Tätowierung - Johannes Schaaf (1967)

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Prisma
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Tätowierung - Johannes Schaaf (1967)

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TÄTOWIERUNG

● TÄTOWIERUNG (D|1967)
mit Helga Anders, Christof Wackernagel, Alexander May, Tilo von Berlepsch, Heinz Schubert und Rosemarie Fendel
ein Houwer-Film | im Eckelkamp Verleih
ein Film von Johannes Schaaf


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»Jugend muss sich austoben können!«
Das Fabrikantenehepaar Lohmann (Alexander May und Rosemarie Fendel) adoptieren den sechzehnjährigen Benno (Christof Wackernagel), der bislang in einem Heim untergebracht war. Trotz bester gesellschaftlicher Voraussetzungen in der gut situierten Familie, beginnt für Benno eine sehr schwere Zeit, da er das rücksichtsvolle Zusammensein nicht gewöhnt, und ihm die Nachgiebigkeit seines Adoptivvaters zuwider ist. Schnell beginnt für den Jungen eine Art Resozialisierung, indem er in Ausbildungen gesteckt wird und mit Herrn Lohmann seinen wohl größten Lehrer gefunden zu haben scheint. Auch wenn Benno es im Heim eigentlich schwerer hatte, da ihm von seinen Kameraden schwer zugesetzt wurde, fühlte er sich doch sicher in diesem Rahmen, da er für ihn berechenbar war. Schnell wendet er sich von den Lohmanns ab und fühlt sich zu deren Adoptivtochter Gaby (Helga Anders) hingezogen. Allerdings ist er auf ihre perfiden Spielchen nicht gefasst, so dass alle Rahmenbedingungen schließlich zu einer Katastrophe führen werden...

Bereits seit Jahren brachte das Eckelkamp-Verleihprogramm »Filme für den anspruchsvollen Besucher« in die Kinos und Johannes Schaafs Beitrag befindet sich hierbei natürlich in guter Gesellschaft. Die Strategie, beziehungsweise die Mechanik der Inszenierungen des Stuttgarter Regisseurs kann sowohl mit Vorbehalt, als auch mit großer Vorfreude erwartet werden, weiß man doch genau, was man auf gar keinen, und auf jeden Fall geboten bekommen wird. Innerhalb dieser Gewissheiten bleibt die Regie erwartungsgemäß stilgetreu, bei der eingeschlagenen Marschrichtung jedoch ein Stück weit unberechenbar. Schaaf erzählt eine Geschichte, die mit einem Zielfernrohr bestehende Normen der Gesellschaft anvisiert, seine Protagonisten bedienen dabei sowohl Schablonen, als auch Vandalen, die sich gegen jegliche Konventionen auflehnen. Doch 1967 war man bereits in einer Zeit angekommen, in der sich die Zeitebenen und vor allem die Bewertungskriterien längst am vermischen waren. Was normal ist und was nicht, wurde zwar noch gerne von der Masse diktiert, allerdings war sie als Ganzes schon längst nicht mehr befähigt dazu. Der Einstieg in die Geschichte ist genau wie der weitere Verlauf beinahe schleppend, es macht sich ein bitterer Beigeschmack breit doch man kann nicht benennen, wo er eigentlich herkommt.

Sind es die beteiligten Personen, die dazu beitragen, weil sie auf Hochtouren daran arbeiten, den Zuschauer zu verwirren, anzuziehen, abzustoßen, zu belehren, alleine zu lassen oder zu packen? Die Gewissheit, dass ein Paukenschlag in der Luft liegen muss, fördert die Aufmerksamkeit und begünstigt den unscheinbaren Erzählfluss, die exzellenten darstellerischen Leistungen tragen ihren Teil dazu bei, die intelligente Konstruktion aufzubauen, zusammenzuhalten und im Sinne der im Film allgegenwärtigen Mosaiksteinchen in Stücke zerfallen zu lassen. In diesem Zusammenhang zeigt sich vor allem die Kamera daran interessiert, eine zumindest optische Struktur zu kreieren, indem sie sich einer beeindruckenden Symmetrie bedient. Natürlich sieht es im praktischen und übertragenen Sinne komplett anders aus, da die Geschichte viele konträr wirkende Zutaten in Wort und Tat aufweist. Benno wird adoptiert, quasi befreit, und alles soll gut werden, weil es gut werden muss. Der Weg dort hin wird mit seichtem Verständnis, verkappter Milde und Laissez-Faire zementiert. Wer könnte also auf den Gedanken kommen, dass sich der Junge, der doch eigentlich dankbar sein muss, aus dieser engen und vor allem unbekannten Zwangsjacke befreien möchte.

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Der Film an sich spielt also diskret mit den Grenzen der Vorstellungskraft, indem er sich an die Gesetzmäßigkeiten der Gesellschaft hält. Christof Wackernagel verleiht dem Protagonisten Benno ein nahezu schmerzhaft präzises Gesicht, seine scheinbare Ziellosigkeit könnte fast mit Einfalt verwechselt werden. Doch kann man jemanden als ziellos bezeichnen, der zwar nicht genau weiß, was er will, dafür aber genau benennen könnte, was er absolut nicht will? Wackernagel liefert eine sehr greifbare und überzeugende Leistung ab, die aufgrund seines jungen Alters umso beeindruckender wirkt. Der permanente Showdown des Films schleicht in Form von Helga Anders als Gaby umher, genau wie eine Katze, die ihre Beute aufspüren will, um sie vergnüglich kaputtzuspielen. Das A und Ω hierbei ist Helga Anders' unverwechselbare Körpersprache, die ihre gesamte Karriere noch diktieren sollte. In "Tätowierung" kann man sich daher keine andere Darstellerin vorstellen, die Weg und Ziel so unmissverständlich in Perfektion und Präzision glaubhafter hätte vermitteln können. In den Kreis der besonderen Darbietungen reihen sich Alexander May als treffsicherer Provokateur eines Fiaskos, und Rosemarie Fendel als duldende Zuschauerin einer unerträglichen Situation ein, die beide eine gefährliche Ruhe kolportieren, die zum Himmel schreit.

Ab einem gewissen Zeitpunkt kommt es zu einer kompletten Wende und der Film zeigt sich von seiner trügerischen Sonnenseite. Gabys Sekundär-Beute hat kapituliert, die sich angestauten Emotionen und Triebe aller Beteiligten finden ihr Ventil, auch fernab von der auffordernden, jungen Dame. Alle sind glücklich, zufrieden und jung wie tatsächlich oder einst. Was ist geschehen fragt man sich, ist es letztlich denn wirklich so einfach wie man hier sieht? Der allgegenwärtige Irrglaube, dass man ein Gefühl wiederholen oder es gar fabrizieren könnte, zerfällt schneller in Stücke, als man diesen Eindruck überhaupt gewinnen konnte. Schnellstmöglich machen gute alte Bekannte wie beispielsweise Illusionen der zerplatzten Art wieder an Boden der Tatsachen gut und der Film spart sich ganz im Sinne seiner Intention ein vorgefertigtes Fazit auf, so dass es die vornehmste Aufgabe des Zuschauers bleiben wird, eine weitreichende Prognose zu formen, die Johannes Schaaf hervorragend ebnen konnte. "Tätowierung" bleibt in seiner bewussten, nüchternen, oder sogar unscheinbaren Herangehensweise überaus beeindruckend und bei genauerer Überlegung viel bewegender, als der erste Blick vielleicht hergeben möchte. Ein wirklich sehenswertes Stück deutscher Filmkunst, das seinerzeit mit dem Prädikat »besonders wertvoll« ausgezeichnet wurde.
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