Shirins Hochzeit - Helma Sanders-Brahms (1976)

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Shirins Hochzeit - Helma Sanders-Brahms (1976)

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Originaltitel: Shirins Hochzeit

Herstellungsland: Deutschland (1976)

Regie: Helma Sanders-Brahms

Darsteller(innen): Ayten Erten, Jürgen Prochnow, Aras Ören, Aliki Georgouli, Janis Kiriakidis, Peter Franke, Hans Peter Hallwachs, Ortrud Beginnen u. A.
Seit ihrer Kindheit ist Shirin Mahmud versprochen. Doch während Mahmud in Deutschland schuftet, soll die Türkin mit dem Landverwalter ihres Vaters verheiratet werden. Shirin flieht Hals über Kopf nach Deutschland. Auf der Suche nach ihrem Mahmud, wird sie mit der deutschen Wirklichkeit konfrontiert und trifft schließlich Aida, einen jungen netten Mann, der sie schamlos ausnutzen wird.
Quelle: Zweitausendeins-DVD-Covertext
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Re: Shirins Hochzeit - Helma Sanders-Brahms (1976)

Beitrag von buxtebrawler »

Rainer Werner Fassbinders „Angst essen Seele auf“ aus dem Jahre 1974 war der erste bundesdeutsche Spielfilm über Migration, Helma Sanders-Brahms‘ („Unter dem Pflaster ist der Strand“) TV-Produktion „Shirins Hochzeit“ folgte 1976 als erster deutscher Spielfilm, der sich speziell der türkischen Migration widmete – womit dieser heute fast vergessene Film ein Meilenstein in der Entwicklung des migrantischen Spielfilms war. Sanders-Brahms, die auch das Drehbuch verfasste, war Teil der Frauenbewegung und setzte sich in ihren Filmen kritisch mit der Rolle der Frau in der westdeutschen Gesellschaft auseinander, worüber sie schließlich auch bei der Personengruppe der Migrantinnen landete.

Shirin (Ayten Erten) ist eine junge Türkin, die bereits als Kind Mahmud (Aras Ören) als Ehefrau versprochen wurde. Als ihr Vater Ärger während seiner Knochenarbeit auf einem Feld Ärger mit einem Vorgesetzten bekommt und verhaftet wird, hält ausgerechnet derjenige Verwalter, nach dem er einen Stein geworfen hatte, bei Shirins Onkel um ihre Hand an, der seine Nichte de facto nach Zahlung eines Geldbetrags an diesen Mann verkauft. Shirin jedoch hat kein Interesse an ihm, hängt an Mahmud, der mittlerweile als Gastarbeiter in Köln arbeitet, und flieht vor der Zwangsehe nach Deutschland auf der Suche nach Mahmud. Sie verdingt sich als Arbeiterin in einer Fabrik, lebt in bescheidensten Umständen und findet in der Griechin Maria (Aliki Georgouli, „Die Wanderschauspieler“) eine Freundin. Nach ihrer Entlassung hält sie sich zunächst als Putzfrau über Wasser, wird jedoch vergewaltigt und steht wieder ohne Arbeit und Einkommen, von dem sie regelmäßig einen Teil an ihre Familie in der Türkei schickte, da. Als sie nach Verlust ihrer Aufenthaltserlaubnis einen Zuhälter (Jürgen Prochnow, „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“) kennenlernt, erzwingt dieser, dass sie für ihn als Prostituierte in Gastarbeiterwohnheimen arbeitet. In diesem Zuge trifft sie endlich Mahmud wieder, aber als Freier, der sie nicht erkennt. Bald darauf wird ihr Zuhälter erstochen. Shirin sehnt sich nach ihrer Heimat zurück und beschließt, in die Türkei zurückzukehren, doch dazu kommt es nicht mehr: Sie wird noch in Deutschland erschossen.

Man merkt dem Film an, dass Sanders-Brahms nicht vom Unterhaltungsfilm kommt: Ihr mit 120 Minuten überlanger Film tritt als Sozialmelodram in dokumentarischem Stil mit Erzählstimmen aus dem Off in Erscheinung. Teile des Films lassen sich theoretisch vorspulen, ohne dass man etwas Signifikantes verpassen würde. Er vermittelt zunächst Eindrücke eines primitiven türkischen Lebens ohne Elektrizität oder fließend Wasser. Die Regisseurin erzählt, als Dialog angelegt, den Film zusammen mit Shirin, was aber sehr von oben herab wirkt – als wisse die emanzipierte deutsche Sanders-Brahms alles besser und sage Shirin, was sie denkt und wie sie sich fühlt oder zu fühlen habe. Dies mag exemplarisch für Teile der damaligen Frauenbewegung oder generell progressiver politischer Bemühungen sein, wurde seinerzeit aber positiv als sehr emanzipatorisch aufgefasst. Zum Gefälle zwischen ihr und Shirin trägt auch die defizitäre Sprache der Migrantin bei, die sich in einfachem gebrochenen Deutsch verständigt.

„Shirins Hochzeit“, zeigt die Prozedur, die Gastarbeiter(innen) über sich ergehen lassen mussten, als sie nach Deutschland kamen, dokumentiert den Migrationsprozess und vermittelt, dass Frauen nach der ersten Gastarbeiterwelle ebenso benötigt wurden wie anfänglich Männer. Teil der Melodramatik ist, dass Shirin von einer patriarchalen Abhängigkeit in die nächste gerät. Es heißt, dass dieser Film das Narrativ von Sozialdramen um das Jahr 1900 herum aufgreife, was ich jedoch nicht beurteilen kann, da ich diese nicht kenne. In jedem Falle aber ist die Handlung reichlich dick aufgetragen, ohne zu erläutern, ob und wenn ja, inwieweit Shirins geschilderter Werdegang exemplarisch und mit all seinen bitteren Konsequenzen in der Realität verankert ist (womit ich in erster Linie Shirins alleinige Flucht und ihr Abrutschen in die Prostitution meine). Für wahrscheinlich halte ich, dass hier mehrere reale Missstände auf eine Person projiziert wurden.

So oder so war es für eine Türkin enorm mutig, damals in eine solche Rolle (in der sie sich sogar einmal kurz oben ohne zeigt) zu schlüpfen, die provokant in mehrere Richtungen – Türken, Deutsche, gesellschaftliche Rollenbilder etc. – austeilt. Die Folgen ließen nicht lange auf sich warten: Hauptdarstellerin Ayten Erten wurde von türkischen Faschisten massiv bedroht und bekam Probleme, weitere Filmangebote zu erhalten, auch Deutsche hätten gegen den Film und die an ihm Beteiligten gehetzt; Erten und auch Sanders-Brahms mussten unter Polizeischutz gestellt werden.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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