S1 - Christoph Janetzko (1985)

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Salvatore Baccaro
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S1 - Christoph Janetzko (1985)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: S1

Produktionsland: Deutschland 1985

Regie: Christoph Janetzko

Cast: Analogfilmmaterial in all seinen Facetten


Kürzlich verschlug es mich auf die Jubiläumsfeier einer bundesdeutschen Kunsthochschulfilmklasse, die mit zahlreichen Zeitzeugen ihr 50jähriges Bestehen beging, und in den kommenden Monaten im Rahmen weiterer Veranstaltung noch begehen wird. Zunächst erzählte ein Herr, der vor einem halben Jahrhundert als junger Bursche seine ersten Schritte als Experimentalfilmer in besagter Hochschulklasse unternahm, allerhand Anekdoten im Stil eines Kriegsveterans oder eines Großvaters, der nostalgisch auf die gute alte Zeit zurückblickt; anschließend wurde eine Handvoll Filme gezeigt, die allesamt in den 70ern und 80ern von Studierenden der Filmklasse auf die Beine gestellt worden sind, manche digital, manche gar im originalen 16mm-Format, nachdem man sie von Spinnweben und Mäusekot im hauseigenen Archiv befreit hatte.

Es gab da einiges zu entdecken in diesem bunten Potpourri an Streifen, die davon geeint wurden, dass sie ausnahmslos von jungen Menschen stammten, deren erklärtes Ziel es gewesen ist, mit den etablierten Sehgewohnheiten zu brechen, und etwas zu fabrizieren, das man vielleicht am besten als „Anstrengende Unterhaltung“ umschreibt: Ein Film beispielsweise bestand größtenteils daraus, dass zehn Minuten lang mit einer Super8-Kamera Live-Aufnahmen irgendwelcher Rockbands von einem Röhrenfernseher abgefilmt wurden, zwischendurch Bilder von Nazi-Aufmärschen, NSDAP-Parteitagen, Goebbels und Hitler sowie US-amerikanischen Wolkenkratzern, Flipperautomaten und Großstadtverkehr hineinmontiert wurden, und von der Tonspur ohrenbetäubend laut und ziemlich verzerrt Songs der Stooges dröhnten; ein anderer Film entführte uns für eine Viertelstunde in eine sedative Montage irgendwelcher Flure, Türen, Fenster, während aus dem Off rhythmische Klopfgeräusche ertönten, die das Pärchen direkt vor mir dazu veranlassten, sich irgendwann im Takt dieses Lärms gegenseitig auf die Arme zu schlagen, als wollten sie sie sich abhauen, oder sich gegenseitig mit den Fingerspitzen in die Seite zu piksen, als wollten sie sich abstechen; ein dritter Film stellt ein frühes Video-Experiment dar, bei dem eine mutmaßliche Liebesszene an einem Strand derart manipuliert wurde, dass vor allem die das Bild horizontal entlanglaufenden Streifen im Fokus standen, und man vom eigentlichen Bildinhalt so gut wie nichts mehr erkennen konnte.

Mein Begleiter verließ die Vorstellung spätestens beim dritten Film, zumindest psychisch, denn sein Körper blieb im Sessel, der Kopf auf die Lehne gesunken, die Augen geschlossen, der geöffnete Mund ein leises Schnarchen zur Raumdecke hinaufschickend.

Ich selbst zückte irgendwann mein Handy um zu schauen, wie viel Minuten des etwa eineinhalbstündigen Programms denn schon verstrichen seien – und dann kam endlich doch die Offenbarung, auf die ich die ganze Zeit gewartet hatte.

Der letzte Film hieß S1. Regie: Christoph Janetzko. Eine 16mm-Produktion aus dem Jahre 1985. Länge: 13:48min.

Wer, wie ich, ein Faible für Materialfilme hat – also Filme, die das Filmmaterial selbst in den Mittelpunkt stellen: Filme wie Stan Brakhages MOTHLIGHT von 1963, bei dem eine Analogfilmrolle durch den Projektor gejagt und dabei abgefilmt wird, nachdem man Mottenflügel, Blümchen und andere Dinge aus Flora und Fauna auf ihr festgeklebt hat; Filme wie Birgit und Wilhelm Heins ROHFILM von 1968, bei dem wir miterleben, wie ein Analogfilm gestört, wenn nicht gar zerstört wird, indem die Heins ihn, bevor sie ihn durch den Projektor laufen lassen, mit Dreck beschmierten, ihn ankokelten oder zerschnitten, ihn durch Hitzeeinwirkung stellenweise zum Schmelzen brachten; Filme wie José Antonio Sistiagas ...ERA ERERA BALEIBU IZIK SUBUA ARUAREN…, entstanden zwischen 1968 und 1970, bei dem der spanische Maler den Analogfilm als Leinwand benutzt, und die einzelnen Streifen mit Farben bepinselt, worauf sie, durch den Projektor gejagt, zu einem lebenden Gemälde erwachten –, wer also all diesen Experimenten etwas abgewinnen kann, der wird schon mal über den Namen Christoph Janetzko gestolpert sein, stellt sein S1 doch ein "Film als Film" par excellence dar.

S1 ist eine Hommage an das Perforationsloch: Andauernd wird es prominent ins Bild gerückt bei dieser endlosen Parade von in den Projektor wandernden bereits belichteten Analogfilmrollen. S1 ist Filmgeschichte, nur anders gedacht: Sein Fokus liegt nicht auf klassischem Erzählkino, vielmehr steht die materielle Grundlage derselben im Mittelpunkt, also all die unterschiedlichen Filmformate, die seit der Erfindung der Kinematographie existiert haben und immer noch existieren, von Land zu Land verschieden, von Epoche zu Epoche verschieden, von Preisklasse zu Preisklasse verschieden. S1 ist aber auch ein kleines, gerade mal viertelstündiges Lexikon all der Tricks und Techniken, was man mit diesem Filmmaterial anstellen kann: Ein eigens konstruierter optischer Printer, mehr steht Janetzko nicht zur Verfügung, um seine Sammlung an Analogfilm per Überblendung übereinanderzulegen, sie im Zeitraffer oder in Zeitlupe ablaufen zu lassen, sie uns abwechselnd im Positiv oder im Negativ vor Augen zu führen.

Dreh- und Angelpunkt dabei ist das sogenannte Sprocket Hole, in das beispielsweise Fragmente aus Spiel- und Dokumentarfilmen collageartig eingeblendet werden, sodass es den Anschein erweckt, jedes dieser Löchlein sei eine eigene Miniaturleinwand, die ihren eigenen kleinen Film abspielen würde. Mal flackern die Bilder innerhalb der Perforationslöcher wie aggressive Werbetafeln, mal stehen sie still wie eingefroren. Über all dem, was normalerweise bei einem analogen Screening unsichtbar bleibt, zieht Janetzko die Decke weg: Wir sehen Magnettonspuren, auf denen der jeweilige Soundtrack fixiert ist; wir sehen Zahlencountdowns, die nur für den Projektionisten bestimmt sind; wir sehen Staubkörner auf dem Material, hauchzarte Kratzer, die Kreuzchen, die den Hinweis dafür geben, dass bald die Rolle gewechselt werden muss.

Einer eigenen Dramaurgie folgen Sound und Farbe: Ersterer begleitet die Bilder zuweilen rhythmisch, das tatsächlich Rattern eines Filmprojektors nachahmend, dann schweigt die Tonspur plötzlich abrupt, um im nächsten Moment wieder an Fahrt und Laufstärke aufzunehmen, sich die Bilder unterzuordnen versuchend; zweitere beginnt als dumpfes Schwarzweiß, steigert sich im Laufe der Viertelstunde in ihrer Intensität, flackert in Blau und Grün, mündet in satten Rottönen - eben ganz so, als wolle Janetzko, quasi nebenbei, neben einer Geschichte des Filmmaterials auch die Geschichte des Filmtons und der Filmfarbe aufs Tablet bringen.

S1 ist eine Hommage an die Illusionsmaschine Kino dadurch, dass die Illusion flächendeckend dekonstruiert wird, uns Janetzko ins Herz dessen wirft, was uns normalerweise beim Kinobesuch vorenthalten wird: Wir sehen dabei zu, wie ein Film dabei ist, Bilder zu gebären, (ohne dass wir diese Bilder selbst je zu Gesicht bekommen würden), und gleichzeitig sehen wir dabei zu, wie der Film beim Gebären dieser Bilder immer ein Stückchen mehr stirbt, (ohne dass wir seinen finalen Moment jemals sehen könnten, denn dann wird er reißen, und unsichtbar für uns werden). S1 ist Filmgeschichte ganz anders gedacht: Die Filmgeschichte hat sich dem Material selbst eingeschrieben durch all die Male, die es bereits projiziert worden ist, und das ist keine Geschichte, die mit Fakten, Zahlen, Namen erzählt werden könnte, sondern eine, die mehr mit Falten oder Narben zu tun hat, von denen auch wir immer mehr sammeln, je älter wird werden. S1 ist vor allem aber auch ein Handbuch dafür, wie man experimentelles Kino machen kann, ohne dass es verkopft oder verkrampft wirkt, und trotz aller Sehgewohnheitsbrüche einen Rausch evoziert, dem man sich frei von jedem intellektuellen Überbau einfach nur hingeben kann.

Schätzungsweise soll es Janetzko 500 bis 600 Stunden gekostet haben, dieses Filmmonstrum Frame für Frame zusammenzusetzen. So wird es jedenfalls in der Diskussion nach dem Screening kolportiert. Mein Begleiter ist inzwischen wieder wach, junge Studierende stellen interessierte Fragen – und ich sitze mit einem beseelten Gesichtsausdruck dazwischen.

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