Unsere bösen Kinder - Karl-Heinz Lotz (1992) [Doku]

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Unsere bösen Kinder - Karl-Heinz Lotz (1992) [Doku]

Beitrag von buxtebrawler »

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Originaltitel: Unsere bösen Kinder

Herstellungsland: Deutschland / 1992

Regie: Karl-Heinz Lotz
Ein Film über fünf Straßenkinder, Kinder, die zu früh geweckt wurden. Der Film beginnt Weihnachten in Berlin 1992. Claudia, dreizehnjährig, lässt "ihre Mutter kapieren, dass ein Kind machen kann, was es will." Danny, dreizehnjährig, findet Deutschland beschissen, nachdem er zwei Jahre auf der Straße lebt. Seine Mutter fragt nicht mehr nach ihm. Jonas, dreizehnjährig, ist überzeugt, dass er ein gutes Schicksal haben wird. Er pendelt zwischen Elternhaus und Straße. Am wohlsten fühlt er sich bei Straßenkrawallen. Die dreizehnjährige Daniela will ihr Zuhause nicht verlassen, obwohl sie vom Vater geschlagen wird. Wir treffen sie in einem Frauenhaus. David, dreizehnjährig, lässt mich, seinen Vater, am eigenen Leib spüren, was Straßenkindern widerfährt und was sie ihren Eltern an Schmerzen zufügen.
Quelle: https://www.defa-stiftung.de/filme/film ... en-kinder/
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Diese Filme sind züchisch krank!
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Re: Unsere bösen Kinder - Karl-Heinz Lotz (1992) [Doku]

Beitrag von buxtebrawler »

„Et nervt, ey, diese dummen Fragen!“

DEFA-Regisseur Karl-Heinz Lotz („Die Mauerbrockenbande“) drehte seit dem Jahre 1972 Filme, darunter einige Kinderfilme, und heimste manch Auszeichnung ein. Seine letzte Regiearbeit entstand, als die DEFA kurz vor ihrer „Abwicklung“ stand, und wurde ein ganz besonderer „Kinderfilm“: Ein abendfüllender Dokumentarfilm, für den er Straßenkindern folgt, u.a. seinem eigenen 13-jährigen Adoptivsohn.

„Deutschland ist zurzeit ziemlich scheiße!“

Lotz zeigt vier Minuten lang unkommentierte Schwarzweißbilder belebter Straßen des wiedervereinten Berlins, bevor er aus dem Off das Gezeigte zu kommentieren beginnt. Es ist Weihnachten 1991. Der Film wird auch im weiteren Verlauf keine Farbe bekommen, was sicherlich (auch) als Ausdruck Lotz‘ eigener getrübter Stimmung verstanden werden darf: Sein Adoptivsohn David scheint ihm vollends entglitten. Es kommt zu einem bizarren Setting: Vor laufender Kamera interviewt Lotz David und fragt ihn, wie es sich angefühlt habe, als er ihm 1.000,- DM stahl. Zeitsprung, März 1992: David ist ausgerissen, sein Adoptivvater spürt ihn in der Saalestadt Halle auf. Dort ist er jetzt Teil einer Kidpunk-Clique.

„Kreuzberg muss saubergemacht werden!“

Mehr der Hip-Hop-Subkultur zugeneigt ist der ebenfalls 13-jährige Danny aus Berlin-Marzahn. Er raucht bereits Zigaretten und malt Tags mit antifaschistischen Aussagen. Aufgekratzt und ungeduldig wirkt er, die Interview-Situation ist ihm nicht geheuer und scheint ihn zu überfordern, im weiteren Verlauf artikuliert er unmissverständlich seine Abneigung. Hip-Hop-typisch legt er viel Wert auf Klamotten und sein Erscheinungsbild, obwohl er anscheinend seit zwei Jahren zwischen dem Leben auf der Straße und in einer Kinderpsychiatrie (wo Lotz ihn kennenlernte) pendelt. Nazis will er totschlagen und äußert sich überraschend klug in politischer Hinsicht – ein Indiz für den allgegenwärtigen Neonazi-Terror der Baseballschlägerjahre, der sogar 13-jährige zwang, sich mit diesen Auswüchsen auseinanderzusetzen. Er berichtet aber auch, von türkischen Jugendlichen abgezogen worden zu sein.

Die nächsten beiden Jugendlichen werden nicht namentlich vorgestellt. Sie sind etwas älter als David und Danny, vertreiben sich gerade die Zeit in einem Jugendclub (oder einer ähnlichen Einrichtung), zocken „Streetfighter II“ (yeah!) am Arcade-Automat und plaudern von ihren Problemen mit der Justiz. Schnitt, neues Kapitel: „Die anderen“. David hält sich in einer besetzten Punkkneipe in Potsdam auf, ein älterer Besetzer äußert sich zu gestörten Eltern-Kind-Beziehungen – ein Schlüsselbegriff, der den Inhalt dieses Dokumentarfilms auf den Punkt bringt. Lotz trifft auf der Straße vermummte Autonome, die ihr Viertel gegen Neonazis verteidigen, notfalls militant. Ein paar Straßenecken weiter stehen sie, die Nazis. Wie gewohnt sondern diese nur geistigen Dünnpfiff ab, jammern herum, rassistisch, neidisch und dumm. Ein paar stunden später trifft Lotz einige von ihnen im Polizeiarrest wieder.

Sein Filmensemble erweitert Lotz um die 13-jährige Daniela, die vor ihrem prügelnden Vater ins Frauenhaus geflohen ist. Dieses Mädchen hat echte Probleme. Ihr Vater sei nur nett gewesen, wenn er getrunken hatte, berichtet sie erstaunlich eloquent und reflektiert. Etwas zu reflektiert für ein so junges Mädchen, das offenbar viel zu schnell erwachsen werden musste. Nach allem, was vorgefallen ist, könne sie ihm nicht mehr verzeihen. Als Lotz David wiedertrifft, berichtet dieser von Stress mit Neonazis und macht sich Gedanken über seine Zukunft. Dies entbehrt nicht einer gewissen Komik: Hausbesetzer oder -besitzer möchte er werden, oder Busfahrer. Sein Kumpel Jonas hingegen möchte die Schule durchziehen und am liebsten Koch werden. Das klingt erstaunlich „normal“.

Zum Schluss zitiert Lotz aus der biblischen Geschichte „Jona und der Wal“, dazu hallelujat’s von der Tonspur. Diese Wendung zum Religiösen überrascht etwas, hat jedoch kaum Einfluss auf den Gesamteindruck, den der Film mit seiner exemplarischen Beobachtung unterschiedlicher Straßenkinder und juveniler Delinquenten vermittelt. Als Sammlung authentischen Materials ist er stark, wenngleich er mehr Fragen aufwirft als beantwortet.

Insbesondere bei David ist keine wirkliche Ursache für den Lebensweg, den er einschlug, erkennbar, sodass es beinahe den Anschein erweckt, Punks würden schlicht als solche geboren. Dem ist natürlich nicht so, und dass sich David für diesen Lebensweg entscheidet, ist auch gar nicht das Problem. Es scheint ihm jedoch an jeglichem Unrechtsbewusstsein gegenüber seinem Adoptivvater zu mangeln, wenn er diesen um hohe Geldbeträge erleichtert, und er scheint kaum Empathie dahingehend zu verspüren, welchen Schmerz er ihm zufügt. Allerdings hält sich auch Lotz mit Analyseversuchen und Selbstreflektion sehr zurück. Der „Filmdienst“ versteht es, bei allen Vorbehalten ihm gegenüber, das Ergebnis in einem Hauptsatz zusammenfassen: „Entstanden ist ein Dokument der Beziehungslosigkeit zwischen den Generationen.“

Dieser Film, der mit seinem Titel „Unsere bösen Kinder“ unangenehm wertend und tadelnd klingt, entspricht zumindest in Teilen nicht mehr heutigen Qualitätsstandards; insbesondere der Ton macht häufiger Probleme, in Dialogen ist Lotz schlecht zu versehen. Zudem hätte zumindest die bunte Welt der Kidpunks es verdient gehabt, in Farbe dokumentiert zu werden. Als authentischer Einblick in die Welt jugendlicher gesellschaftlicher Außenseiter der Nachwendezeit, der von der persönlichen Betroffenheit des Filmemachers profitiert, ist „Unsere bösen Kinder“ nichtsdestotrotz ein wertvoller Beitrag.

Lotz legte das Regiefach hiernach ad acta und verlegte sich auf die Rolle des Dokumentarfilmproduzenten. Mehr noch würde mich aber interessieren, was aus den Kindern aus diesem Film geworden ist.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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