraftausdrücken versehene Kommentar wirkt mitunter tatsächlich schwulenfeindlich, aber auch unfreiwillig komisch, wenn über „den Schwulen“ wie in einer Tierdokumentation gesprochen wird. Nur zeigt der Film eben nicht nur mit dem Finger auf andere, sondern nimmt die Schwulen selbst in die Pflicht. Statt die Heteros aufzuklären intendierte von Praunheim offenbar, der eigenen Gemeinschaft den Spiegel vorzuhalten und zu zeigen, wie sie zahlreiche Klischees selbst immer wieder bestätigt – um sie anschließend dazu aufzurufen, selbstbewusster mit sich und ihrer Sexualität umzugehen.

Auf technisch-formaler Ebene irritieren über die bereits genannten Punkte hinaus eine ellenlange, komplett stummgebliebene Sequenz, in der jedoch sichtbar gesprochen wird und die auf diese Weise keinerlei Sinn ergibt, sowie das Gespräch einer Gruppe Schwuler untereinander, das dank seiner Off-Vertonung wie abgelesen klingt. Dass diese Gruppe dabei nackt ist, dürfte wiederum ebenso wie ein in Großaufnahme gezeigter Zungenkuss für Irritationen angenehmerer Art, weil auf ein spießbürgerliches Publikum zielend, gesorgt haben. Leider drohen die Versuche, bestimmte schwule Verhaltensweisen zu deuten und zu erklären, angesichts mangelhafter Inszenierung und reißerischen, undifferenzierten, polemischen Kommentars unterzugehen. Als schwuleninterner Diskussionsbeitrag dürfte „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ eventuell besser geeignet gewesen sein denn als Aufklärungsfilm für ein Hetero-Publikum, demgegenüber er seinem aufklärerischen Anliegen eher eines Bärendienst erwiesen haben dürfte.

All dies ändert indes nichts an seiner Relevanz als Zeitdokument, weshalb ich seine Verfügbarkeit unbedingt begrüße.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Dick Cockboner
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Re: Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern... (1970)

Beitrag von Dick Cockboner »

buxtebrawler hat geschrieben: Do 25. Feb 2021, 15:01 „Raus aus den Toiletten, rein in die Straßen!“

Der gebürtige Lette Holger Bernhard Bruno Mischwitzky ist wohl besser unter seinem Künstlernamen Rosa von Praunheim bekannt...
Was'n da los?
Also mir gefällt Bibi Mischwitzky als "Künstlername" viel besser :kicher:

Ansonsten ein, wenn ich das richtig lese eher sperrig geratenes Werk, bei dem ich mich frage, für welches Publikum es denn eigentlich gemacht worden ist. Wurde der damals einfach durch Filmfestivals geschleift oder hat er sich die Meriten tatsächlich an der Kinokasse verdient? Hat er wirklich öffentlichkeitswirksam auf das Thema aufmerksam gemacht und die Emanzipation von Schwulen vorangetrieben oder sich nur an eine sowieso schon im Gang seiende Bewegung angeschlossen? Ach so, ich hab ganz vergessen zu erwähnen, das ich den Film gar nicht gesehen habe, deshalb jetzt hier viele dumme Fragen...
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Maulwurf
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Re: Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt - Rosa von Praunheim (1970)

Beitrag von Maulwurf »

Wenn ich die Wikipedia richtig verstehe, wurde der Paragraph 175 im Jahr 1969 reformiert. Bis dahin stand Gefängnis auf "widernatürlicher Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts [...] begangen wird". Ab 1969 konnten Männer über 18 Jahren miteinander schlafen, ohne eine Strafe befürchten zu müssen. Der Film von Praunheims dürfte also als Aktionnismus verstanden werden, als "Lasst uns irgendwas tun". In einer Zeit des Aufbruchs, der Revolte und des Happenings mit politischem Hintergrund sicher kein ungewöhnlicher Weg, seinen Gefühlen Ausdruck zu verschaffen. Eine Zielgruppe? Glaub ich nicht, dass das Team an sowas dachte. Das Ziel war wahrscheinlich eher, sowohl Heteros wie auch Schwulen zu zeigen, dass Liebe unter Gleichgeschlechtlichen nicht per se schlecht ist, und sich keiner für seine Gefühle schämen braucht. Aber ich bin mir auch sehr sicher, dass man in den Film nicht zu viel hineininterpretieren darf - Kamera an, draufhalten, und dann mal schauen was dabei rauskommt ...
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buxtebrawler
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Re: Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt - Rosa von Praunheim (1970)

Beitrag von buxtebrawler »

@Dick Cockboner: Es handelte sich um einen Fernsehfilm, der vor seiner Erstausstrahlung auf der Berlinale gezeigt wurde. Die Zielgruppenfrage ist bei diesem Film besonders interessant: Von Praunheims eigentliche Zielgruppe scheinen Schwule gewesen zu sein. Man stelle sich einmal vor, den Voice-Over-Kommentar hätte ein außenstehender Heterosexueller verfasst - die Wirkung wäre wohl eine ganz andere gewesen. Ich mutmaße aber, dass der produzierende WDR eher einen an die breite, heterosexuelle Masse gerichteten Film erwartet hatte und man von von Praunheims radikalem, die eigene Gemeinschaft aufrütteln wollendem Film irritiert war - wie es sein durchschnittliches Publikum vermutlich ebenfalls war. Seine Wirkung auf die schwule Gemeinschaft war allerdings anscheinend enorm. Wikipedia bezeichnet ihn als "Auslöser für die Entstehung der modernen deutschen und schweizerischen Schwulenbewegung" und erläutert:

"(...) noch im selben Jahr gründeten sich daraufhin zahlreiche Homosexuelleninitiativen, beispielsweise die Homosexuelle Aktion Westberlin (HAW), die Rote Zelle Schwul (RotZSchwul)[4] in Frankfurt am Main, die Gay Liberation Front (GLF) in Köln und das SchwuZ. Zwischen 1971 und 1973 kam es zur Gründung von insgesamt 70 Gruppen, davon 55 mit einem allgemeinen Vertretungsanspruch, viele davon mit Bezug auf den Film.[2] Dies war der Beginn der neuen, anfangs studentisch und links geprägten Lesben- und Schwulenbewegung im deutschsprachigen Raum. Zur alten Homophilenbewegung gab es wenig Kontakte und des Öfteren gegenseitige Animositäten. Aus der Ablehnung der bestehenden Lokalszene wurden in der Folge auch mehrere alternative Begegnungsstätten und Vereinslokale geschaffen."

@Maulwurf: Ich glaube, dass von Praunheim durchaus sehr überlegt an das Filmprojekt herantrat, denn der Off-Kommentar wirkt wenig spontan, sondern sehr durchdacht. Fürs Filmische schienen ihm mir einfach die Mittel zu fehlen oder er hielt es neben dem Voice-over für sekundär. Zu seinen Beweggründen sagte von Praunheim: "Der Film war geprägt von Wut und Frust, die sich in meinem bisherigen schwulen Leben in Berlin aufgestaut hatten. Ich war davon überzeugt, dass wir nicht immer nur passiv auf die Nettigkeit der Gesellschaft warten könnten, damit sich für uns etwas zum Vorteil verändert."
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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jogiwan
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Re: Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern... (1970)

Beitrag von jogiwan »

jogiwan hat geschrieben: Di 27. Nov 2018, 07:11 Rosa von Praunheim hat sich mit „Nicht der Homosexuelle…“ ja nicht sehr viele Freunde gemacht und der Streifen über das Leben von Schwulen in der Großstadt bietet Stereotype und Klischees ohne Ende, die dann noch einmal hübsch überzeichnet und mit einem bissigen Kommentar versehen werden. Getreu dem Motto „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert“ hat sich der schwule, deutsche Mann Anfang der Siebziger nach der Liberalisierung eines Gesetzes ja ganz bequem gemacht und vögelt lieber durch die Gegend und pflegt einen unreflektierten Körper- und Jugendkult, als sich über seine eigene Lage Gedanken zu machen um diese gesellschaftlich zu verbessern. Erst im letzten Abschnitt bekommt „Nicht der Homosexuelle…“ ja dezent die Kurve und portraitiert politisch aktive Männer, die nicht mehr bereit sind, ein Leben im gesellschaftlichen Abseits zu verbringen und bereit sind, für ihre Ideale und ihre Recht aufzustehen. Damit es aber soweit kommt, muss man den Schwulen wohl zuerst einen Arschtritt verpassen, was Rosa von Praunheim mit diesen doch sehr polarisierenden Werk auch sehr eindrucksvoll gelungen ist. Auch das Bonusmaterial der DVD ist sehr interessant und zeigt neben der Podiumsdiskussion in der ARD, die eher einem Tribunal gleicht auch eine Diskussion mit New Yorker Aktivisten, die von dem bewusst überzeichneten Werk ja so gar nicht angetan waren und die mehrfach an der Kippe zum Abbruch steht. Rückblickend natürlich ein sehr wichtiger Film, der viel für die Akzeptanz homosexueller Menschen bewirkt hat, auch wenn Rosa von Praunheim einen Weg wählt, der nicht vielen gefällt.

Lustig überspitzter und auf Krawall gebürsteter Film über schwule Lebenskultur und all seinen Fallstricken. Klar sollte man sich von so etwas nicht provozieren lassen, aber ganz so unrecht hat Herr Praunheim leider doch nicht, auch wenn man das nicht gerne hört. Am Kult um Jugend, Schönheit und Statussymbolen hat sich ja eigentlich nicht viel getan und auch die Verlogenheit, fehlende Selbstreflektion und der Hang zur Übertreibung in allen Facetten ist ja auch noch immer omnipräsent. Andererseits hat der Film unglaublich viel bewegt und kann daher auch nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ja, ich mag den sogar sehr.
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