Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Moderator: jogiwan

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buxtebrawler
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Re: Tatort - Der Diskussionsthread zur Krimiserie

Beitrag von buxtebrawler »

Tatort: Feierstunde

Das als komödiantische Alternative zu herkömmlichen „Tatort“-Episoden angesetzte Konzept des Münsteraner „Tatorts“ um Ermittler Frank Thiel (Axel Prahl), dessen Assistentin Nadeshda Krusenstern (Friederike Kempter) und Gerichtsmediziner Prof. Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) ging am 25.09.2016 in seine 30. Runde und feierte nach einem Drehbuch Elke Schuchs unter der Regie Lars Jessens („Dorfpunks“) somit ein Jubiläum. Für dieses hatte man sich etwas Besonderes einfallen lassen: Verstärkt in Richtung eines harten Thrillers sollte es gehen. Ob dieser Ausbruch aus dem konzeptionellen Korsett funktionierte?

Boerne wurden drei Millionen Euro Fördergeld für seine Forschungsarbeiten an Mumien bewilligt, sehr zum Leidwesen von Juniorprofessor Harald Götz (Peter Jordan, „Die Schimmelreiter“), der dadurch für seine Forschung an einem ALS-Medikament leer ausging. Seine persönliche Betroffenheit – seine Frau leidet unter dieser heimtückischen Krankheit – lässt ihn einen derart starken Groll gegen Boerne hegen, dass er seiner Psychotherapeutin Dr. Corinna Adam (Oda Thormeyer, „Homevideo“) ein ums andere Mal Vernichtungsfantasien offenbart. Als dann auch noch seine Frau tot aufgefunden wird – sie hatte sich mit einer Pumpgun, die Waffennarr Götz im Darknet erstanden hatte, ins Gesicht geschossen –, brennen bei ihm endgültig die Sicherungen durch: Er verschafft sich gewaltsam Zutritt zu Boernes Feierstunde in einem Restaurant, lässt Boerne ein vergiftetes Häppchen verspeisen und nimmt die gesamte Gesellschaft unter Waffengewalt als Geiseln: Alle sollen Zeuge werden, wie Boerne dieselben Höllenqualen durchleidet wie seine Frau…

Die berechtigte Frage nach der gerechten Verteilung von Fördergeldern und der Finger in der Wunde von der Forschung stiefmütterlich behandelter Krankheiten müssen alsbald einer Handlung weichen, in der Götz als psychopathischer Racheengel nicht nur dem arroganten Boerne übel mitspielt, sondern auch eine Geisel kaltblütig erschießt und sich mit den anderen, die er mittels perfider Psychospielchen aufruft, Boerne zu töten, um ihr eigenes Leben zu retten, auch dann noch verschanzt, als das SEK und seine Therapeutin vor der Tür stehen. Dass sich Thiel ausgerechnet von dieser zuvor wegen seiner Rückenschmerzen behandeln ließ und sie schließlich als manipulativ und damit mitschuldig an Götz‘ Gewaltausbrüchen überführt wird, ist nur eine von vielen arg bemüht konstruiert erscheinenden Entwicklungen dieses unglaubwürdigen „Tatorts“: Da wird zunächst von einem ansteckenden Virus ausgegangen, was die Stürmung des Gebäudes verhindert, dann irrsinnigerweise angenommen, die verlogene und manipulative Therapeutin könne etwas ausrichten, indem sie zu Götz geschleust wird und Boerne samt seiner Assistentin, der kleinwüchsigen Silke „Alberich“ Haller (Christine Urspruch), und schließlich sogar mit Kommissar Thiel von Götz immer wieder alleingelassen, sodass sie sich beinahe in aller Seelenruhe absprechen können, obwohl ihm doch eigentlich das Hauptinteresse Götz‘ gilt.

Nein, aus der vielversprechenden Grundidee, die Stoff für einen starken medizinischen Thriller inkl. provokanten Fragen und kritischen Aussagen geboten hätte, wird nicht viel mehr als ein auf die Frage nach Boernes Überleben reduzierter TV-Krimi, der es sich, den Gesetzen der Prime-Time-Unterhaltung folgend, letztlich viel zu einfach macht: Aufgrund einer vorhersehbaren Entwicklung stirbt mit dem Antagonisten auch sein Anliegen, das mit dem Thema überhaupt nicht gerecht werdenden, kurzen Kommentaren im Epilog beiseite gewischt wird. Mit Götz wurde auch sein verständliches Anliegen regelrecht dämonisiert, während der Zuschauer mit Ekelpaket (der, wie mehrfach angedeutet wird, dann ja doch kein so übler Kerl sei) Boerne mitzufiebern angehalten ist.

Der den Münsteraner „Tatorten“ zugeschriebene Humor bleibt hier ebenfalls vollkommen auf der Strecke, nicht zuletzt, da Thiel und Boerne diesmal gar nicht zusammen ermitteln können, was das totale Aus für jeglichen Dialogwitz bedeutet. In den Momenten, in denen Liefers seine Figur profiliert, wirkt diese wie eine klischeehaft viel zu überzeichnete Karikatur ohne jede Pointe. Eine Handlung wie diese zur Komödie umzufunktionieren, hätte indes noch weniger geklappt; insofern darf bezweifelt werden, dass dieses Drehbuch in diesen Rahmen jemals hätte passen können.

Im allgemeinen Wirrwarr inkl. seiner nach US-Serienvorbildern entwickelten schrulligen, skurrilen Dauerprotagonisten und flachen Nebenfiguren versucht Regisseur Lars Jessen redlich, allem gerecht zu werden, kaschiert Logiklöcher, vermeidet Längen und zieht sich allen Widerständen zum Trotz am roten Faden bis zum Abspann. Unter Jessen ist die Kamera nah dran an den Gesichtern und suggeriert damit eine Intensität, die dieser „Tatort“ mit Sicherheit angestrebt hat, jedoch außer in vereinzelten Momenten nicht erreicht. Dass aus diesem Jubiläums-Experiment nicht mehr als überforderte, unfokussierte, durchschnittliche TV-Kost wurde, lässt den Umgang mit dem eigentlichen Thema fast exploitativ erscheinen, und zwar auf eine unangenehme Weise.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Re: Tatort - Der Diskussionsthread zur Krimiserie

Beitrag von buxtebrawler »

Hat jemand den gestrigen "Tatort" gesehen? Wenn ja, wie hat er gefallen?
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Re: Tatort - Der Diskussionsthread zur Krimiserie

Beitrag von buxtebrawler »

Tatort: Der Fall Schimanski

Am 29.12.1991 endete die Ära Schimanski innerhalb der TV-Krimireihe: In seinem 29. Fall, den er (Götz George) zusammen mit Kollege Thanner (Eberhard Feik) durchzustehen hatte, quittierte er den Dienst. Schimanski-Erfinder Hajo Gies, der den Großteil der „Tatorte“ mit Götz George gedreht hatte, ließ es sich nicht nehmen, auch diesmal Regie zu führen. Und das Drehbuch Axel Götz‘ und Thomas Wesskamps sagt bestimmt nicht leise Servus, sondern lässt es noch mal krachen:

Schimanski liegt auf der Straße, möglicherweise betrunken, eine weiße Katze im Arm. Offenbar hat er die Nacht unter freiem Himmel verbracht. Schimanskis Erwachen leitet eine ausgedehnte Rückblende ein. Er erzählt von seiner neuen Freundin Corinna alias Nora (Maja Maranow, „Starkes Team“) – einer verheirateten Frau, genauer: der Gattin des Staatssekretärs Zech (Alexander Radszun, „Kaminsky - Ein Bulle dreht durch“), einer Feier am Flussufer mit seinen italienischen Freunden und Corinnas von ihm beobachtetes Aufeinandertreffen mit dem windigen Autolackierer Pfeiffer (Armin Rohde, „Lola rennt“), der sie bedrohte. Es kam zum Handgemenge zwischen den Männern, wobei Pfeiffer Schimanskis Jacke zerriss. Als er diesen am nächsten Tag in der Werkstatt aufsuchte und 200,- DM für die Jacke forderte, wurde er unwissentlich in ein mafiöses Komplott verwickelt: Die Scheine waren präpariert und dienten als Aufhänger, Schimanski einen ausgeklügelten Bestechungsskandal anzuhängen, um ihn loszuwerden. Schimmis Vorgesetzter Jahnke (Peter Fitz, „23“) wittert seine Chance, den unliebsamen „Ruhrpott-Rambo“ und „Anarchisten“ loszuwerden und bietet eine Versetzung nach Frankfurt/Oder an, doch dieser versucht, seine Ehre wiederherzustellen. Im Korruptionsskandal um Bauland, der dahintersteckt und Todesopfer fordern wird, muss er fortan so gut wie auf sich allein gestellt ermitteln, denn seine Kollegen scheinen ihm zu misstrauen – erklären ihn gar mittels eine Psychologin für unzurechnungsfähig…

Die relativ komplexe Geschichte wird spannend und stets gut nachvollziehbar erzählt und enthält dabei noch einmal viele typische Duisburg-„Tatort“-Versatzstücke: Schimmis ihn in die Bredouille bringende Frauenaffären, sein – trotz Thanner – Einzelkämpfer-Image, das Unverständnis konservativer Vorgesetzter für seinen unkonventionellen Lebens- und Ermittlungsstil, seine Geldprobleme usw. All das fügt sich keinesfalls erzwungen wirkend in die Handlung ein, in der man ihn nach seiner Kündigung sogar auf dem Arbeitsamtsgang sitzen und später im Einzelhandel in weißen Kittel gewandet arbeiten sieht. Sogar einen homosexuellen Mitbewohner bekommt der ewig und nun erst recht Klamme, seinerzeit bewusst als Statement gegen Homophobie und Diskriminierung eingesetzt. Alte Freunde jedoch eilen ihm alsbald zur Hilfe und treten immer dann Erscheinung, wenn es für ihn nicht weiterzugehen droht. Dadurch bekommt dieser „Tatort“ dann doch einen konstruierten Touch, der ihm jedoch als Letztem seiner Art verziehen sei – immerhin ist dies Anlass für Gastauftritte wie die von Kriminalrat a.D. Karl Königsberg (Ulrich Matschoss) und Saarbrücken-Kommissar Max Palu (Jochen Senf).

Durch ein paar Actionszenen und Schusswaffeneinsatz muss Schimanski ebenso durch wie durch akute Lebensgefahr und den totalen Verlust seiner Reputation, bis er letztlich alles auf eine Karte setzt und hoch pokert, doch alles gewinnt. Denn als Gewinn empfindet Schimmi am Ende, wenn die Rückblende längst wieder von der filmischen Gegenwart abgelöst wurde, seine neugewonnene Freiheit – in den Polizeidienst wird er nämlich nicht mehr zurückkehren. Etwas sehr zur Übertreibung neigt man, wenn man Schimanski von einer Rocker-Delegation in Empfang nehmen und feiern lässt oder wenn er sich in einem Paraglider vom Dach stürzt. Klar, diese Szene soll noch einmal den Freiheitsaspekt symbolisieren und unterstreichen und man nimmt es ihm durchaus ab, wenn er befreit lachend über die Dächer Duisburgs gleitet. Ein anderer Song als ausgerechnet die von Dieter Bohlen komponierte (jedoch glücklicherweise nicht von ihm, sondern von Bonnie Tyler gesungene) Luftnummer „Against the Wind“ hätte Schimanski in seiner letzten „Tatort“-Szene indes weitaus besser zu Gesicht gestanden.

Alles in allem ist „Der Fall Schimanski“ aber ein gelungener, bisweilen augenzwinkernd humorvoller, auch etwas wehmütiger Abschied – vom „Anarcho-Ruhrpott-Rambo“ und von den 1980ern. 1997 jedoch kehrte Götz George in seiner Paraderolle für eine neue Serie, das Spin-Off „Schimanski“, zurück. Deshalb an dieser Stelle kein „Mach’s gut!“, sondern ein „Schönen Urlaub und bis später!“
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Santini
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Re: Tatort - Der Diskussionsthread zur Krimiserie

Beitrag von Santini »

buxtebrawler hat geschrieben:Hat jemand den gestrigen "Tatort" gesehen? Wenn ja, wie hat er gefallen?
Gestern angeguckt und ich fand ihn interessant und sehenswert.
War, mal wieder, ne ganz eigene Schiene und kein "08/15-Beitrag".
Angucken! ;)
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McBrewer
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Re: Tatort - Der Diskussionsthread zur Krimiserie

Beitrag von McBrewer »

buxtebrawler hat geschrieben:Hat jemand den gestrigen "Tatort" gesehen? Wenn ja, wie hat er gefallen?
Der Berliner META war wohl einer der beiden "Experimental" Tatorte, die jetzt jedes Jahr gezeugt werden dürfen. Mal klappt das ja ganz gut (wie Murots "Es lebe der Tod" bzw "Wer bin ich" oder der Frankfurter "Fürchte Dich") oder auch mal in die Hose gehen (schlimm„Babbeldasch“)
META machte auch zum Teil großen Spaß, ich persönlich mochte aber den Berlinale Background nicht. Wenn man das aber ausblendet, konnte man als Filmfreund_in schon sehr seinen Spaß haben.
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buxtebrawler
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Re: Tatort - Der Diskussionsthread zur Krimiserie

Beitrag von buxtebrawler »

@Santini/McBrewer: Danke, werde mir den dann evtl. auch noch ansehen. Das Spiel mit den Meta-Ebenen klang etwas anstrengend, die Film-Zitate aber versprechen Spaß.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Re: Tatort - Der Diskussionsthread zur Krimiserie

Beitrag von buxtebrawler »

Tatort: Verbrannt

Nachdem rassistische Dessauer Bullen am 7. Januar 2005 den Asylbewerber Oury Jalloh aus Sierra Leone in ihrer Zelle auf der Wache bei lebendigem Leib verbrannten, wurden die Verantwortlichen in einem Justizskandal zunächst freigesprochen. Gegen den Dessauer Mörderbullenklüngel, der mindestens zwei weitere Tote auf dem Gewissen hat, kam es bis heute zu keiner Verurteilung wegen Mordes. Dieses reale Vorbild nahm Autor Stefan Kolditz zum Anlass für ein Drehbuch zur „Tatort“-TV-Krimireihe, das für das Hamburger Ermittlerduo Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring) und Katharina Lorenz (Petra Schmidt-Schaller) in seinem sechsten Fall geschrieben und von Regisseur Thomas Stuber („Teenage Angst“) in seinem bisher einzigen Beitrag zur Reihe verfilmt wurde. Die Erstausstrahlung erfolgte am 11.10.2015.

Der Ort wurde ins niedersächsische Salzgitter verlagert: Dort halten sich Lorenz und Falke gerade auf, um den afrikanischen Asylbewerber Gibril Bali (Ibrahima Sanogo, „Irina Palm“) wegen des Verdachts zu beschatten, er würde mit gefälschten Ausweisen handeln. Als Lorenz ihn festnehmen will, wehrt er sich, woraufhin Falke wie von Sinnen auf ihn einschlägt. Am nächsten Tag stellt sich die Unschuld des Verdächtigten heraus. Als beide die örtliche Wache aufsuchen, in der Bali in einer Gewahrsamszelle festgehalten wurde, müssen sie erfahren, dass er die Nacht nicht überlebt hat: Der mit Händen und Füßen an das Bett Fixierte ist verbrannt. Während Lorenz und Falke in Salzgitter bleiben, um den Fall aufzuklären, stoßen sie auf viele Ungereimtheiten, eine Mauer des Schweigens – und Lorenz an ihre psychischen Grenzen…

„Verbrannt“ orientiert sich für einen Krimibeitrag mit fiktionaler Handlung lange Zeit relativ eng am realen Fall, eingebettet ins Hamburger „Tatort“-Format. Falkes Kurzschlussreaktion, in der er selbst Polizeigewalt verübt, scheint seiner emotionalen Bindung zu Lorenz geschuldet und führt zu einem ausgeprägten schlechten Gewissen, das seinen Teil dazu beiträgt, nicht nur dem Mord auf den Grund zu gehen, sondern sich auch verstärkt in die Welt des Opfers zu begeben. Besuche im Asylbewerberheim, bei denen man sich den Reaktionen der Freunde und Bekannten Balis aussetzt, sind ebenso die Konsequenz wie eine vorsichtige Rekonstruktion seines Lebens, die ihm ein Gesicht gibt. So stellt sich heraus, dass Bali – wie auch Jalloh – Vater eines mit einer Deutschen gezeugten Kindes war, was die Handung zu einer falschen Fährte ausbaut, die bereits einen Eindruck von der allgegenwärtigen ablehnenden Haltung gegenüber Asylbewerbern vermittelt.

Erste Ermittlungsergebnisse sind, dass die in der Nacht diensthabenden Polizisten Maria Sombert (Annika Kuhl, „Herr Lehmann“) und Mehmet Mutlu (Taner Sahintürk, „Der Kuaför aus der Keupstraße“) viel zu spät auf den Alarm reagiert haben – absichtlich? Kabarettist Serdar Somuncu tritt als Anwalt des Opfers in Erscheinung und legt mit einem seriösen Auftritt den Finger in die Wunde des institutionellen Rassismus, während manch Polizist in branchenübliches Gejammer über die Arbeitsbedingungen verfällt. Verdächtig macht sich insbesondere Mutlu, der als türkischstämmiger Polizist derart überintegriert scheint, dass er seine gewonnene Akzeptanz offenbar nicht aufs Spiel setzen möchte und deshalb gute Miene zum bösen Spiel macht. Seine weniger dickhäutige Kollegin Sombert gerät unter Druck sowohl seitens der Ermittler als auch der dies argwöhnisch beobachtenden Kollegen und zeigt sich in einer Szene splitternackt – was auf mich wie eine Mischung aus Fanservice und Metapher für ihre Schutzlosigkeit beim Ablegen des Mantels des Schweigens wirkt.

Überwiegend ist all das ziemlich gut gelöst und mit der nötigen Sensibilität in Szene gesetzt, ohne auf klassischen Spannungsaufbau zu verzichten. Der Korpsgeist der sich nach außen hin als soziales Team präsentierenden Polizisten, die jedoch ein ganz eigenes, überaus eigenwilliges Verständnis von Recht und Gesetz entwickelt haben, verursacht ein durchgehend äußerst unangenehmes Gefühl, Wut paart sich mit Ohnmacht und einem mit Füßen getretenen Rechtsbewusstsein. Kameramann Alexander Fischerkoesens Bilderwelt illustriert diese Stimmung entsprechend, visualisiert Tristesse, Frust und Nachdenklichkeit und arbeitet immer wieder mit Rauch- und Qualmmotiven, die den Mord symbolisieren.

Nun muss auch dieser „Tatort“ natürlich zu einer Conclusio kommen – und sich damit zwangsläufig vom realen Fall emanzipieren, dessen genaue Tatumstände noch immer unklar sind, da die involvierten Dessauer Polizisten die konstruktive Mitarbeit verweigern. Und exakt dies ist der Punkt, an dem dieser „Tatort“ zu schwächeln beginnt: Das Falke zugespielte Polizeiparty-Video, auf dem eine hinzugezogene Lippenleserin irgendeinem Gestammel um einen gewissen „Hagen“ entziffert, was Falke auf die Nibelungensage schließen lässt, woraus er wiederum Rückschlüsse auf Tathergang und Motiv zieht, woraufhin der damit konfrontierte Mörder sich selbst richtet und dessen Vorgesetzter gegen Ende den großen Erklärbärtanz steppt, während er platt und klischeebehaftet den Filmpsychopathen mimt, ist leider einmal mehr ziemlich an den Haaren herbeigezogen. Man hätte gut daran getan, mit der letzten Einstellung vor Beginn der Beweissichtung zu schließen, denn diese brachte alle oben genannten Gefühle noch einmal perfekt auf den Punkt und hätte das Publikum nachdenklich gestimmt entlassen. Aber der durchschnittliche „Tatort“-Zuschauer braucht ja anscheinend seine Katharsis und so wird konstruiert um des Konstruierens willen…

Doch bis zu jenem Punkt verzichtete dieser „Tatort“ auf überzeichnete Figuren und stellte den eigentlichen Fall in den Vordergrund, für den es eigentlich gar keine Katharsis geben kann: Wer auch nur über einen Hauch Abstraktionsvermögen verfügt, wird begreifen, welche Gefahr von einer Institution wie der Polizei ausgeht, die sich über das Gesetz stellt, statt dieses zu verteidigen, deren Mitglieder sich gegenseitig decken und vor Gericht generell kaum etwas zu befürchten haben. Gleichzeitig ist es diese schwerbewaffnete, mit zahlreichen Privilegien ausgestattete Exekutive, die beständig ihr Leid über vermeintlich unzureichende Befugnisse klagt und sich in Lobby-Verbänden wie der euphemistisch betitelten „Gewerkschaft der Polizei“ organisiert, um noch mehr Rechte, noch mehr Macht bei gleichzeitiger weiterer Aushöhlung der Verfolgung von Straftaten im Dienst für sich zu erstreiten. Eben jene GdP entblödete sich dann auch nicht, auf die Ausstrahlung dieses „Tatorts“ mit einem öffentlichen Statement beleidigt zu reagieren und sich „vorgeführt“ zu wähnen, statt sich einmal kritisch damit auseinanderzusetzen, welchen Nährboden für rechtsextremistische Umtriebe und Faschismus die autoritären Polizeistrukturen bieten und ob es wirklich eine so gute Idee ist, diese immer weiter hochzurüsten …

Für Petra Schmidt-Schaller war dies der Ausstieg aus der „Tatort“-Reihe, seit 2016 macht Falke mit einer neuen Kollegin weiter. Es bleibt die vage Hoffnung, dass es dem von antidemokratischen Kräften unterlaufenen deutschen Justizsystem in naher Zukunft doch einmal gelingen wird, den Dessauer Sauhaufen mit seinen feigen Mördern zu zerschlagen, zur Rechenschaft zu ziehen, sämtliche Todesfälle aufzuklären – und damit ein für alle Mal zu demonstrieren, dass auch die Polizei geltendem Recht untersteht. Man wird ja wohl noch träumen dürfen…?
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karlAbundzu
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Re: Tatort - Der Diskussionsthread zur Krimiserie

Beitrag von karlAbundzu »

TATORT KIEL - Borowski und das Land zwischen den Meeren
Borowski ist auf einer Insel, Amtshilfe leisten und hat keine Lust. Trifft auf eigentümliche Moralvorstellungen. Und einer Frau, die für den Tag lebt.
Hm, Axel Milberg alleine ist mir echt zu hölzern. wenn er keine Kollegin hat, ist er uninteressant, und Milberg kann da auch nicht viel füllen. Das Buch ist auch 08/15, typisches Landbevölkerungsdissen (wobei ich ansonsten nichts gegen hab ;-)), usw. Brillant wie immer Christiane Paul, alles auch handwerklich (Kamera, Musik...) gut gemacht, aber leider insgesamt zu durchschnittlich. Den Kieler kann ich wohl wiede treichen.

TATORT LUDWIGSHAFEN - WALDLUST
Ein Tatort im Horror-Krimi Style. Und nach Koppers Abgang (schnüff) ein guter Beginn. Und passend: Das Team fährt zu einer Gruppenerfahrung in ein abgelegenes Hotel, um zu überlegen, wie es weitergeht. UNd sie sind alle gut in ihrer Rolle! Dazu sieht man Lena endlich mal befrit lachen.
Das einsame Hotel ist natürlich eingeschneit, und mit skurillen Bewohner befüllt. Die alte Diva ist sehr sehr großartig. Es gibt viele Horrorfilmzitate, klassische Horrorfilmkamera und hübsche absurde Szenen! Die Musik ist gut, die Schauspieler haben Lust (war wohl viel improvisiert). Und ein Menschenknochen mit : Wir haben doch vegetarisch bestellt zu kommentieren, sehr gut!!!!


Für die Reihe Lugwigshafen habe ich Hoffnung!
jogiwan hat geschrieben: solange derartige Filme gedreht werden, ist die Welt noch nicht verloren.
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Re: Tatort - Der Diskussionsthread zur Krimiserie

Beitrag von jogiwan »

karlAbundzu hat geschrieben: TATORT LUDWIGSHAFEN - WALDLUST
Ein Tatort im Horror-Krimi Style. Und nach Koppers Abgang (schnüff) ein guter Beginn. Und passend: Das Team fährt zu einer Gruppenerfahrung in ein abgelegenes Hotel, um zu überlegen, wie es weitergeht. UNd sie sind alle gut in ihrer Rolle! Dazu sieht man Lena endlich mal befrit lachen.
Das einsame Hotel ist natürlich eingeschneit, und mit skurillen Bewohner befüllt. Die alte Diva ist sehr sehr großartig. Es gibt viele Horrorfilmzitate, klassische Horrorfilmkamera und hübsche absurde Szenen! Die Musik ist gut, die Schauspieler haben Lust (war wohl viel improvisiert). Und ein Menschenknochen mit : Wir haben doch vegetarisch bestellt zu kommentieren, sehr gut!!!!

Für die Reihe Lugwigshafen habe ich Hoffnung!
Da ist wohl nicht jeder deiner Meinung... ;)

http://www.filmstarts.de/kritiken/262136/kritik.html
it´s fun to stay at the YMCA!!!



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Re: Tatort - Der Diskussionsthread zur Krimiserie

Beitrag von buxtebrawler »

jogiwan hat geschrieben:Da ist wohl nicht jeder deiner Meinung... ;)
Ich ebenfalls nicht :D
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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